Theorie im kolonialen Dilemma: Onur Erdur

Eine Tugendlehre des Geistes aus dem Maghreb Onur Erdurs Monografie Schule des Südens: die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie widmet sich einem bisher im Großen erstaunlich vernachlässigten Aspekt der französischen Geistesgeschichte: den tiefgreifenden biografischen und intellektuellen Prägungen, die führende Denkerinnen und Denker der Nachkriegszeit durch ihre Erfahrungen in den französischen Kolonien Nordafrikas erfuhren. Das Buch …

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Geplante Obsolenz: Guillaume Poix

Im Roman „Les fils conducteurs“ (2017), ausgezeichnet mit dem Prix Wepler-Fondation La Poste, konfrontiert uns Guillaume Poix mit den Widersprüchen des westlichen Idealismus, den verheerenden Folgen der globalen Konsumgesellschaft und der moralischen Korruption, die sich einstellt, wenn wohlmeinende Absichten auf komplexe Realitäten der Ausbeutung treffen. Der Roman, der uns in die gefährliche Welt der Elektroschrottdeponie Agbogbloshie in Ghana entführt, erzählt die parallelen Geschichten des französisch-schweizerischen Fotojournalisten Thomas und des jungen ghanaischen Jungen Jacob. Die zentrale Problemstellung des Romans ist die Demontage westlicher Überheblichkeit und Naivität, die sich in der Figur Thomas‘ manifestiert. Der Fotograf Thomas, getrieben von seinem Idealismus und dem Wunsch nach Relevanz, will die ökologische Katastrophe und illegale Recyclingpraktiken in Agbogbloshie aufdecken. Doch seine Reise wird zu einem moralischen Abstieg, der ihn zur Mitschuld an einer Tragödie werden lässt. Die Erzählung problematisiert, wie der westliche Blick, der zwischen Dokumentation und Voyeurismus schwankt, letztlich zur Komplizenschaft beiträgt.

Der Architekt und sein Führer, contre-fiction: Jean-Noël Orengo

In seinem Roman „Vous êtes l’amour malheureux du Führer“ setzt sich Jean-Noël Orengo fiktional mit der Figur Albert Speers auseinander. Dabei beleuchtet er dessen komplexe Beziehung zu Adolf Hitler, seine strategische Selbstdarstellung nach dem Krieg und die Macht von Erzählungen im Umgang mit historischer Wahrheit kritisch. Der Roman dekonstruiert Speers eigenes Narrativ – als Versuch, die eigene Verantwortung zu negieren – und offenbart die Mechanismen seiner Apologie. So setzte beispielsweise Speers Ministerium Millionen von Sklavenarbeitern ein, darunter viele Juden, und war für den Ausbau von Auschwitz zur größten Todesfabrik mitverantwortlich. Orengos Roman ist jedoch mehr als eine bloße historische Nacherzählung: Er ist eine Untersuchung der Konstruktion von Wahrheit und Fiktion in der Geschichtsschreibung – insbesondere im Kontext von Verbrechen und Erinnerung. Orengo entlarvt Speers „Erinnerungen“ als meisterhaft konstruierte Erzählung, die die Wahrheit manipuliert und Speer als „Star der deutschen Schuld“ etabliert, indem er sich als „verantwortlich, aber nicht schuldig“ darstellt. Diese „Autofiktion“ ist so wirkmächtig, dass sie selbst historische Fakten überstrahlen kann. Der Roman stellt die Geschichtsschreibung als einen Kampf von Erzählungen dar, in dem Speer durch seine narrative Geschicklichkeit oft die Oberhand behält, selbst gegenüber widerlegenden Dokumenten. Orengo zeigt, wie schwierig es ist, die „Wahrheit“ über eine so dunkle Periode zu finden, wenn die Hauptakteure ihre eigene Geschichte meisterhaft fiktionalisieren.

Ein Kind der deutsch-französischen Geschichte: Sylvain Prudhomme

Der Roman „L’enfant dans le taxi“ von Sylvain Prudhomme (2023, dt. „Der Junge im Taxi“, Unionsverlag, Juli 2025) ist eine Auseinandersetzung mit den Schatten der deutsch-französischen Geschichte, insbesondere der Nachkriegszeit, und deren Auswirkungen auf individuelle Schicksale und Familienbeziehungen. Das Werk verwebt die persönliche Suche des Erzählers Simon nach einem verdrängten Familiengeheimnis mit der komplexen Historie der französischen Besatzung in Deutschland. Im Zentrum steht die Entdeckung der Existenz von M., dem deutschen Sohn des französischen Soldaten Malusci und der Deutschen Liselotte H., der während der Besatzung am Bodensee gezeugt wurde. Seine Existenz wurde über Jahrzehnte hinweg aktiv verleugnet, um idealisierte Familiennarrative aufrechtzuerhalten, deren Brüchigkeit durch Simons Recherchen offengelegt wird. Dabei wird der Bodensee selbst zu einem zentralen Symbol des Geheimnisses und der verborgenen Tiefen, während das Taxi, in dem M. als Teenager zu seinem Vater reist, seine verzweifelte, aber naive Hoffnung auf Verbindung symbolisiert. Die Geschichte zeigt, wie Kommunikation durch Schweigen und Missverständnisse blockiert wird, bis die Wahrheit schließlich durch Figuren wie Franz und Louis ans Licht kommt. Der Roman geht über eine bloße Familiengeschichte hinaus, indem er die kollektive Verdrängung als aktive, performative Praxis darstellt, in der „Frieden“ oft den „anderen Namen der Verleugnung“ trägt. Der Text betont, dass die Enthüllung der Wahrheit nicht zu einer objektiven Realität, sondern zu einer kontinuierlichen, durch Wünsche und Emotionen geformten Konstruktion von Wahrheit führt. Zudem ist der Roman eng mit der Kolonialgeschichte Algeriens verbunden, denn die erste Spur zu dem verborgenen Familiengeheimnis – M.s Existenz – kommt über Bahi ans Licht. Bahi ist ein algerischer Arbeiter auf Maluscis Farm in Oran. Letztlich deutet der Roman eine Möglichkeit zur Heilung historischer Traumata an, die auf Empathie und der Akzeptanz der komplexen menschlichen Geschichte beruht.

Poetiken der Kindheit: Clothilde Salelles, Nos insomnies (2025)

Der Roman „Nos insomnies“ (2025) erzählt die Geschichte einer namenlosen Ich-Erzählerin, die Ende der 1990er Jahre in einem ländlichen Vorort aufwächst. Das zentrale und streng gehütete Familiengeheimnis ist die chronische Schlaflosigkeit, die „wie ein böser Zauber“ von einem Familienmitglied zum nächsten gleitet. Die Protagonistin ist eine aufmerksame Beobachterin, die ihren Vater, seine mysteriöse Arbeit im Labor und seine Reaktionen auf die Außenwelt (insbesondere Lärm und die Bedrohung durch die sich ausbreitende „Lotissement“-Bebauung) mit Argwohn und Misstrauen betrachtet. Sie führt „sehr ernsthafte Ermittlungen“ durch, um die unausgesprochenen Wahrheiten zu entschlüsseln, empfindet dabei aber Neid auf die „Probleme“ ihrer Freundin Julie, die benennbar sind und ihrer Existenz eine „Konsistenz“ verleihen. Sommerurlaube auf einem Campingplatz bieten eine temporäre Auszeit von der heimischen Beklemmung; hier scheint der Vater aufzublühen, und die Insomnie tritt in den Hintergrund, auch wenn der Sommer schließlich selbst von ihr „kontaminiert“ wird.

Sohn der Toten: Asya Djoulaït

Der Roman „Ibn“ erzählt die erschütternde Geschichte des fünfzehnjährigen Issa, dessen Welt zusammenbricht, als seine Mutter Leïla während des Nachmittagsgebets stirbt. Die fünf täglichen Gebete – Fajr, Dhuhr, ’Asr, Maghrib und ’Icha – strukturieren dabei nicht nur die Zeit, sondern spiegeln auch Issas emotionale Odyssee wider und markieren die zunehmende Verzweiflung und Entschlossenheit des Protagonisten. Getrieben von seiner Trauer und der Ablehnung, seine Mutter (nach dem Tod seines Vaters) erneut in die Hände fremder Bestattungsrituale zu geben, unternimmt Issa den mutigen, aber aussichtslosen Versuch, die Bestattungsrituale selbst zu inszenieren. Er plant, für seine Mutter ein persönliches Mausoleum zu bauen und die rituelle Waschung sowie die Totengebete eigenhändig durchzuführen, selbst wenn er dabei gegen traditionelle Normen verstößt. Diese eigenmächtigen Handlungen stehen im starken Kontrast zu den Erwartungen und der Sorge seiner Mutter Leïla, die sich stets bemüht hatte, ihm ein Ankommen und eine stabile Position in Frankreich zu ermöglichen, sei es durch Bildung, die bewusste Wahl des Wohnorts in Montreuil, um Ghettobildung zu vermeiden, oder die Teilnahme an der Koran-Schule, um ihn in der muslimischen Gemeinschaft zu verankern und zu verhindern, dass er sich „verloren“ fühlt. Issa navigiert dabei zwischen religiösen Regeln, persönlichen Überzeugungen und der harten Realität des Todes, der ihn mit seiner eigenen Identität als „Sohn der Toten“ konfrontiert.

Briefroman im Datennetz: Sandra Lucbert

Sandra Lucberts Roman „La Toile“ (zu Deutsch: „Das Netz“) ist eine Reflexion über Literatur im Zeitalter der digitalen Kommunikation und künstlichen Intelligenz. Durch seine spezifische Form und die komplexe Verflechtung von Technologie, Macht, Beziehungen und Identität beleuchtet der Text fundamentale Fragen von Autorschaft und Authentizität in einer zunehmend vernetzten Welt. Der Buchumschlag von Sandra Lucberts Roman „La Toile“ spielt auf „Les Liaisons dangereuses“, den kanonisierten Briefroman von Choderlos de Laclos aus dem 18. Jahrhundert, an. Dieser Vergleich erweist sich als fruchtbar für die Interpretation, da er La Toile als eine Transformation des Briefromans ins digitale Zeitalter kennzeichnet und die klassischen Themen Macht, Manipulation und Verletzlichkeit in den Kontext vernetzter Kommunikation überträgt.

Non serviam. Politische Literatur heute: Alexandre Gefen

Alexandre Gefen möchte mit seinem Buch „La littérature est une affaire politique“ („Literatur ist eine politische Angelegenheit“) aufzeigen, dass Literatur – entgegen der oft verbreiteten Annahme, sie diene lediglich der Unterhaltung – grundsätzlich eine politische Angelegenheit ist. Ein zentrales Anliegen Gefens ist ein Fokus darauf, dass zeitgenössische französische Schriftsteller, obwohl sie die klassische Vorstellung von „engagierter Literatur“ ablehnen, keineswegs ästhetisch gleichgültig gegenüber den politischen Problemen ihres Landes sind. Vielmehr nutzen diese Autoren ihre Erzählungen sehr oft als Werkzeug zur Analyse von Ungleichheiten. Sie bedienen sich dabei Elementen der Autobiografie oder des Reportage, um soziale Diskurse zu hinterfragen und versuchen manchmal sogar, gesellschaftliche Krisen zu verlängern oder vorherzusehen. Damit weisen sie die Idee eines „Elfenbeinturms“ zurück, in den man sie einsperren möchte und den sie nicht länger ertragen. Sie erfüllen soziale Anforderungen, indem sie an literarischen Residenzen teilnehmen, zum Beispiel in Regionen, Krankenhäusern, Altenheimen oder mit Jugendlichen und Migranten. Das Buch enthüllt somit ein beeindruckendes Panorama einer „kämpferischen und modernen Literatur, die unsere Gesellschaft verändern möchte“.

Umzäunte Gärten: Karim Kattan

Karim Kattans Gedichtband „Hortus conclusus“ ist eine poetische Erkundung des Gartens als Ort der Erinnerung, des Begehrens und der kolonialen Überformung. Zwischen Bethlehem und Babylon, Knossos und Glastonbury entfaltet sich eine dichte Topographie aus mythischen und geopolitisch aufgeladenen Motiven. Der titelgebende „eingeschlossene Garten“ – ein reales Kloster in Artas bei Bethlehem – wird zum verdichteten Bild eines poetischen Raums, in dem sich Schönheit und Ausschluss, Heilung und Trauma überlagern. Die Gedichte sind durchzogen von lyrischer Sinnlichkeit und historischer Schwere; sie sprechen von Checkpoints, Körpern, Märtyrerinnen, Hexen und Göttern, und sie kreisen immer wieder um die Frage: Wo ist ein Ort, an dem man atmen, lieben, überleben darf? Zentral ist dabei das wiederkehrende Bild des Tals der Rosen – Wadi al-Ward, einer historischen Landschaft nahe Jerusalem, in der einst Frauen Rosen pflückten, um daraus Konfitüre zu machen. In Kattans Lyrik wird dieses Tal zur verschwundenen Utopie, zum versunkenen Gedächtnisraum und zugleich zur poetischen Chiffre für eine andere Palästina-Erzählung: nicht als bloßer Ort der Gewalt, sondern als Garten der möglichen Rückkehr, der sanften Magie und der widerständigen Zärtlichkeit. „Hortus conclusus“ ist so ein Buch der Durchlässigkeit – zwischen Erde und Mythos, zwischen Sarha (dem ziellosen Umhergehen) und Verwurzelung –, das sich der gängigen Opferästhetik verweigert und stattdessen ein palästinensisches Imaginarium von großer Dichte schafft.

Das verletzte Recht: Nelly Alard

Nelly Alards Roman „La manif“ (Gallimard, 2025), inspiriert von realen Ereignissen, beleuchtet die verheerenden Auswirkungen staatlicher Gewalt und institutioneller Ungerechtigkeit auf eine Familie. Alards Erzählweise ist dezentral, vielstimmig, von intimer Nähe zu den Figuren geprägt. Es ist eine Poetik der Verlangsamung und des psychologischen Tiefenblicks, die der juristischen wie politischen Verhärtung die Weichheit der Subjektivität entgegensetzt. Die Kapitel springen zwischen Angehörigen, erzeugen eine zersplitterte, aber kohärente Erzählung familiären Schmerzes. Der Roman zeigt, wie politisches Unrecht sich in privaten Biografien einnistet, wie der Körper des Opfers (Romain) zum stummen Archiv einer gesellschaftlichen Verwerfung wird. In dieser Vielstimmigkeit liegt das ethisch-ästhetische Engagement des Textes: Er schreibt sich nicht auf die Seite einer simplen Anklage, sondern erzeugt – durch genaue Recherchen, detailreiche medizinische und juristische Szenen sowie psychologisch glaubwürdige Innenwelten – ein literarisches Verfahren der Wahrheitsproduktion. „La Manif“ ist kein Traktat, sondern ein Verfahren: Literatur als Anhörung, als Untersuchung, als Prozessform, die Gerechtigkeit als offene, noch zu erreichende Größe behandelt. [Ein Beitrag in der Rubrik „Recht schaffen“.]

Er ist es, der mich hält: Simon Chevrier

„Photo sur demande“ (Stock, 2025) von Simon Chevrier ist ein autofiktionaler Roman, der das Leben eines jungen Mannes über ein Jahr hinweg beleuchtet. Der Roman wurde mit dem Prix Goncourt du Premier Roman 2025 ausgezeichnet, war auch Finalist für andere Preise. Das Buch zeichnet die prekäre Lebenswelt eines jungen Mannes nach, der zwischen abgebrochenen Studien, Escort-Diensten und einer belastenden familiären Situation taumelt. Diese Existenz mündet in eine tiefe persönliche Krise, ausgelöst durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf und Tod seines Vaters während der COVID-Pandemie, was eine intensive Sinnsuche und eine fast obsessive Auseinandersetzung mit der „gelöschten“ Geschichte eines Mannes auf einer Fotografie auslöst.

Pierre Bayard korrigiert Alfred Hitchcock

Pierre Bayard bietet in seinem Buch „Hitchcock s’est trompé“ (Editions Minuit, 2023) eine umfassende Neuinterpretation des Films „Fenster zum Hof“ (Originaltitel: „Rear Window“) von Alfred Hitchcock. Die zentrale These Bayards ist, dass Hitchcock sich in seinem Meisterwerk geirrt hat und die allgemein anerkannte Lösung des Verbrechens – dass der Nachbar Lars Thorwald seine Frau ermordet und zerstückelt hat – nicht zutrifft. Stattdessen lenkt der Film die Aufmerksamkeit von einem tatsächlich geschehenen Verbrechen ab, ein weiteres Beispiel für Bayards Bücher der „polizeilichen Kritik“.

Frankreichs Topologie der Gewalt. Narrative Modellierungen im extrême contemporain: Markus Alexander Lenz

Die vorliegende Studie Die verletzte Republik: erzählte Gewalt im Frankreich des 21. Jahrhunderts (Mimesis 101, Berlin: De Gruyter Brill, 2022) widmet sich einer hochaktuellen und gesellschaftlich drängenden Thematik: der Darstellung und Reflexion von Gewalt in der französischen Gegenwartsliteratur. Der Autor, Markus Alexander Lenz, bietet eine tiefgehende Analyse aktueller Erzähltexte, die größtenteils in der zweiten Dekade …

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Das Übernatürliche als Ausdruck der Zeit im Roman: Anne-Sophie Donnarieix

Anne-Sophie Donnarieix‘ Monographie Puissances de l’ombre: le surnaturel du roman contemporain (Presses universitaires du Septentrion, 2022) bietet eine differenzierte Analyse der Präsenz des Übernatürlichen in der französischen Gegenwartsliteratur. Das Buch verfolgt das ambitionierte Ziel, die vielfältigen Erscheinungsformen und Funktionen des Übernatürlichen in einem literarischen Kontext zu verorten, der einerseits von einer Krise des Rationalismus gezeichnet …

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Poetiken der Kindheit: Annie Ernaux

Annie Ernaux‘ Poetik der Kindheit ist eine sich entwickelnde, zentrale Dimension ihres Werks, die persönliche Erinnerung untrennbar mit kollektiven, sozialen und historischen Dimensionen verknüpft. Ihre Kindheit im elterlichen Café-Lebensmittelgeschäft in Yvetot prägte ein tiefes Gefühl des „Dazwischenseins“ und der „Zerrissenheit“ – entstanden durch fehlende Privatsphäre, frühe Konfrontation mit Armut und sozialen Unterschieden, die sich in ihrer Privatschulzeit verstärkten und einen Bruch mit dem Herkunftsmilieu bewirkten. Anstatt eine lineare, traditionelle Erzählung der Kindheit zu präsentieren, zerlegt Ernaux ihre Erinnerungen, analysiert die prägenden Einflüsse von Sprache, sozialer Herkunft, Geschlechterrollen und kulturellen Normen und beleuchtet, wie diese Faktoren ihre Identität als Kind und junge Frau formten. Sie ist bemüht, die „unsagbare Szene“ ihrer Kindheit aufzulösen und sie in die Allgemeinheit von Gesetzen und Sprache einzubetten, oft indem sie sich selbst als „Ethnologin ihrer selbst“ präsentiert. Ihre Kindheitsdarstellungen sind daher keine idealisierten oder nostalgischen Rückblicke, sondern scharfe, oft schmerzhafte Untersuchungen, die die Ambivalenz und die sozialen Spannungen ihrer Herkunft offenlegen.

Reise und Revolution: Che Guevara bei Désérable und Femen bei de Villeneuve

François-Henri Désérables „Chagrin d’un chant inachevé“ und Camille de Villeneuves „Lis Lénine !“ (beide Gallimard, 2025) verbindet auf den ersten Blick wenig: der eine ein Reisebericht auf den Spuren Che Guevaras in Südamerika, getragen von literarischem Witz und romantischem Abenteuergeist; der andere ein schonungsloses Kriegs- und Körperdrama aus der Gegenwart, ein apokalyptisches Panoptikum von Aktivismus, Kunst, Trauma und Krieg im Osten Europas. Beide Romane beschäftigen sich mit zentralen Themen wie Freiheit, politischen Utopien und dem Scheitern von Revolutionen, die sie jedoch in sehr unterschiedlichen Kontexten entfalten. In beiden Texten steht das Reisen im Zentrum, verstanden als existenzielle Grenzerfahrung: François-Henri Désérables Erzähler folgt den Spuren des jungen Ernesto Guevara, noch bevor dieser zur Revolutionsikone wurde, und erkundet dabei die ambivalente Beziehung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Zwängen. Camille de Villeneuve wiederum erzählt von einer Reise zurück in den Krieg, in der persönliche Freiheit zur Illusion gerät und die politische Ideologie, hier in Form von feministischer Militanz und sowjetischen Mythen, als zerstörerische Kraft erscheint.

Transformationen der Verwandlung: Kafka und Leclair

Bertrand Leclairs Buch „Transformations“ ist eine grundlegende Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, die durch die persönlichen Erfahrungen des Autors mit der psychischen Krise seiner Tochter R. und dem Umgang seiner Familie damit gefiltert wird. Leclair verschmilzt autobiografische Reflexionen mit literaturwissenschaftlicher Analyse und bietet eine vielschichtige Interpretation von Kafkas Werk und seiner Relevanz für das Verständnis familiärer Dynamiken.

Neuer Raum, neuer Mensch: Agnès Riva

Welche Spannung entsteht zwischen visionären Entwürfen und der komplexen urbanen Realität? Agnès Rivas jüngstes Buch, „Un autre ailleurs“ (2025), widmet sich der Entstehungsgeschichte von Neu-Créteil im Jahr 1973 und fokussiert dabei auf die Perspektive des 23-jährigen „Animateurs“ Gilles. Er ist anfangs zutiefst fasziniert von der Modernität und dem revolutionären Potenzial Créteils, das für ihn „gerade aus dem Boden entsteht“ und eine „nagelneue Landschaft, Inkarnation der Zukunft“ ist, in der „alles möglich schien, einschließlich eines neuen Lebens“. Agnès Riva versteht die Stadt Créteil als „Erinnerungs- und Imaginationsraum“ sowie „laboratoire romanesque“, um die Geschichte der „neuen Stadt“ zu beleuchten. Die Untersuchung beginnt mit der Darstellung der anfänglichen, modernistisch-utopischen Visionen für solche geplanten Städte, die stark von Le Corbusiers Ideen einer radikalen Neugestaltung und Funktionalität beeinflusst waren. Diese anfängliche Begeisterung wird durch den Romanprotagonisten Gilles veranschaulicht, der Créteil als „nagelneue Landschaft, Inkarnation der Zukunft“ sieht und mit dem Slogan „Neuer Raum, neuer Mensch!“ die Idee eines Neuanfangs unterstreicht. Der Kern der Argumentation liegt dann in der schrittweisen Desillusionierung: Der Artikel zeigt auf, wie die hochfliegenden utopischen Versprechen in der realen Erfahrung der Bewohner, geprägt von „generischer und austauschbarer Architektur“, Gefühlen des „Eingesperrtseins“ und sozialen Problemen, Risse bekommen. Diese Ernüchterung wird durch die fundierte theoretische Kritik Henri Lefebvres am modernen Urbanismus vertieft, insbesondere durch seine Konzepte des „Rechts auf Stadt“ und die Unterscheidung zwischen dem gelebten „habiter“ und dem geplanten „habitat“ sowie dem Verlust des „Werks“ zugunsten des „Produkts“. Abschließend argumentiert der Artikel, dass trotz dieser dominanten Tendenzen des geplanten Urbanismus Elemente des Widerstands und der Aneignung existieren, die eine „urbane Revolution“ als „reale Entwicklung“ aufgreifen und somit eine Neudefinition utopischer Hoffnungen andeuten, anstatt ein einfaches Scheitern der Utopie zu konstatieren.

Das neue Athen: Laurent Gaudé

Gaudé inszeniert in „Chien 51“ (2022) eine düstere Parabel über die Degradierung des Menschen zur Ressource, über das Vergessen kollektiver Geschichte, über die Verlagerung staatlicher Gewalt in privatwirtschaftliche Hände – und über das letzte Aufflackern von Menschlichkeit in einem entseelten System. Der Roman thematisiert nicht nur soziale Ungleichheit, sondern geht weit darüber hinaus: Er stellt Fragen nach moralischer Integrität, individueller Handlungsmacht, Erinnerung, Rache und Erlösung – mit einer eindrucksvollen Sprache, die zugleich analytisch kühl und liturgisch verdichtet wirkt.

rentrée littéraire
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