Chronik der Macht von Versailles nach Silicon Valley: Marc Dugain
Marc Dugains „Légitime violence“ (2025) erscheint als fulminante Rückkehr des Autors zur historischen Erzählung, die zugleich das gesamte politische Denken seines Werks bündelt. Im Frankreich Ludwigs XIV. verknüpft Dugain die „Affaire des poisons“ mit einer Anatomie der Macht, deren Strukturen vom höfischen Zeremoniell bis in die intimsten Beziehungen reichen. Der Roman zeichnet den Hof als mikropolitisches System permanenter Kontrolle: Rituale, Sprache und Architektur verwandeln Unterwerfung in Bewunderung, Gewalt in Ordnung. In der Figur der Marquise de Brinvilliers, die sich aus der patriarchalen Enge befreien will, verdichtet Dugain das Spannungsverhältnis von Geschlecht, Körper und Herrschaft – ihre „Verbrechen“ sind Akte der Revolte gegen eine göttlich legitimierte Gesellschaftsordnung. Die höfische Welt erscheint dabei als Laboratorium der modernen Macht, in dem Schönheit und Disziplin ununterscheidbar werden. Dugain dekonstruiert die Ästhetik des Barock als politische Technik: Versailles selbst wird zum Symbol einer „alchimie du pouvoir“, die Unterdrückung in Glanz verwandelt. – Der Aufsatz liest den Roman als den historischen Endpunkt einer dreißigjährigen „Chronik der Macht“, die von den gueules cassées des Ersten Weltkriegs (in „La Chambre des officiers“) über die geheimdienstliche Manipulation in „L’Emprise“ bis zur digitalen Überwachung in „Transparence“ reicht. „Légitime violence“ führt diese Linie genealogisch zurück zum Ursprung: zur Erfindung der „legitimen“ Gewalt im Absolutismus. Dugain zeigt, dass sich der Zwang zur Ordnung und die Legitimation von Herrschaft – ob durch Krone, Staat oder Algorithmus – nur in ihren Formen verändern. Der König, der seine Macht durch Glanz stabilisiert, ist der Vorläufer des modernen Technokraten, der Transparenz zur Tugend erklärt. Damit wird das 17. Jahrhundert bei Dugain zum Spiegel des 21.: Die sichtbare Gewalt des Schwerts ist durch die unsichtbare Gewalt des Systems ersetzt. „Légitime violence“ ist weniger historische Fiktion als politische Archäologie – der Roman legt die Tiefenschicht frei, in der sich Macht, Ästhetik und Legitimation bis heute gegenseitig hervorbringen.
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