Der Geist von Locarno. Europa hundert Jahre nach der Friedenskonferenz: Christine de Mazières

Christine de Mazières hat mit „Locarno“ (2025) einen ebenso historischen wie gegenwärtigen Roman geschrieben – ein europäisches Zeitstück über Diplomatie, Erinnerung und die Macht der Sprache. Ausgangspunkt ist die Friedenskonferenz von 1925 im Schweizer Locarno, wo Aristide Briand, Gustav Stresemann und Austen Chamberlain nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs den Versuch einer moralischen Erneuerung Europas unternahmen. De Mazières erzählt die Ereignisse als vielstimmiges Tableau: Politiker, Journalisten und Künstler agieren auf einer Bühne, auf der politische Geste, rhetorische Form und symbolische Handlung unauflöslich ineinanderfließen. Eine Journalistin, Louise Lenfant, wird zur Zeugin dieser „Comédie humaine de la paix“, deren fragile Hoffnung sie zugleich privat wie politisch trägt. Das emblematische Bild des Romans – ein Adler, der auf die Friedenstauben herabstößt – fasst das Paradox dieser Epoche in einer einzigen Metapher zusammen. – Der Aufsatz „Der Geist von Locarno“ liest de Mazières’ Roman nicht als bloße historische Rekonstruktion, sondern als literarische Reflexion über das Verhältnis von Geist und Politik. Im Zentrum steht die Frage, ob Frieden denkbar ist, solange Europa geistig zerspalten bleibt. Der Text zeigt, wie der Roman Valérys Diagnose aus „La Crise de l’esprit“ (1919) fortschreibt: den Versuch, nach der Katastrophe eine „fédération de l’esprit“ – eine Föderation des Geistes – zu entwerfen. Die Besprechung deutet Locarno als narrative Antwort auf Valérys Frage „Et qu’est-ce que la paix?“ und als Echo auf Heinrich Manns Forderung nach einem „geistigen Locarno“. De Mazières verbindet die moralische Vision Briands mit der skeptischen Intelligenz Valérys und verwandelt die politische Bühne von 1925 in ein literarisches Labor für die Gegenwart: ein Jahrhundert später, im Jahr 2025, bleibt Locarno eine offene Frage an Europa selbst – ob es fähig ist, seine geistigen Kräfte zu erneuern, bevor der Adler wieder auf die Tauben herabstößt.

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Versöhnung ist mitten im Streit: Christine de Mazières

Christine de Mazières’ „Trois jours à Berlin“ (Wespieser, 2019, ich fand etwas ungläubig keine deutsche Übersetzung) verwandelt den 9. November 1989 in ein poetisches Mosaik aus Stimmen, Erinnerungen und Blicken. Eine Französin, Anna, reist in die geteilte Stadt, um den Mann wiederzufinden, dem sie einst begegnete – Micha, Sohn eines ostdeutschen Funktionärs. Zwischen Stasi-Protokollen, inneren Monologen und der überirdischen Perspektive des Engels Cassiel entfaltet der Roman eine polyphone Erzählung der Geschichte als ‘Faltung’: Berlin wird zur vibrierenden Metapher Europas, zur „plaine immense“ voller Ruinen, Sprachen und Sehnsüchte. Der Fall der Mauer erscheint nicht als heroischer Moment, sondern als zarter Augenblick der Durchlässigkeit, in dem Schweigen, Missverständnis und Poesie die Macht der Ideologien unterwandern. „Trois jours à Berlin“ ist als poetische Reflexion eines französischen Blicks auf Deutschland zu interpretieren – als Werk, das die Teilung nicht nur politisch, sondern existentiell erfahrbar macht. De Mazières’ wechselnde Erzählformen, ihr Spiel zwischen lyrischer Innenschau und bürokratischer Kälte, lassen das Ereignis selbst zur Sprache werden: die Versöhnung als ästhetische Bewegung, nicht als historischer Abschluss. In der Spannung zwischen Anna und Micha, zwischen dem Engel Cassiel und den Menschen, findet sich das Bild eines Europas, das seine „part manquante“ sucht – eine verlorene Zärtlichkeit, die sich im Moment der Öffnung wiederfindet.

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