Autofiktion im Irrealis

Quel est ton nom, Personne, c’est rien le nom, c’est comme la famille, c’est comme l’enfance, je n’y crois pas, je n’en veux pas.

Constance Debré, Nom

Wie ist dein Name, Niemand, der Name ist nichts, er ist wie die Familie, er ist wie die Kindheit, ich glaube nicht daran, ich will ihn nicht.

„Constance Debré ist die Tochter des Journalisten François Debré (1942–2020) und des ehemaligen Models Maylis Ybarnégaray (1942–1988), Enkelin von Michel Debré (1912–1996), dem ehemaligen Premierminister von General de Gaulle, und von Jean Ybarnégaray (1883–1956), einem Minister des Vichy-Regimes und Widerstandskämpfer. Darüber hinaus ist sie die Nichte des Staatsmannes Jean-Louis Debré.“ 1 Französische Elite sein, das fügt ein Individuum in eine Reihe an Vorfahren und Namen, die einen beglaubigen, aber auch belasten können, das zeigt schon der Auszug aus dem Wikipedia-Eintrag von Constance Debré.

Robert-Diard hatte 2013 für Le Monde die Autorin porträtiert, und ihr „Name“ ist damals schon titelgebend geworden: „Constance Debré wurde als kleine Prinzessin in einer Wohnung im 6. Arrondissement von Paris geboren und wuchs dort auf. Sie war lange Zeit die einzige Tochter einer atemberaubend schönen Mutter, die für Modefotografen posierte, und eines Vaters, der ein großer Reporter und Schriftsteller war. Die Familie mütterlicherseits ist aristokratisch, baskisch, verarmt und übergeschnappt, die Familie väterlicherseits ist bürgerlich, republikanisch und gesittet.“ 2 Constance Debré hat all dies verlassen und daraus Literatur gemacht, 2018 in Play boy bricht sie diese Brücken zum Luxusleben, zu Anwaltsberuf und Ehemann auch literarisch ab. In Vanity Fair schilderte danach Gaspard Dhellemmes sein Wiedersehen mit ihr: „Sechs Jahre später traf ich sie in einem Pariser Café im Marais-Viertel wieder. […] Es ist eine andere Frau. Sie trägt jetzt ein Piercing im rechten Ohr und verschiedene Tätowierungen, Blattwerk auf dem Arm und, wie ich bei einem Blick auf ihren Instagram-Account entdecke, einen kalligraphischen ‚fils de pute‘ (Hurensohn) auf dem Unterbauch. Von ihrem früheren Leben scheint sie nur das leise Zischen der Großfamilien behalten zu haben – ‚Mein snobistischer Akzent‘, wie sie es nennt.“ 3

Constance Debré hat in Folge ihres Bruchs mit dem Namen drei Bücher publiziert, in denen sie sich abarbeitet am vorgefundenen Leben, aus dem sie schließlich ausbricht:

  1. Play Boy, Paris: Stock, 2018, die Geschichte ihres Ausbruchs aus der alten Identität und der Beginn ihrer Liebe zu Frauen.
  2. Love me tender, Paris: Flammarion, 2020, eine Fortsetzung im Bereich der Liebe und des guten Lebens, und ein Kampf mit dem Vater des gemeinsamen Sohnes ums Sorgerecht.
  3. Nom, Paris: Flammarion, 2022, das ein politisches Programm formuliert, die radikale Moderne einer Welt ohne Abstammung, Familiennamen, ohne Kindheit und elterliche Autorität, ohne Erbschaft, Vermögen oder Staatsangehörigkeit.

Die eigene Kindheit wurde trotz aller schon schulischer Distinktion in einer öffentlichen Schule verbracht, aber die Eltern noch hatten als Kinder nach dem Verlassen eines solchen Schutzraums einen Schock in Anbetracht der sozialen Realitäten:

Mes parents trouvent que c’est important que je sois à l’école publique. Ma mère dit qu’il faut être moderne, vivre avec tout le monde. Elle dit que ça lui a fait un choc, en sortant de pension après le bac, de découvrir le monde. Comme si elle avait été élevée dans une secte, comme dans les histoires d’enfants de mormons. Mon père ne se pose même pas ce genre de questions.

Constance Debré, Nom

Meine Eltern finden es wichtig, dass ich in die öffentliche Schule gehe. Meine Mutter sagt, man müsse modern sein und mit allen zusammenleben. Sie sagt, es sei ein Schock für sie gewesen, als sie nach dem Abitur aus dem Internat kam und die Welt kennenlernte. Als wäre sie in einer Sekte aufgewachsen, wie in den Geschichten über die Kinder von Mormonen. Mein Vater stellt sich solche Fragen nicht einmal.

Das Motto des Buchs eröffnet die radikale Geste des politischen Programms, wenn Debré aus Mille plateaux von Deleuze und Guattari über organlose Körper zitiert (bekanntlich ein Konzept von Antonin Artaud): „Ersetzen Sie die Anamnese durch das Vergessen, die Interpretation durch das Experimentieren.“ 4. So präzisiert Elisabeth Philippe im Nouvel Observateur, man solle den Text nicht psychoanalytisch als Vatermord lesen: „Wie auch immer, ihr Vater hat sich selbst getötet, auf kleiner Flamme, mit Opium- und dann Heroin-Dosen. ‚Nom‘ beginnt mit seinem Tod. Klinische Erzählung, mechanische Gesten. Ein Eimer Eiswasser wird dem Leser gleich zu Beginn über den Kopf geschüttet, um ihn zu ernüchtern und auf die folgenden Seiten vorzubereiten, eine Anleitung zur radikalen Liquidierung, die Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘, diesen Niederschlag literarischen Hasses, wie eine Abhandlung über Glück und Zusammenleben aussehen lassen würde.“ 5

Und der daraus resultierende Lebensentwurf?

À vélo, je suis à vélo, Paris est vide, c’est l’été, j’écoute Bach, deux préludes et une toccate, toujours les mêmes, je vais nager à Georges-Hermant, derrière les Buttes-Chaumont. J’y vais à l’heure du déjeuner, quand il n’y a personne, je tutoie même le patron à force, je bois des cafés dans son bureau. Je ne lis presque rien. Il y a des choses qui me dégoûtent et des choses qui ne me dégoûtent pas. Je fais ce qui ne me dégoûte pas. Nager, pédaler, écouter Bach, lire Manchette ou Deleuze, ne voir personne, avoir un jean et deux tee-shirts, habiter les appartements des autres, faire du yoga sur l’appli Downdog Yoga 8,99 euros par mois, guerrier pacifique, position de l’aigle, boire du Coca, manger des dattes, acheter des Malabar bleus à 20 centimes chez les rebeus, me raser la tête tous les huit jours au sabot 2

Constance Debré, Nom

Mit dem Fahrrad, ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, Paris ist leer, es ist Sommer, ich höre Bach, zwei Präludien und eine Toccata, immer die gleichen, ich gehe in Georges-Hermant hinter den Buttes-Chaumont schwimmen. Ich gehe dort zur Mittagszeit hin, wenn niemand da ist, ich duze sogar den Chef zwangsweise und trinke Kaffee in seinem Büro. Ich lese fast nichts. Es gibt Dinge, die mich anekeln, und Dinge, die mich nicht anekeln. Ich mache Dinge, die mich nicht ekeln. Schwimmen, Radfahren, Bach hören, Manchette oder Deleuze lesen, niemanden sehen, eine Jeans und zwei T-Shirts haben, in den Wohnungen anderer Leute wohnen, Yoga mit der App Downdog Yoga 8,99 Euro im Monat machen, friedlicher Krieger, Adlerstellung, Cola trinken, Datteln essen, bei den Arabern blaue Malabar für 20 Cent kaufen, mir alle acht Tage den Kopf mit dem Sabot 2 rasieren.

Constance Debré schreibt unter ihrem Namen, um ihren Namen auszutreiben. Die eigene einflussreiche Familie war Siegerin in einem Kampf der Namen, der nicht nur Frankreich konstituiert, sondern jedwede Institution, und letztlich erkennt sie darin einen Schutzzauber gegen den Tod:

Les noms c’est comme des cartes Pokémon, ça vient avec des points. Des points en plus ou bien des points en moins. Dans la guerre des noms, la famille de mon père l’emporte sur la famille de ma mère. Le nom de mon père, de mon grand-père, de mon arrière-grand-père, mon nom, donc, l’emporte sur beaucoup de noms. La France, l’État, la politique, la médecine, et même un peu les arts, c’est eux, c’est nous. C’est ça qu’ils se racontent, qu’ils me racontent, que les autres aussi me racontent, puisque les autres y croient. Il est même dans les rues et sur des bâtiments, mon nom, il me tombe sous les yeux et la voix de madame RATP me le rappelle, au cas où je voudrais descendre à la prochaine station qui s’appelle comme moi. Leur obsession pour leur nom propre (mon nom propre, moi qui n’ai pas de propriété, mon nom de famille, moi qui n’ai plus de famille) est comme une protection contre la mort, leur rempart contre le tremblement, car les bourgeois sont des gens qui tremblent, c’est ça souvent que les autres ne voient pas, la peur immense des bourgeois. Dans cette histoire du nom, j’ai moi aussi une place.

Constance Debré, Nom

Namen sind wie Pokémon-Karten, es gibt Punkte dafür. Entweder mit Pluspunkten oder mit Minuspunkten. Im Krieg der Namen siegt die Familie meines Vaters über die Familie meiner Mutter. Der Name meines Vaters, meines Großvaters, meines Urgroßvaters, also mein Name, setzt sich gegen viele andere Namen durch. Frankreich, der Staat, die Politik, die Medizin und sogar ein bisschen die Künste, das sind sie, das sind wir. Das ist es, was sie sich erzählen, was sie mir erzählen, was auch die anderen mir erzählen, da die anderen daran glauben. Mein Name steht sogar auf den Straßen und an Gebäuden, er fällt mir direkt ins Auge und die Stimme von Frau RATP erinnert mich daran, falls ich an der nächsten Station aussteigen will, die so heißt wie ich. Ihre Besessenheit von ihrem Eigennamen (mein Eigenname, ich, der ich kein Eigentum besitze, mein Familienname, ich, der ich keine Familie mehr habe) ist wie ein Schutz vor dem Tod, ihr Bollwerk gegen das Zittern, denn die Bourgeois sind Menschen, die zittern, das ist es oft, was die anderen nicht sehen, die immense Angst der Bourgeois. In dieser Geschichte des Namens habe auch ich einen Platz.

Auch der Verwandte der Autorin, Jean-Louis Debré, hat mit der Familiengeschichte ein Buch über den Namen geschrieben. 6 Im Interview mit Julie Malaure verknüpft er den Namenswechsel mit jüdischer Namensgläubigkeit: Auf die Frage In Ihrem Buch heißt Ihr Vorfahre Anselme, nicht Debré. Wann änderte die Familie ihren Nachnamen? antwortet er: „Unter Napoleon, als er die Juden integrieren wollte. Er verlangte, dass sie sich in die Zivilstandsregister eintragen. Nur durfte ihr Name nicht jüdisch klingen. Es ist Jacques, mein Vorfahre, der den Namen Debré annehmen wird. Vom Standesbeamten in Westhoffen, dem kleinen elsässischen Dorf, aus dem ich stamme, notiert, weil er sich nicht bewusst ist, dass das Wort im Hebräischen „das Wort tragen“ bedeutet. Nicht irgendein Wort, sondern das Wort, um etwas zu übermitteln. Der Offizier erkennt nicht den religiösen Klang, und Jacques ist tief religiös und möchte seine jüdischen Wurzeln auf keinen Fall verraten.“ 7

Constance Debrés Fassung der Geschichte ist eine inbrünstige Entlarvungsgeschichte eines Assimilationswillens, der das eigene Jüdischsein auslöschen und sich in eine „reine“ französische Meistererzählung integrieren möchte. Internalisierter Antisemitismus, so lautet ihr scharfer Vorwurf, und die inzwischen offen lesbisch lebende Autorin verknüpft diesen Vorwurf mit Fragen von Klassenkampf und Homophobie:

Toute famille crée sa folie et l’alimente puisqu’elle ne tient que par elle. Les bourgeois ne sont pas moins fous que les aristos. Ils sont fous, bien sûr qu’ils sont fous les Debré, leur folie, ils l’appellent l’État, ils l’appellent la France. Pour oublier peut-être qu’ils sont un peu juifs. Il a oublié qu’il porte un nom juif, le Premier ministre, que son grand-père était rabbin, qu’il a des cousins qui ne sont jamais revenus des camps. Ça aurait été une autre histoire, peut-être, si Debré ça avait été Blum ou Aron, ça aurait été plus difficile pour eux d’oublier qu’ils étaient juifs. Mais non, Debré ne sonne pas juif, et si on ne sait pas on ne sait pas, alors eux aussi ils ont fait comme s’ils ne savaient plus, comme si Debré n’était pas juif. C’est plus commode, puisque leur grande idée c’est qu’il faut être français et que pour eux être français, c’est ne pas être juif. Il y a un mensonge dans leur amour pour la France, dans leur obsession pour la France, la France éternelle de la Chanson de Roland à Péguy en passant par Racine et Barrès, la France universelle, la France jacobine, celle qui dit qu’on est français et rien d’autre, pas breton pas alsacien, pas riche ni pauvre, pas juif, il y a une folie dans cette France en laquelle ils croient et qu’ils écrivent eux-mêmes avec leurs lois et leur Constitution. Une folie ou un mensonge, une honte, la haine du juif en eux. Qu’est-ce que ça veut dire, juif, pour eux ? Quelle impureté ils y voient ? Quelle tache ? C’est comme une homosexualité latente ou un complexe de classe. La pureté c’est la France.

Constance Debré, Nom

Jede Familie schafft ihren Wahnsinn und nährt ihn, da sie nur durch ihn zusammengehalten wird. Die Bourgeois sind nicht weniger verrückt als die Aristos. Sie sind verrückt, natürlich sind sie verrückt, die Debrés. Sie nennen ihren Wahnsinn den Staat, sie nennen ihn Frankreich. Um vielleicht zu vergessen, dass sie ein bisschen jüdisch sind. Er hat vergessen, dass er einen jüdischen Namen trägt, der Premierminister, dass sein Großvater Rabbiner war, dass er Cousins hat, die nie aus den Lagern zurückgekehrt sind. Es wäre eine andere Geschichte gewesen, vielleicht, wenn Debré Blum oder Aron gewesen wäre, dann wäre es für sie schwieriger gewesen zu vergessen, dass sie Juden waren. Aber nein, Debré klingt nicht jüdisch, und wenn man es nicht weiß, weiß man es nicht, also haben auch sie so getan, als ob sie es nicht mehr wüssten, als ob Debré kein Jude wäre. Das ist bequemer, denn ihre große Idee ist, dass man Franzose sein muss, und für sie bedeutet französisch sein, nicht jüdisch zu sein. Es gibt eine Lüge in ihrer Liebe zu Frankreich, in ihrer Besessenheit von Frankreich, dem ewigen Frankreich vom Rolandslied über Racine und Barrès bis zu Péguy, dem universellen Frankreich, dem jakobinischen Frankreich, dem Frankreich, das sagt, dass man Franzose ist und nichts anderes, nicht Bretone oder Elsässer, nicht reich oder arm, nicht Jude, es gibt einen Wahnsinn in diesem Frankreich, an das sie glauben und das sie selbst mit ihren Gesetzen und ihrer Verfassung schreiben. Einen Wahnsinn oder eine Lüge, eine Schande, den Hass auf den Juden in ihnen. Was bedeutet Jude sein für sie? Welche Unreinheit sehen sie darin? Was für einen Makel? Es ist wie eine latente Homosexualität oder ein Klassenkomplex. Reinheit ist für sie Frankreich.

Constance wurde selbst Mutter, auch wenn aus ihren Berichten hervorgeht, dass sie das Kind nicht mehr regelmäßig sehen konnte und mit dem Vater um das Sorgerecht kämpfte. Überzeugend ist die Stelle in Love me tender, in der sie von der Namensgebung für das geliebte Neugeborene spricht:

Il est né, je l’ai vu pour la première fois, avec sa gueule à lui, son corps à lui, sa vie à lui, sa mort à lui, il ne pleurait pas vraiment, il avait un air pas content qui m’a plu, j’ai compris qu’il était exactement lui, pas une histoire qu’on se raconte, j’ai dit qu’il s’appelait Paul. Il a le nom de son père mais le prénom c’est moi. C’est quelque chose qui n’existe pas dans les autres amours de choisir le nom de qui on aime. Un prénom pour qu’il soit aimé par d’autres, pour qu’il s’en aille un jour.

Constance Debré, Love me tender

Er wurde geboren, ich sah ihn zum ersten Mal, mit seinem eigenen Gesicht, seinem eigenen Körper, seinem eigenen Leben, seinem eigenen Tod, er weinte nicht wirklich, er hatte einen unzufriedenen Gesichtsausdruck, der mir gefiel, ich verstand, dass er genau er war, nicht eine Geschichte, die man sich erzählt, ich sagte, dass er Paul heißt. Er hat den Namen seines Vaters, aber der Vorname bin ich. Das ist etwas, was es bei anderen Lieben nicht gibt, den Namen desjenigen zu wählen, den man liebt. Einen Vornamen, damit er von anderen geliebt wird, damit er eines Tages weggeht.

Eine vollständige Dekonstruktion der Familie wäre die vollendete Moderne, das hätte sie aber durchaus mit Sekten und Totalitarismen gemein, wäre da nicht auch der radikale Verzicht des Subjekts auf Weitergabe:

Pas d’argent, pas de maison, pas d’héritage. C’est conforme à ma philosophie de ne rien transmettre. Pas même le nom. En remplissant les papiers après sa naissance j’ai réfléchi. Je ne suis pas un éleveur de vaches, je ne marque pas les bêtes. Qu’il porte le nom de son père. Ordinaire et transparent. Un nom qui ne me concerne pas. Je lui fais grâce du mien. Rien de ces choses-là. C’est mieux. Dans une société enfin moderne les noms de famille disparaîtraient. Les noms et les héritages. Mais la modernité n’en finit pas de ne pas arriver.

Constance Debré, Nom

Kein Geld, kein Haus, kein Erbe. Das entspricht meiner Philosophie, nichts weiterzugeben. Nicht einmal den Namen. Als ich nach seiner Geburt die Papiere ausfüllte, dachte ich nach. Ich bin kein Kuhzüchter, ich gebe ihnen keine Brandzeichen. Er soll den Namen seines Vaters tragen. Gewöhnlich und durchsichtig. Ein Name, der mich nichts angeht. Ich erspare ihm meinen. Nichts von diesen Dingen. Es ist besser so. In einer endlich modernen Gesellschaft würden Familiennamen verschwinden. Die Namen und die Erbschaften. Aber die Moderne kommt immer wieder nicht.

Doch wie wäre dies denkbar? Ist nicht schon die Weitergabe von Sprache, die soziale Mimesis, jede Form von Zuwendung mit dem verbunden, was Debré als Einbrennen der Viehzüchternamen diskreditiert? „Ich weiß nicht, was Mutterliebe ist, was Liebe im Allgemeinen, ich kenne nur das Besondere.“ So sagt sie einmal in France Culture. 8 Marivaux’ Komödie La dispute führt zum Ort eines Menschenexperiments, man ließ Kinder in Einsamkeit aufwachsen, und Hermianes erster Satz zum Prinzen darin ist ja nicht zufällig: „Dies ist der wildeste und einsamste Ort der Welt, und nichts kündigt hier das Fest an, das Sie mir versprochen haben.“ 9 So erinnert Debrés Entwurf aber nur entfernt an ästhetisch-philosophische Entwürfe wie Alberto Savinios Tragedia dell’infanzia, denn hier ist Kindheit ja auch ein mythischer Ort und nicht nur eine defensive Instanz der Autonomie.

Was folgt aus diesen scharfen parataktischen Kurzkapiteln über den Namen? Eine Art Avantgarde, Roadmovie, perpetuierter Aufbruch, einsam heroisch, ganz unironisch. Aber das „on“, das sie hier benutzt, ein gesprochenes „Wir“, bleibt doch letztlich ein „Ich“.

Avec n’importe quels parents j’aurais écrit le même livre. Avec n’importe quelle enfance. Avec n’importe quel nom. Je raconterai toujours la même chose. Qu’il faut se barrer. De n’importe où et n’importe comment. Se barrer. Aller de plus en plus loin. Géographiquement ou sans bouger. Être de plus en plus seul. Aller vers la solitude. La sienne ou celle de l’autre. Possible que les temps qui viennent détruisent les vieilles structures, les familles, le couple, l’amour, le travail, tout ce qu’on a appris. Possible qu’on ait besoin de se préparer à être beaucoup plus fort, pour survivre à tout. Possible qu’on ait besoin d’apprendre à vivre autrement, à ne plus croire puisque tout menace de s’effondrer. Possible qu’on ait besoin d’apprendre à vivre en animal ou en guerrier, pour de longs exils. Possible que le monde qui vient ait besoin de héros. Je me propose, c’est exemplaire la littérature, c’est pour ça que je dis Je.

Constance Debré, Nom

Mit irgendwelchen Eltern hätte ich das gleiche Buch geschrieben. Mit jeder Kindheit. Mit jedem beliebigen Namen. Ich würde immer das Gleiche erzählen. Dass man abhauen muss. Von überall und irgendwie. Einfach abhauen. Immer weiter und weiter gehen. Geografisch oder ohne sich zu bewegen. Immer mehr allein sein. In die Einsamkeit gehen. Die eigene oder die des anderen. Möglich, dass die kommende Zeit alte Strukturen zerstört, Familien, Partnerschaften, Liebe, Arbeit, alles, was wir gelernt haben. Möglich, dass wir uns darauf vorbereiten müssen, viel stärker zu sein, um alles zu überleben. Möglich, dass wir lernen müssen, anders zu leben, nicht mehr zu glauben, weil alles zusammenzubrechen droht. Möglich, dass wir lernen müssen, als Tier oder als Krieger zu leben, für lange Exile. Möglich, dass die kommende Welt Helden braucht. Ich biete mich an, Literatur ist dafür exemplarisch, deshalb sage ich Ich.

Gérard Leforts Besprechung von Nom sieht den Text in eine Spannung von wütender Revolte und leiser Hoffnung gebracht: „Nom ist der Name eines großen Verrats: an der Politik des „Man muss Vernunft bewahren“, an der Einberufung in die Miliz der Gutmenschen, die unsere Leben einrahmt und sie so klein macht. […] Nom ist ein Roman der Ermutigung. Welcher trotz seines Schreis, die Klappe zu halten, doch den Wunsch weckt, mündlich mit einer Unterhaltung fortzufahren.“ 10

Drei Bücher schreiben über die Absage an Identität, das ist ein paradoxes, vielleicht gegenabhängiges Unterfangen. Die Verweigerung des Sozialen bei Debré ist etwas anderes als etwa Rousseaus Einsamkeit oder Thoreaus Rückzug in die Wälder. Nathalie Crom in Télérama vergleicht die Absolutheit ihrer Verweigerung: „Sie hat die verblüffende Radikalität der Heiligen, der Abenteurer des Glaubens. Die großen Mystiker, mit denen sie die Vorliebe für Disziplin und Askese teilt und deren Sätze manchmal an innere Erfahrungen erinnern.“ 11 Der Rezensent von L’Express verlangt, man müsse mit diesem dritten Buch Nom endlich aufhören, die Causa Debré „aus einem soziologischen Blickwinkel zu diskutieren, und endlich über ihren Stil sprechen: In dieser Hinsicht machen ihre Einzigartigkeit und ihr Talent allem Debattenstreit ein Ende.“ 12 Debré schreibt gegen das erbärmliche, ungelebte Leben, mit Crom „das freiwillige oder gedankenlose Festhalten am Theater des Scheins und der Zugehörigkeiten aller Art (sozial, familiär …), das Akzeptieren der zugewiesenen Identität und des zugewiesenen Schicksals, die schlichte Hingabe ‚an das Schicksal, an die Gewohnheiten, an die anderen, an die äußeren Kräfte‘.“ Mich berührt dieser unversöhnliche Text auch als Trauerarbeit über das, was Constance Debré „Moderne“ nennt. Es ist eine narrative Entgiftungstherapie, die auch den harten Rhythmus des unsteten Stils erklärt, eine Autofiktion im Irrealis.

J’aurais pu avoir un père, une mère, des frères, des sœurs, un signe astrologique, une ligne de la main, un profil ayurvédique, un groupe sanguin, une religion, des opinions, j’aurais pu avoir une couleur préférée, j’aurais pu avoir des fétiches, des porte-bonheur, des icônes, des idoles, j’aurais pu avoir des blessures, des nostalgies, des reproches, des regrets, j’aurais pu me dire d’une génération, d’un pays, d’une ville, d’une époque, d’un milieu, j’aurais pu me réclamer d’un genre ou d’une sexualité, j’aurais pu chercher une définition de moi-même, j’aurais pu croire à l’identité, et chercher la mienne, j’aurais pu me dire victime ou coupable, j’aurais pu dire J’accuse ou Mea culpa, j’aurais pu chercher une origine, une cause, un pourquoi, j’aurais pu croire à la généalogie, à la sociologie ou à l’ADN, chercher du côté des rabbins, des nobles, des Basques, des ministres ou des camés, j’aurais pu croire à tout ça, j’aurais pu en avoir les poches pleines, j’aurais pu aller voir un psy deux fois par semaine, j’aurais pu lui demander de m’aider à me faire vouloir tout ce dont je ne veux pas, j’aurais pu lui demander de me guérir. Je vis sans propriété sans famille sans enfance.

Constance Debré, Nom

Ich hätte einen Vater, eine Mutter, Brüder, Schwestern, ein Sternzeichen, eine Handlinie, ein Ayurveda-Profil, eine Blutgruppe, eine Religion, Ansichten haben können, ich hätte eine Lieblingsfarbe haben können, ich hätte Fetische, Glücksbringer, Ikonen haben können, Idole, ich hätte Verletzungen, Sehnsüchte, Vorwürfe, Bedauern haben können, ich hätte sagen können, dass ich einer Generation, einem Land, einer Stadt, einer Epoche, einem Milieu angehöre, ich hätte mich zu einem Geschlecht oder einer Sexualität bekennen können, ich hätte nach einer Definition von mir selbst suchen können, ich hätte an Identität glauben und meine eigene suchen können, ich hätte mich als Opfer oder Schuldiger bezeichnen können, ich hätte J’accuse oder Mea culpa sagen können, ich hätte nach einem Ursprung, einer Ursache, einem Warum suchen können, ich hätte an Genealogie, Soziologie oder DNA glauben können, bei den Rabbinern suchen können, den Adligen, den Basken, den Ministern oder den Junkies, ich hätte an all das glauben können, ich hätte die Taschen voll davon haben können, ich hätte zweimal die Woche zum Psychiater gehen können, ich hätte ihn bitten können, mir dabei zu helfen, mich dazu zu bringen, alles zu wollen, was ich nicht will, ich hätte ihn bitten können, mich zu heilen. Ich lebe ohne Eigentum ohne Familie ohne Kindheit.

Kai Nonnenmacher

Kontakt

Anmerkungen
  1. Aus dem frz. Wikipedia-Eintrag zu Constance Debré.>>>
  2. Pascale Robert-Diard, „Constance Debré: de l’autre côté du nom“, Le Monde, 13. Oktober 2013.>>>
  3. Gaspard Dhellemmes, „Portrait: Constance Debré, la prometteuse avocate métamorphosée par la littérature“, Vanity Fair, 14. September 2020.>>>
  4. „Remplacez l’anamnèse par l’oubli, l’interprétation par l’expérimentation.“ Gilles Deleuze und Felix Guattari, Mille plateaux>>>
  5. „De toute façon, son père à elle s’est tué tout seul, à petit feu, à doses d’opium puis d’héro. « Nom » s’ouvre sur sa mort. Récit clinique, gestes mécaniques. Un seau d’eau glacée balancé d’emblée à la tête du lecteur, histoire de le dégriser et de le préparer aux pages qui vont suivre, manuel de liquidation radicale, qui ferait passer « Extinction » de Thomas Bernhard, ce précipité de détestation littéraire, pour un traité sur le bonheur et le vivre-ensemble.“ Elisabeth Philippe, „Constance Debré, sans toit ni loi“, Nouvel Observateur, 10. Februar 2022.>>>
  6. Jean-Louis Debré, Une histoire de famille, Robert Laffont.>>>
  7. Dans votre livre, votre aïeul, c’est Anselme, non Debré. Quand la famille a-t-elle changé de patronyme ? | Sous Napoléon, lorsqu’il a voulu intégrer les juifs. Il a demandé qu’ils s’inscrivent sur les registres d’état civil. Seulement, leur nom ne devait pas avoir de consonance juive. C’est Jacques, mon ancêtre, qui va prendre le nom de Debré. Noté par l’officier d’état civil de Westhoffen, le petit village alsacien dont je suis originaire, parce qu’il ne se rend pas compte que, en hébreu, le mot signifie « porter la parole ». Pas n’importe quelle parole, la parole pour transmettre quelque chose. L’officier ne réalise pas la consonance religieuse, et Jacques est profondément religieux, et ne veut surtout pas trahir ses racines juives.“ Julie Malaure, Les Debré, une « marque de fabrique », Le Point, 24. Oktober 2019.>>>
  8. „Je ne sais pas ce que c’est l’amour maternel, l’amour en général, je ne connais que du particulier.“ Constance Debré, France Culture, Le réveil culturel.>>>
  9. „Voici le lieu du monde le plus sauvage et le plus solitaire, et rien n’y annonce la fête que vous m’avez promise.“ Marivaux, La dispute, Scène I.>>>
  10. Nom est le nom d’une grande trahison : à la politique du “il faut raison garder”, à l’enrôlement dans la milice des bien-pensants qui encadre nos vies et les rend minuscules. […] Nom est un roman de l’encouragement. Ce qui malgré son injection de la fermer, donne l’envie de poursuivre à l’oral par un entretien.“ Gérard Lefort, „Constance Debré: On vit dans une époque endormie et endormante“, Les Inrockuptibles, 4. Februar 2022.>>>
  11. „Elle a la radicalité stupéfiante des saints, des aventuriers de la foi. Des grands mystiques avec lesquels elle partage le goût de la discipline et de l’ascèse, et dont ses phrases, parfois, évoquent les expériences intérieures.“ Nathalie Crom, „Quand Constance Debré dit Nom“, Télérama, 5. Februar 2022.>>>
  12. „Il est grand temps de cesser de débattre de son cas sous un angle sociologique et de parler enfin de son style : sur ce plan, sa singularité et son talent mettent fin à toutes les querelles.“ Louis-Henri de La Rochefoucauld, „Constance Debré, Elie Robert-Nicoud, Geneviève Brisac : les livres à ne pas manquer“, L’Express, 6. Februar 2022.>>>