Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

Rubriken
(Les rubriques en français1 ):
Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart
Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.
Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.
Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.
Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.
Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.
Neue Artikel und Besprechungen
Kippmomente bei Erwan Desplanques
Erwan Desplanques’ Erzählband „La part sauvage“ (2024) vereint zehn Kurzgeschichten, die in ihren feinen, psychologisch dichten Momentaufnahmen das Porträt einer Generation zeichnen, die zwischen Anpassung und Selbstverlust, zwischen ironischer Weltklugheit und innerer Müdigkeit schwankt. Allen Geschichten ist ein spezifischer struktureller und thematischer Angelpunkt gemeinsam: der Kippmoment. Es handelt sich dabei um einen Moment der Veränderung, der Konfrontation oder der Erkenntnis, der den Figuren – oft schmerzhaft, oft leise – einen anderen Blick auf sich selbst oder ihre Welt eröffnet. Aus der Summe dieser Brüche, Übergänge und Erschütterungen ergibt sich eine tiefergehende Reflexion über das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinen Beziehungen und zur Gegenwart.
Wildheit oder Ökopolitik: Corinne Royer
In „Ceux du lac“ (2024) erzählt Corinne Royer die Geschichte einer sechsköpfigen Roma-Geschwistergruppe, ihres Vaters und des alten Hundes Moroï, die in einer Hütte am Rand eines Sees in der Nähe von Bukarest leben. In diesem verwilderten Naturraum haben sie sich eine Existenz jenseits der Gesellschaft aufgebaut. Während Sasho, Naya und ihre Brüder in der Dâmbovița Fische fangen und die Poesie aus den Büchern der Tante Marta entdecken, leben sie in bewusster Abgrenzung zu den städtischen Normen – ein Dasein am Rand, aber voller innerer Freiheit und intensiver Beziehung zur Natur. Diese fragile Idylle gerät ins Wanken, als die Behörden das Gebiet zu einem offiziellen Naturschutzreservat erklären wollen und die Familie zur Räumung auffordern. Die Șerbans stehen plötzlich vor der Enteignung ihres Lebensraums, ihres „schönsten Ortes“, der für sie nicht nur Heimat, sondern ein eigenes kleines Reich bedeutet. Inspiriert von einer wahren Begebenheit erzählt der Roman von einem erzwungenen Abschied, der zugleich metaphorisch für das Verschwinden einer ganzen Lebensweise steht. Die Autorin merkt in einer Notiz an, dass das Văcărești-Delta im Mai 2016 offiziell zum Naturschutzgebiet erklärt wurde, nachdem eine Roma-Familie von den Behörden zwangsweise umgesiedelt und von den Sozialdiensten in der Stadt untergebracht worden war. Obwohl dieser Text von diesen realen Ereignissen inspiriert ist, handle es sich aber um ein Werk der Fiktion. Royer zeichnet mit poetischer Kraft das Bild einer Familie, die in einer Gesellschaft lebt, die vorgibt zu schützen, aber dabei zerstört.
Alchimie des Worts: Hugues Jallon
In „Le cours secret du monde“ (2025) widmet sich Hugues Jallon einer radikalen Revision dessen, was als „geheim“ oder „verborgen“ gilt – nicht aus esoterischem Interesse, sondern als kontrapunktische Suchbewegung gegen das hegemoniale, rationale Weltwissen. Das „Geheime“ ist bei Jallon keine fixe Kategorie, kein abgeschlossener Inhalt oder dogmatisches System. Es ist vielmehr ein Denkraum, eine Öffnung, eine Leerstelle, aus der sich alternative Formen von Geschichte, Wahrnehmung und Weltdeutung ergeben. Die Zuschreibungen an das „Geheime“ im Roman sind vielfältig und bewusst widersprüchlich. Sie zielen darauf, das Verhältnis zwischen Sichtbarkeit, Wahrheit, Wissen und Macht neu zu justieren. Mit einer Einordnung in Bezug auf seine bisherigen Romane.
Poetiken der Kindheit: Emmanuel Carrère, La classe de neige (1995)
Emmanuel Carrères 1995 erschienener Roman „La classe de neige“ ist ein psychologischer Roman, der in einem scheinbar harmlosen Setting – einer Klassenfahrt in ein Skilager – die existenzielle Angst eines Kindes entblößt. Was wie eine einfache Kindheitsgeschichte beginnt, entpuppt sich als düsterer Trip durch die Innenwelt eines Jungen, der sich mehr und mehr vom realen Geschehen entfernt und in einem Albtraum aus Schuld, Furcht, Fremdheit und Gewalt versinkt. Carrères Roman entwirft eine dunkle Poetik der Kindheit: Keine verlorene Unschuld, sondern ein permanenter Ausnahmezustand, in dem das Kind mit Erfahrungen konfrontiert ist, die es kaum zu verarbeiten vermag.
Tonino Benacquista: Der letzte Verleger
Seine Verlagsfirma ist bankrott, die letzten Mittel sind verbraucht. Die Handlung setzt an einem Wendepunkt ein – dem letzten Tag vor dem Gerichtstermin zur offiziellen Liquidation. Rückblickend erzählt der Protagonist von seiner Verlagsgeschichte, von Autorinnen und Autoren, die er entdeckte oder ablehnte, von Erfolgen und Niederlagen, aber vor allem von seinem Glauben an die Kraft der Literatur. Tonino Benacquistas 2025 erschienener Roman „Tiré de faits irréels“ ist eine tiefmelancholische und zugleich ironisch gebrochene Auseinandersetzung mit der Frage, was Literatur heute noch vermag. Der Text erzählt vom Ende eines unabhängigen Literaturverlags in Paris. Benoît Clerc ist ein egomanischer Autor, der seine banalen Lebenskrisen zu Literatur verklärt und damit den Verfall der literarischen Substanz exemplarisch spiegelt. Die Figur Pierre-Antoine Réa erhält im Verlauf des Romans eine emblematische Bedeutung. Sie steht für das Ideal des wahren Schriftstellers und verkörpert in der Perspektive des Ich-Erzählers – des Verlegers Bertrand Dumas – die Hoffnung auf ein literarisches Wunder, das seine kriselnde Verlagswelt vielleicht noch retten könnte. Wie lässt sich angesichts eines beschleunigten, digitalisierten, ökonomisierten Alltags noch erzählen? Die Antworten, die der Roman gibt, sind fragil, tastend – aber gerade dadurch literarisch glaubwürdig. Der Text ist ein würdiger, stiller, nachdenklicher Beitrag zur späten Moderne, der das Erzählen als kulturellen Überrest und ethische Möglichkeit verteidigt.
Kolonialismus im Roman noir: Thomas Cantaloube
Während Thomas Cantaloubes „Requiem pour une République“ den Algerienkrieg ins Zentrum stellt und „Frakas“ die neokolonialen Machenschaften der Françafrique beleuchtet, widmet sich „Mai 67“ der wenig bekannten, aber historisch bedeutsamen Repression auf Guadeloupe im Jahr 1967. Mit diesem Band gelingt Cantaloube ein Werk, das zugleich Politthriller, literarische Anklage und eindringliche Auseinandersetzung mit den strukturellen Gewaltverhältnissen der Fünften Republik ist.
Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère
Emmanuel Carrère beschreibt Jahrzehnte nach der Publikation seines Buchs „Le Détroit de Behring“ (1986, dt. „Kleopatras Nase: kleine Geschichte der Uchronie“, 1993.) in seiner Wiederveröffentlichung von 2025, „Uchronie“, mit eigenem Vorwort, seine Bewegung als eine von der Imagination zur Akzeptanz, vom Spiel zur Verantwortung, vom uchronischen Möglichkeitsüberschuss zur gelebten Realität. Die Uchronie bei Carrère ist nicht nur Gattungsbezeichnung, sondern auch ein poetologischer Kommentar: Der Text selbst ist eine Uchronie, reflektiert aber zugleich, was eine Uchronie leisten kann – und wo ihre Grenzen liegen, etwa in seinen Büchern „La Moustache“ oder „Le Royaume“.
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Neue Proben
Reserve: wieder aufgeblättert
Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère
Emmanuel Carrère beschreibt Jahrzehnte nach der Publikation seines Buchs „Le Détroit de Behring“ (1986, dt. „Kleopatras Nase: kleine Geschichte der Uchronie“, 1993.) in seiner Wiederveröffentlichung von 2025, „Uchronie“, mit eigenem Vorwort, seine Bewegung als eine von der Imagination zur Akzeptanz, vom Spiel zur Verantwortung, vom uchronischen Möglichkeitsüberschuss zur gelebten Realität. Die Uchronie bei Carrère ist nicht nur Gattungsbezeichnung, sondern auch ein poetologischer Kommentar: Der Text selbst ist eine Uchronie, reflektiert aber zugleich, was eine Uchronie leisten kann – und wo ihre Grenzen liegen, etwa in seinen Büchern „La Moustache“ oder „Le Royaume“.
Schiff aus offenem Meer: Philippe Sollers
Philippe Sollers ist am 6. Mai 2023 in Paris gestorben, mit 86 Jahren. Die ersten Todesmeldungen in Deutschland beziehen sich weitgehend nur auf „Femmes“, ein Buch, mit dem der Autor und Literaturtheoretiker 1983 eine zugänglichere Form des Schreibens gefunden hatte. Bücher des 21. Jahrhunderts bleiben zu entdecken: „Passion fixe“ (2000), „Un amour américain“ (Mille et une nuits, 2001), „L’Étoile des amants“ (2002), „Une vie divine“ (2005), „Un vrai roman : mémoires“ (Plon, 2007), „Les Voyageurs du temps“ (2009), „Trésor d’amour“ (2011), „L’Éclaircie“ (2012), „Médium“ (2013), „L’École du mystère“ (2015), „Mouvement“ (2016), „Beauté“ (2017), „Centre“ (2018), „Le Nouveau“ (2019), „Désir“ (2020), „Légende“ (2021), „Graal“ (2022).
Die Öffnung der Höhle: Pierre Michon
Nach einem Vierteljahrhundert veröffentlicht Pierre Michon auf Basis des viel gelobten Textes „La Grande Beune“ 2023 nun ein Diptychon, den Roman „Les deux Beune“, mit einem zweiten Teil des obsessiven Begehrens eines jungen Lehrers in einer Welt vorzeitlicher Höhlen der Dordogne.
Die Nebelkammern des Eric Chevillard
Der jüngste Roman „La chambre à brouillard“ („Die Nebelkammer“, Minuit 2023) von Eric Chevillard gibt Anlass, die poetologische Funktion des Nebels in seinen Texten näher in Augenschein zu nehmen.
Anmerkungen
- Les rubriques en français
Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;
Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;
Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;
Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.
Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.
Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.>>>