Schreibweisen des Realen: Ivan Jablonka

Ivan Jablonka, Le Troisième Continent ou la littérature du réel, Seuil, 2024. Einleitung: Interpretieren und Verändern In Le Troisième Continent unternimmt Ivan Jablonka, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Sorbonne Paris Nord und Mitglied des Institut Universitaire de France (IUF), eine Neukartierung der intellektuellen Welt und der Schreibformen. Die traditionelle intellektuelle Landkarte wird demnach seit …

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Apologie einer Wiederentdeckung: Célines verschollene Manuskripte und Véronique Chovin

Lucettes Erbe Die literaturwissenschaftliche Forschung zum Werk Louis-Ferdinand Célines erfuhr jüngst eine signifikante Erweiterung durch eine Reihe unerwarteter Entdeckungen. Im Zentrum dieser „wundersamen Wiederauferstehung“ steht die Gestalt Véronique Chovins, deren persönliche Erzählung sich auf untrennbare Weise mit der des „verfluchten“ Schriftstellers und seiner Witwe, Lucette Almansor, verbindet. Chovin, die in den 1970er Jahren als Siebzehnjährige …

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Von der Idealisierung zur Problematisierung: Mutterbilder in der französischen Gegenwartsliteratur

Transformationen und Dekonstruktionen Der Band Mater Genetrix: les images de la mère dans la littérature contemporaine d’expression française, herausgegeben von Marina Hertrampf, bietet eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit der Darstellung von Müttern in der aktuellen französisch- und frankophonen Literatur. Das Werk beleuchtet die Transformation und Dekonstruktion überkommener Mutterbilder und zeigt, wie literarische Texte als Seismographen gesellschaftlicher …

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Das vergessene Drama von 1940: Aurélien d’Avout

Aurélien d’Avout, La France en éclats: écrire la débâcle de 1940, d’Aragon à Claude Simon (Brüssel: Les Impressions nouvelles, 2023), 390 S. Zäsur und Riss im französischen Selbstbild Aurélien d’Avouts Studie La France en éclats beleuchtet, warum das Jahr 1940, insbesondere der Juni, in Frankreich oft von einem „Schleier des Schweigens“ umgeben ist. Obwohl die …

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Frankreich als griechische Polis: François Hartog

François Hartogs so gewichtiger wie schmaler Band von gerade mal 54 Seiten, Das antike Griechenland ist die schönste Erfindung der Neuzeit (2021), der als dritter Teil der Gunnar Hering Lectures erschienen ist, lädt dazu ein, die gewohnte Rolle Griechenlands in der westlichen Kultur kritisch zu überdenken. Die Arbeit, die sich explizit an Paul Valérys berühmten …

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Sarah Kofman und die französisch-jüdische Literatur: Esra Akkaya

Esra Akkaya, Sarah Kofmans literarisches Werk: Frankreichs verdrängte Gedächtnisse. Berlin: De Gruyter, 2025.  Leben und Werk Sarah Kofman (1934–1994) war eine der französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts – Philosophin, Literaturwissenschaftlerin, Nietzsche-Interpretin und Shoah-Überlebende. Geboren in Paris in eine jüdisch-orthodoxe Familie, erlebte sie als Kind die Verhaftung ihres Vaters durch die französische Polizei während der Razzia im Juli …

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Boualem Sansals Werk heute: Rebecca Hohnhaus

Zum Sachstand: Ausschluss aus den nationalen Begnadigungen Die Situation des algerisch-französischen Schriftstellers Boualem Sansal bleibt weiterhin kritisch. Am 1. Juli 2025 bestätigte ein algerisches Berufungsgericht das Urteil der ersten Instanz und verurteilte den 80-jährigen, schwer kranken Autor erneut zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung. Ihm wird vorgeworfen, die „nationale Einheit“ Algeriens verletzt zu haben. Diese …

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Die Welt vervollständigen: Alice Zeniter

Alice Zeniters Werk „Toute une moitié du monde“ (Flammarion, 2022, deutsch: „Eine ganze Hälfte der Welt“, aus dem Französischen von Yvonne Eglinger, Berlin-Verlag, 2025) ist eine stimulierende Reflexion über die Fiktion, die sich aus ihren persönlichen Erfahrungen als Leserin und Autorin speist und eine umfassende Revision unserer Art, Geschichten zu lesen und zu erzählen, anregt. Das vorliegende Buch versteht sich explizit nicht als streng wissenschaftlicher Essay, sondern vielmehr als eine gedankliche Exkursion oder eine meditative Reflexion, die persönliche Reflexionen, literaturtheoretische Überlegungen und gesellschaftliche Kritik frei miteinander verknüpft.

Erbe der Wunden: Traumata und ihre literarische Vermittlung

Zum Handbuch Traumatisme et mémoire culturelle von Silke Segler-Meßner und Isabella von Treskow Das französischsprachige Sammelwerk Traumatisme et mémoire culturelle: France et espaces francophones (herausgegeben von Silke Segler-Meßner und Isabella von Treskow, De Gruyter, 2024, 558 Seiten) widmet sich der Darstellung kollektiver Traumata in der französischsprachigen Literatur und Kultur des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, …

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François Truffaut und die Literatur

Der Sammelband Correspondance avec des écrivains (1948-1984) (Gallimard, 2022) bietet einen gebündelten Einblick in die Gedankenwelt François Truffauts und seine tief verwurzelte Beziehung zur Literatur, die sein gesamtes filmisches Schaffen durchdrungen hat. Herausgegeben von Bernard Bastide, versammelt dieses Werk eine Fülle von Briefen, die Truffaut von 1948 (er war 16 Jahre alt) bis 1984 (er …

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Gegen die Empathiemode: Dominique Rabaté

Der Pariser Literaturwissenschaftler Dominique Rabaté, durch zahlreiche Arbeiten zur französischen Gegenwartsliteratur ausgewiesen, bietet mit Limites de l’empathie eine kritische Auseinandersetzung mit der heutigen, oft unreflektierten Verherrlichung von Empathie und Identifikation. Rabaté, selbst als Professor auch Lehrender an der Universität, stellte fest, dass seine Studenten Identifikation häufig als die primäre Qualität eines Textes ansehen und sogar …

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Theorie im kolonialen Dilemma: Onur Erdur

Eine Tugendlehre des Geistes aus dem Maghreb Onur Erdurs Monografie Schule des Südens: die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie widmet sich einem bisher im Großen erstaunlich vernachlässigten Aspekt der französischen Geistesgeschichte: den tiefgreifenden biografischen und intellektuellen Prägungen, die führende Denkerinnen und Denker der Nachkriegszeit durch ihre Erfahrungen in den französischen Kolonien Nordafrikas erfuhren. Das Buch …

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Non serviam. Politische Literatur heute: Alexandre Gefen

Alexandre Gefen möchte mit seinem Buch „La littérature est une affaire politique“ („Literatur ist eine politische Angelegenheit“) aufzeigen, dass Literatur – entgegen der oft verbreiteten Annahme, sie diene lediglich der Unterhaltung – grundsätzlich eine politische Angelegenheit ist. Ein zentrales Anliegen Gefens ist ein Fokus darauf, dass zeitgenössische französische Schriftsteller, obwohl sie die klassische Vorstellung von „engagierter Literatur“ ablehnen, keineswegs ästhetisch gleichgültig gegenüber den politischen Problemen ihres Landes sind. Vielmehr nutzen diese Autoren ihre Erzählungen sehr oft als Werkzeug zur Analyse von Ungleichheiten. Sie bedienen sich dabei Elementen der Autobiografie oder des Reportage, um soziale Diskurse zu hinterfragen und versuchen manchmal sogar, gesellschaftliche Krisen zu verlängern oder vorherzusehen. Damit weisen sie die Idee eines „Elfenbeinturms“ zurück, in den man sie einsperren möchte und den sie nicht länger ertragen. Sie erfüllen soziale Anforderungen, indem sie an literarischen Residenzen teilnehmen, zum Beispiel in Regionen, Krankenhäusern, Altenheimen oder mit Jugendlichen und Migranten. Das Buch enthüllt somit ein beeindruckendes Panorama einer „kämpferischen und modernen Literatur, die unsere Gesellschaft verändern möchte“.

Frankreichs Topologie der Gewalt. Narrative Modellierungen im extrême contemporain: Markus Alexander Lenz

Die vorliegende Studie Die verletzte Republik: erzählte Gewalt im Frankreich des 21. Jahrhunderts (Mimesis 101, Berlin: De Gruyter Brill, 2022) widmet sich einer hochaktuellen und gesellschaftlich drängenden Thematik: der Darstellung und Reflexion von Gewalt in der französischen Gegenwartsliteratur. Der Autor, Markus Alexander Lenz, bietet eine tiefgehende Analyse aktueller Erzähltexte, die größtenteils in der zweiten Dekade …

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Das Übernatürliche als Ausdruck der Zeit im Roman: Anne-Sophie Donnarieix

Anne-Sophie Donnarieix‘ Monographie Puissances de l’ombre: le surnaturel du roman contemporain (Presses universitaires du Septentrion, 2022) bietet eine differenzierte Analyse der Präsenz des Übernatürlichen in der französischen Gegenwartsliteratur. Das Buch verfolgt das ambitionierte Ziel, die vielfältigen Erscheinungsformen und Funktionen des Übernatürlichen in einem literarischen Kontext zu verorten, der einerseits von einer Krise des Rationalismus gezeichnet …

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Soziale Verachtung in Frankreich: Rose Lamy

Rose Lamys Buch „Ascendant beauf“ (Aszendent Spießer, Seuil, 2025) befasst sich mit der sozialen Verachtung und Klassendominanz in Frankreich, insbesondere durch die Analyse der abfälligen Figur des „Beauf“, Inbegriff des Spießertums. Der Begriff „Beauf“ ist höchstwahrscheinlich eine Kurzform von „beau-frère“ (Schwager). Er wurde 1972 vom Comiczeichner Cabu als Comicfigur erfunden. Der Begriff „Beauf“ wird als Werkzeug der Dominanz beschrieben, das von den dominierenden Klassen verwendet wird, um die populären Klassen zu stigmatisieren und zu „entmenschlichen“. Der „Beauf“ wird im Gegensatz zum „Grand Duduche“ beschrieben, einer Figur, die der Comiczeichner Cabu als sein Selbstporträt schuf. Der Duduche ist idealistisch, humanistisch, gebildet, nicht gewalttätig, offen, feministisch, antirassistisch, wählt links oder extrem links. Dies verdeutlicht die dichotome Sichtweise.

Patrick Chamoiseau in der neuen Weltordnung

Während Patrick Chamoiseau in seinem neuesten Buch „Que peut Littérature quand elle ne peut“ (2025) sein Werk und seine Thesen einerseits bekräftigt, stellt er sie in einer Reflexion über die veränderten politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der Gegenwart zugleich neu zur Debatte. Patrick Chamoiseau bleibt vielen seiner Grundüberzeugungen treu, doch die Art und Weise, wie er die Welt betrachtet und interpretiert, hat sich deutlich verändert. Während er früher vor allem postkoloniale Fragen der Identität, der Kreolisierung und der kulturellen Hybridität in den Mittelpunkt stellte, erweitert er nun seinen Blick auf globale Herausforderungen wie Digitalisierung, algorithmische Steuerung von Wissen, ökologische Krisen und die Bedrohung durch totalisierende politische Narrative.

Gespenster der Avantgarde: Wolfgang Asholt

Nach eigenem Verständnis des Avantgardeforschers und Romanisten Wolfgang Asholt ist „Das lange Leben der Avantgarde: eine Theorie-Geschichte“ als erster Versuch zu werten, nach Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“ (1974) und Paul Manns „Theory-Death of the Avant-Garde“ (1991) eine neuere Untersuchung der Avantgarde-Theorie vorzulegen, die ihre Entwicklung in historischen wie aktuellen Konstellationen und Artikulationen untersucht.

Anderes Alphabet: William Marx

William Marx’ 2018 erschienenes Werk Un Savoir Gai ist nicht nur eine persönliche Reflexion über die homosexuelle Erfahrung; es stellt einen theoretischen Entwurf dar, der die Art und Weise, wie Wissen generiert und Weltwahrnehmung geformt wird, fundamental hinterfragt. Basierend auf der spezifischen „schwulen“ Existenzperspektive entwickelt Marx ein „schwules Wissen“, das etablierte heteronormative Erzählungen und gesellschaftliche …

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