Das neue Athen: Laurent Gaudé

In seinem 2022 erschienenen Roman Chien 51 entwirft Laurent Gaudé eine bedrückende Zukunftsvision, die in einer dystopischen Metropole namens Magnapole angesiedelt ist. Formal als Kriminalroman strukturiert, entwickelt das Werk eine komplexe Erzählung über globale Machtverhältnisse, systemische Gewalt, Identitätsverlust und individuelle Ohnmacht in einem durchkapitalisierten, postnationalen System. Der Titel verweist auf den Protagonisten Zem Sparak, einen ehemaligen griechischen Widerstandskämpfer, der nach der Konzernübernahme seines Heimatlands zum willfährigen Instrument eben jener Macht wird, gegen die er einst kämpfte.

Delphi, die Stätte des berühmten antiken Orakels, steht symbolisch für Wissen, Prophezeiung und einen Ort von tiefer spiritueller und kultureller Bedeutung. Der Verweis gleich zu Beginn, dass man Delphi „nicht vergessen“ solle, setzt einen melancholischen Ton und impliziert, dass die Erinnerung an eine bedeutsame Vergangenheit in der Welt des Romans bedroht ist. Das Zitat von Paul Claudel aus Der seidene Schuh untermauert dies, indem es die Unzerstörbarkeit des Vergangenen betont, selbst wenn es in den „Archiven“ nur noch als Erinnerung existiert. Dies kontrastiert scharf mit der „gedächtnislosen“ Stadt Magnapole und der Tendenz von GoldTex, Geschichte umzuschreiben oder auszulöschen, und suggeriert, dass wahre Geschichte und Identität nicht vollständig unterdrückt werden können. Gaudé inszeniert in Chien 51 eine düstere Parabel über die Degradierung des Menschen zur Ressource, über das Vergessen kollektiver Geschichte, über die Verlagerung staatlicher Gewalt in privatwirtschaftliche Hände – und über das letzte Aufflackern von Menschlichkeit in einem entseelten System. Der Roman thematisiert nicht nur soziale Ungleichheit, sondern geht weit darüber hinaus: Er stellt Fragen nach moralischer Integrität, individueller Handlungsmacht, Erinnerung, Rache und Erlösung – mit einer eindrucksvollen Sprache, die zugleich analytisch kühl und liturgisch verdichtet wirkt.

I. Magnapole: Topographie einer ungleichen Welt

1. Die Zonenstruktur als soziale Architektur der Entmenschlichung

Il a toujours détesté cette zone qui faisait semblant de croire qu’elle se suffisait à elle-même et que ceux qui n’avaient pas la chance d’y vivre avaient commis quelques fautes qui les tenaient légitimement éloignés du bonheur alors qu’il sait, lui, que la zone 2 est construite sur la crasse et la sueur de la zone 3, rien de plus. Et ce qu’il sent chaque fois qu’il revient, c’est le mépris tacite et immédiat de ceux qui possèdent envers ceux qui n’ont rien.

Laurent Gaudé, Chien 51, Actes Sud, 2022. Dt. Übersetzung: dtv, 2023, Ü: Christian Kolb.

Er hat diese Zone stets verabscheut, weil sie immer so tut, als wäre sie sich selbst genug und als hätten diejenigen, die nicht den Vorzug genießen, dort zu leben, Fehler begangen, die sie zu Recht ins Unglück gestürzt haben. Er aber weiß, die Zone 2 ist auf dem Dreck und Schweiß von Zone 3 gebaut, das ist alles. Wenn er zurückkommt, spürt er jedes Mal sofort die heimliche Verachtung derer, die besitzen, für die, die nichts haben.“9 Dieses Zitat beleuchtet die radikale Klassenspaltung und die unversöhnliche Hierarchie in Magnapolis, in der der Wohlstand der privilegierten Zone 2 direkt auf der Ausbeutung und dem Leid der Zone 3 basiert.

Magnapole ist eine Stadt der Zonen – dreifach segmentiert nach dem Grad an Nützlichkeit, Kontrolle und Privilegierung. Diese Topographie ist nicht bloß dekoratives Setting, sondern zentraler Ausdruck der im Roman verhandelten Gesellschaftsordnung. Zone 1, die Domäne der Eliten, ist der Hochsicherheitstrakt der Unsterblichen. Mit ihren automatisierten Shuttles, gläsernen Türmen und sterilen Parks ist sie eine Enklave radikaler Exklusivität. Ihre Bewohner – „Honorables“ genannt – sind diejenigen, die in den Besitz des „Eternytox“-Transplantats gelangen, einem Verfahren, das Zellalterung aufhält und ewiges Leben verspricht. Dieses Transplantat ist mehr als ein medizinischer Fortschritt: Es ist die Inkarnation absoluter Klassenungleichheit. In Zone 1 leben die Unberührbaren – nicht im traditionellen, sondern im technologischen Sinne.

Zone 2, das Territorium der „Cilariés“, verkörpert die technokratische Mittelschicht, die von GoldTex selektiert, importiert und konditioniert wird. Die „Cilariés“ stammen aus den wirtschaftlich übernommenen Ländern (u. a. Griechenland, Bangladesch, Venezuela), deren Bevölkerung durch Verträge und Loyalitätsprämien in Arbeitskraft umgewandelt wurde. Die Zone ist sauber, klimatisiert, von einem Dom umgeben – ein Schutzschirm gegen die feindliche Außenwelt. Aber diese Sicherheit ist trügerisch: Zone 2 ist ein riesiger Sozialkäfig mit eingebauter Belohnungsmechanik (z. B. der „LOve Day“, ein massenhaftes Sexualfest zur Spannungsregulation) und Illusionsversprechen (wie die Aufstiegslotterie „Destiny“).

Zone 3 schließlich ist die Müllhalde der Gesellschaft – räumlich wie moralisch. Ruinen, Smog, Gewalt, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Verzweiflung: Hier lebt, wer keine Funktion mehr erfüllt. Die Zone ist außerhalb des Klimadoms gelegen, den giftiger Regen regelmäßig heimsucht. Zugleich ist sie „Testfeld“: Im „RealTest“-Programm werden ausgewählte Menschen mit Prototypen der Eternytox-Transplantate versehen – Versuchskaninchen im Dienst der Eliten. Dass selbst das Sterben ökonomisiert wird, ist die bitterste Pointe der Zonierung.

2. Ökonomie der Ausbeutung: GoldTex als biopolitische Macht

GoldTex ist keine Firma im traditionellen Sinne, sondern eine neue Form von globalem Leviathan: ökonomisch, militärisch, medizinisch, propagandistisch. In der Logik des Romans ist die Firma „Besitzerin“ ganzer Länder, inklusive ihrer Ressourcen und Bürger. Staaten sind zu Marken geworden, Souveränität ist Handelsware. Die Entscheidungshoheit über Leben, Tod, medizinische Behandlung, Wohnort oder Mobilität liegt bei Konzerninstanzen, nicht bei Regierungen.

Das „RealTest“-Programm steht emblematisch für diese biopolitische Machtausübung: Die Körper von Menschen aus Zone 3 werden instrumentalisiert, ohne deren Wissen oder Zustimmung. Der Vertrag, den sie unterschreiben, erlaubt GoldTex jede medizinische Maßnahme – rechtlich abgesichert, ethisch indifferent. Gleichzeitig wird Kontrolle durch Konsumversprechen ausgeübt: Die „Destiny“-Lotterie bietet eine (falsche) Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Wer gewinnt, wird jedoch nicht befreit, sondern zum Testobjekt.

3. Zivilisation als Fragment: Dekadenz, Gentrifizierung, Gewalt

Was Gaudé mit Magnapole gelingt, ist mehr als bloße Dystopie: Die Stadt wird zum Symbol einer zerfallenden Zivilisation, deren moralische Fundamente erodiert sind. Zwischen den gläsernen Türmen der Elite in Zone 1 und 2 und den kollabierenden Betonblöcken der Armen in Zone 3 herrscht nicht bloß ökonomischer Abstand, sondern eine epistemische Leere: Wer oben lebt, weiß nicht mehr, was unten geschieht. Zone 3 ist das große Verdrängte – und gleichzeitig der Ort, wo das wahre Leben tobt. Dies manifestiert sich in der radikalen Klassenspaltung von Magnapol, wo die Zone 2, mit ihren „sauberen Gebäuden“ und „asphaltierten Straßen“, buchstäblich „auf dem Dreck und Schweiß von Zone 3 gebaut“ ist. Die privilegierten Bewohner empfinden dabei „jedes Mal sofort die heimliche Verachtung derer, die besitzen, für die, die nichts haben“. Die Zonen sind nicht nur sozioökonomisch, sondern auch physisch durch Checkpoints getrennt, die von oben herab „mit verächtlichen Gesten“ verwaltet werden. Ganze Bevölkerungsgruppen, wie die Griechen nach der Übernahme ihres bankrotten Landes, werden systematisch „umgesiedelt“ und in die Elendsviertel der Zone 3 gedrängt, wo sie ein „arbeitsreiches Leben“ erwartet und sie das tiefe Blau des Meeres ihrer Heimat nie wiedersehen werden.

Die Dekadenz der Zonen 1 und 2 wird durch Events und Euphemismen kaschiert. Begriffe wie „LOve Day“, das „Mirakel“ der „Destiny“-Lotterie oder der Status des „Cilarié“ (Bürger im Festangestelltenverhältnis) sollen Euphorie und scheinbar grenzenlose Möglichkeiten simulieren, während die Realität ein unablässiger Strom der Kontrolle und Selektion bleibt. Der „LOve Day“ ist eine temporäre, stadtweite „Orgie“ und ein „Fest“, das den Bürgern die „Möglichkeit“ geben soll, „Stress und Müdigkeit abzubauen, um anschließend an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren und wieder neu zu beginnen“. Die „Destiny“-Lotterie erzeugt eine trügerische Hoffnung auf ein besseres Leben, reißt jedoch Familien auseinander und dient letztlich der Integration der Menschen in ein System, das sie zu „braven kleinen Soldaten“ GoldTex‘ macht. Ein noch radikaleres Beispiel der systematischen Gewalt ist das „RealTest“-Programm, bei dem Menschen aus Zone 3 als „Versuchskaninchen für die Reichsten der Reichen“ missbraucht werden, um Implantate für die Elite zu testen. Wenn diese Tests schieflaufen, gibt es keine medizinische Versorgung, da GoldTex nur daran interessiert ist, „Daten zu sammeln und sein Produkt zu verbessern“. Die Gewalt in Magnapole ist nicht nur physisch, wie die brutale Niederschlagung der „Schweren Unruhen“, die „Eternytox-Geschichten“ von Organraub in Zone 3 oder die „Leichen in den Citizens’ Dump“, sondern auch psychologischer Natur. Die „Bastonade“-Folter – ein „Martyrium von Bildern und Tönen, die direkt ins Gehirn eindringen“ – steht für eine neue Form der Gewalt, die nicht mehr primär blutig, sondern medial und psychisch zerstörerisch ist. Sie ist darauf ausgelegt, das Innere der Person zu zermürben, anstatt den Körper zu verstümmeln, wie Salia es am eigenen Leib erfährt, als ihr Geist mit „unendlich vielen Bildern“ von „Mord, Pornografie, Folter“ bombardiert wird. So wird Gewalt „kompatibel mit modernen Empfindungen“, indem sie unsichtbar und allgegenwärtig wird.

II. Zem Sparak: Vom Idealisten zum „Hund“

1. Vom Widerstandskämpfer zum Agenten des Systems

Zem Sparak, ursprünglich Sparakos, war einst ein idealistischer junger Grieche, der sich gegen die Privatisierung seines Landes durch GoldTex auflehnte. Nach dem Einsturz des Athener Hafens und dem Verrat seines Netzwerks wird er – mit zerbrochener Identität – nach Magnapole verschleppt. Dort wird er zum „Chien“, also zum Polizisten der untersten Zone, einem Mensch-Hund, der Ordnung wahren, aber nicht verändern darf.

Zem Sparak war ursprünglich erfüllt von Liebe zu seiner griechischen Heimat und ihren Traditionen. Bevor der Konzern GoldTex Griechenland vollständig unterjochte, ein Ereignis, das er als „Weltuntergang“ erlebte, war Sparak ein aktives Mitglied der griechischen Untergrundbewegung. Er kämpfte an der Seite seiner Kameraden, indem er Barrikaden errichtete und die Straßen mit brennenden Autos blockierte. Seine große Liebe, Lena Farakis, war ebenfalls ein „hitzköpfigstes Mitglied“ der Aktionsgruppe, und beide hatten geschworen, dass „das Leben immer wichtiger bleiben würde als die Politik“. Sparak teilte die Wut des Volkes über die Behandlung als „Untermenschen“ und empfand die Kraft, die aus der Masse ein kämpfendes Volk werden ließ, als „schön“. Sein Hass auf das System war tief.

Dieser Idealismus wurde jedoch auf tragische Weise zersetzt. Während der „Schweren Unruhen“ wurde Sparak als Angehöriger der Sicherheitskräfte in Zone 3 eingesetzt und musste die brutale Niederschlagung des griechischen Aufstands miterleben. Nach seiner Verhaftung wurde er erpresst und gezwungen, seine Freunde und Kameraden zu verraten, um Lena Farakis zu schützen. Dieses Versprechen erwies sich als „hinterhältiger Trick“, da Lena, die als „Nummer 50“ vor ihm von GoldTex „rekrutiert“ wurde, bereits in Gewahrsam war und wahrscheinlich gefoltert wurde. Dieser Verrat, der ihn zu einem „Hund“ des Systems machte, zerstörte seine ursprüngliche Identität und seinen moralischen Kompass. Er verlor die Hoffnung auf eine Heimkehr nach Athen und wurde zu einem „Schatten seiner selbst, gleichgültig gegenüber allem“. Dennoch blieb in ihm das tiefe Gefühl, die „ausgemergelten Massen“ nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen und ihre Geschichten zu bewahren.

Sein Name ist Symbol dieser Verwandlung: „Zem“ ist kein Vorname, sondern ein Code, ein Rufname, ein Fragment. Gaudé zeigt hier, wie sich Identitätsverlust nicht nur in Lebensentscheidungen, sondern in Sprache selbst manifestiert. Zacharias Solobek, der wahre Mörder, entmenschlicht Sparak, indem er sagt: „Sie sind ein Nichts. Oder vielleicht ein guter Hund. Der brav an der Leine geht“. Er erweitert dieses Bild, indem er hinzufügt: „Wir sind wie Hunde, wir lecken die Hand des Herrn, der das Stöckchen schmeißt“. Seine freiwillige Wahl, in Zone 3 zu arbeiten – obwohl er als Cilarié Zone 2 zustehen würde – ist ein Akt der Selbstbestrafung und vielleicht auch letzter Würde. Er lebt unter den Ärmsten, hört ihnen zu, schweigt, verzichtet auf Privilegien – ein gefallener Held, der zum Wächter des Elends wurde.

2. Der Fall Pamouk als Weg der moralischen Rückkehr

Als in der verkommenen und schmutzigen Zone 3 von Magnapole ein Mann auf brutale Weise ermordet wird, indem sein Körper „wie ein Fisch aufgeschnitten“ wird, ruft dies die übermächtige Konzernpolizei von GoldTex auf den Plan. Der resignierte Hilfspolizist Zem Sparak, der seit zwei Jahrzehnten als „Hund“ in den Elendsvierteln dieser dystopischen Megacity patrouilliert und dessen Leben vom „Geschmack gebrochener Versprechen“ geprägt ist, wird mit der jungen Inspektorin Salia Malberg aus der privilegierten Zone 2 zur Ermittlung abgestellt. Salia, die Sparak anfangs als „schlafmützig, aber selbstbewusst“ und „abgewrackten Typen“ wahrnimmt, tritt zunächst kühl, korrekt und autoritär auf. Ihre Zusammenarbeit wird durch ein „neues Partnerschaftsprogramm der Polizei“ erzwungen, das eine ungewöhnliche Verbindung zwischen den starren Hierarchien der Zonen schafft.

Was zunächst wie eine routinemäßige Mordermittlung aussieht, wird rasch zum Katalysator einer existenziellen Reise, insbesondere für Zem. Er identifiziert das Opfer als Maleck Pamouk, einen überraschenderweise aus Zone 2 stammenden „Gewinner der Großen Lotterie“ („Destiny“), dessen Körper post mortem in Zone 3 abgelegt wurde. Schockierenderweise erkennt Zem in der Leiche Spuren des „RealTest“-Programms, in dem Menschen aus Zone 3 als „Versuchskaninchen für die Reichsten der Reichen“ missbraucht werden, um Implantate für die Elite zu testen. Pamouk wollte mit seinem Tod diesen Skandal „ans Licht bringen“ und „ein Zeichen setzen“. Angesichts dieser zynischen Ausbeutung schwört Zem sich, den Täter zu finden. Dieser Schwur ist kein rein beruflicher Impuls, sondern ein archaischer Akt: ein „Pakt mit dem Toten“, eine Form der Wiedergeburt, die ihn aus seiner langjährigen Gleichgültigkeit reißt. Er verspricht, die „Blutspur geduldig zurückzuverfolgen“, damit die Tat nicht der Vergessenheit anheimfällt. Es ist ein Schritt zur Rückeroberung moralischer Handlungsfähigkeit in einer Welt, die das Gedächtnis verloren hat.

In der erzwungenen Zusammenarbeit mit Salia, die selbst eine tragische Vergangenheit und eine „innere Bruchstelle“ hat – ihre Mutter starb an Krebs, ihr Vater wurde nach Zone 3 zwangsversetzt und starb dort bei den „Schweren Unruhen“ –, beginnt Zem eine tiefgreifende Entwicklung. Von einem resignierten Funktionär, der die Abscheulichkeit der Zonen 1 und 2 verabscheut, da sie auf dem „Dreck und Schweiß von Zone 3 gebaut“ sind, wird er zu einem wieder handelnden Subjekt, das seine „uralte Wut“ wiederentdeckt und sich aktiv den Ungerechtigkeiten stellt. Die Untersuchung des Mordes und die Enthüllung der politischen Machenschaften zwischen den rivalisierenden Kommissionen Barsoks und Kanakas, die Pamouk und später Ira Cuprack als Schachfiguren in ihrem Machtkampf benutzten, wecken in Zem nicht nur seinen verlorenen Zorn, sondern führen ihn auch zu einer kathartischen Offenbarung seiner eigenen Vergangenheit und Verrat in Griechenland. Diese gemeinsame Reise, die durch „Gewalt, die mit modernen Empfindungen kompatibel“ ist, gezeichnet ist, bildet das Fundament für Zems Transformation und Salias wachsendes Bewusstsein für die Abgründe ihrer dystopischen Gesellschaft.

3. Die Dynamik des Verrats: Léna, Skyros, er selbst

Verrat ist das zentrale Motiv des Romans – politisch, emotional und persönlich. Auf systemischer Ebene ist der Verrat untrennbar mit dem Konzern GoldTex verbunden. Die Übernahme Griechenlands durch GoldTex wird als Akt des Verrats an einem ganzen Volk dargestellt, das seine Heimat verliert und dessen Bewohner panisch fliehen müssen oder versklavt und vergessen werden sollen. Die Versprechen eines besseren Lebens in Magnapole erweisen sich als trügerisch, denn viele landen in den verelendeten Zonen wie Zone 3. Auch der Bau der Klimakuppel, der auf dem Blut und Schweiß ausgebeuteter Arbeiter basiert, die dafür sterben, aber keinen Nutzen davon haben, ist ein Verrat an den Grundrechten und der Würde dieser Menschen.

Der Verrat durchdringt auch die politischen Machtspiele: Der „Politkrieg“ zwischen Kanaka und Barsok zeigt, wie Menschen wie Pamouk und Cuprack zu „Spielbällen“ werden, deren Leben für die Ambitionen der Mächtigen nichts wert ist. Solobek (alias Skyros) verkörpert den Verrat als Barsoks Sonderberater, der die Morde inszeniert, um Kanaka zu diskreditieren und dessen Wahlkampf zu sabotieren. Diese politische Instrumentalisierung von Mord und Leid ist ein klarer Bruch des Vertrauens.

Am tiefsten trifft der Verrat jedoch auf persönlicher Ebene die Hauptfigur Zem Sparak. Er muss erkennen, dass sein einstiger Kamerad Skyros (Solobek) die griechische Widerstandsbewegung und damit auch seine Freunde und ihn selbst an GoldTex verraten hat, indem er ihre Namen für Geld preisgab und so ihre Verhaftung und ihren Tod verantwortete. Die schmerzlichste Enthüllung ist die, dass auch Lena Farakis, seine große Liebe, von GoldTex „rekrutiert“ wurde und als „Nummer 50“ – vor ihm selbst – dem System diente, was die traumatische Frage aufwirft, ob sie ihn verraten hat oder selbst ein Opfer systemischer Manipulation wurde. Sparaks eigene Rolle als „Hund“ für GoldTex, der seine Freunde verraten hat, um Lena zu retten, und der trotz seines Hasses für das System weiter für es arbeitet, macht ihn zu einem Überlebenden, der selbst zum Verräter wurde und dessen Identität und moralischer Kompass durch diese Erfahrungen zerrissen sind.

4. Der Tod als Rückkehr: Rache, Erinnerung, Erlösung?

Am Ende erschießt Zem Solobek in dessen Wohnung – nicht aus Hunger nach Gerechtigkeit, sondern aus Schmerz. Es ist ein letzter Akt der Selbstvergewisserung, ein Racheakt, der seine Handlungsmacht nochmals aufscheinen lässt. Danach flieht er in die Droge Okios, die ihm eine ideale Vision Athens vorgaukelt – ein Athen ohne Elend, ohne Gewalt, ohne GoldTex.

Man kann nicht sicher sagen, ob Zem Sparak am Ende des Romans „Chien 51“ tatsächlich stirbt. Vielmehr wird sein „Sterben“ in dem letzten Kapitel, das bezeichnenderweise den Titel „Ithaka“ trägt, als eine metaphorische oder symbolische Reise und eine Form der inneren Erlösung dargestellt. Eine Bereitschaft zu sterben ist offensichtlich, nicht aber der Tod selbst: Am Ende des Buches heißt es, Zem Sparak sei „zu Hause und er weiß, dass er jetzt nach einer langen Irrfahrt, auf der er in die Sphäre der Gewalt geraten ist, sterben kann. Er ist endlich zurück“. Diese Formulierung drückt eine Akzeptanz oder Bereitschaft zum Tod aus, eine Art inneren Frieden, nachdem er eine gewalttätige und quälende Reise hinter sich hat. Es ist kein Bericht über seinen physischen Tod, sondern über seinen mentalen und emotionalen Zustand.

Zem Sparaks letzter Akt im Roman ist es, eine große Menge der Droge Okios zu sich zu nehmen, um in die virtuelle Realität des alten Athens einzutauchen. Er tut dies, um sich von der „Menge all der Unwichtigen, der Toten und der Lebendigen, der Verstümmelten und der Nichtverstümmelten, die sich ihre Wünsche nicht erfüllen konnten“ zu befreien. In dieser virtuellen Welt findet er eine „Leichtigkeit“, die er lange nicht mehr gespürt hat, und ist bereit, alles andere hinter sich zu lassen. Er möchte, dass „alles s’efface“ (alles verblasst). Es ist eine Flucht in eine „Geisterstadt“, wo er sich „zu Hause“ fühlt und von seinen Erinnerungen, Ängsten und Wunden befreit ist.

Der Titel des letzten Kapitels „Ithaka“ ist eine Anspielung auf die Heimkehr des Odysseus in der griechischen Mythologie. Dies symbolisiert Zems eigene lange und schmerzhafte „Irrfahrt“ und seine Ankunft an einem Ort des inneren Friedens, auch wenn dieser Ort nur in einer Droge-induzierten Vision existiert. Seine Erinnerungen an Griechenland, die ihn zuvor geplagt haben, werden durch Okios kontrolliert, sodass er „die Intensität der ersten Male“ wiederfindet und sich von der „Parasitierung“ seiner Ängste befreit. Vor diesem letzten Schritt vertraut Zem Salia seine gesamte schmerzhafte Vergangenheit an, einschließlich seiner Trauer, seines Verrats in Griechenland und seiner Rolle als „Hüter der Vergangenheit“. Dieser Akt des Loslassens und der Übertragung seiner Last auf Salia ermöglicht ihm seine eigene Form der „Erlösung“. Salia nimmt alles auf und „kann wieder Sorge für diejenigen tragen, die sie umgeben“.

Der Roman stellt Chien 51 nicht den physischen Tod dar, aber Zem Sparak als jemanden, der durch seine Erfahrungen eine tiefgreifende Transformation durchlaufen und am Ende einen Zustand der Resignation und des Friedens erreicht hat, der es ihm ermöglicht, die Last seiner Vergangenheit abzulegen und „sterben zu können“ – im Sinne eines Abschlusses seines Leidenswegs und einer Rückkehr zu einem (virtuellen) Zuhause.

III. Salia Malberg: Die Andere, die bleibt

Salia Malberg ist nicht die klassische zweite Hauptfigur – und doch wird sie zur Trägerin des Gedächtnisses. Sie stammt aus Zone 2, ist leistungsbereit, loyal, systemnah. Ihr Vater starb in Zone 3, was sie verdrängt hatte. Die Begegnung mit Zem und die Konfrontation mit der Wahrheit ändern alles. Im Zuge der Ermittlung erfährt sie von der Wahrheit des RealTests – und wird schließlich selbst zum Opfer: Sie wird von Barsok gefoltert, mit der Bastonade gebrochen. Die Gewalt ist nicht nur körperlich, sondern existenziell. Sie sieht ein, dass das System, dem sie diente, auf Lüge und Ausbeutung basiert. Am Ende ist sie es, die Zem das Leben rettet – zu spät. Sie wird von ihm mit seinen Erinnerungen „beschenkt“ – oder belastet. Sie ist Zeugin, Überlebende, dann auch Erzählerin. Ob sie sprechen wird, bleibt offen. Aber sie trägt die Geschichte weiter – gegen das Vergessen.

Salia Malberg nimmt als Zeugin, Überlebende und potenzielle Erzählerin eine zentrale Rolle im Kampf gegen das Vergessen einnimmt. Als Zeugin wird Salia mit den Grausamkeiten des GoldTex-Systems konfrontiert. Sie lernt das „RealTest“-Programm kennen, in dem Menschen aus Zone 3 als „Versuchskaninchen für die Reichsten der Reichen“ missbraucht werden und im Falle von Komplikationen „einfach verrecken“ gelassen werden. Gleichzeitig ist Salia eine Überlebende des Systems. Ihre eigene Kindheit war von Verlust und Härte geprägt; nach dem frühen Tod ihrer Mutter und dem Verfall ihres Vaters wurde sie als Kind in ein Heim der Zone 2 verbracht und von GoldTex in ein „Schnupperprogramm“ aufgenommen. Später wird sie von Panotis, der im Auftrag Solobeks handelt, entführt und systematisch gefoltert. Ihr Gehirn wird mit „Bildern und Tönen malträtiert“, die „direkt ins Gehirn eindringen“ und „Lawinen abscheulicher Darstellungen“ von „Mord, Pornografie, Folter“ hervorrufen. Ihre Genesung ist ein langer, beschwerlicher Prozess, der „Monate oder Jahre dauern kann“, aber Sparaks Anwesenheit und seine Bereitschaft, ihre Last zu teilen, sind entscheidend für ihre langsame Erholung.

Als potenzielle Erzählerin trägt Salia die Geschichte gegen das Vergessen weiter. Sie schwört Jon Mafram, dass sie alles tun wird, um die „RealTest-Affäre“ ans Licht zu bringen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Obwohl der Ausgang des Romans offenlässt, ob sie tatsächlich eine öffentliche Stimme sein wird – ihr Heilungsprozess ist noch nicht abgeschlossen und ihre verbale Kommunikationsfähigkeit ist eingeschränkt –, positioniert sie sich im Finale als Empfängerin und Bewahrerin der traumatischen Geschichte Sparaks und Griechenlands. So wird sie zum lebendigen Archiv seiner Erinnerungen an Verrat, Verlust und das Leid Griechenlands. Ihre Fähigkeit, den „Müllstrom“ in sich zu stoppen und sich den „anderen Belangen kümmern“ zu können, während sie Sparaks tiefste Geheimnisse absorbiert, symbolisiert, dass sie die kollektive Erinnerung bewahren und auf ihre Weise gegen das Vergessen wirken kann, auch wenn sie selbst nicht spricht.

IV. Politische, ethische und anthropologische Themenkomplexe

Laurent Gaudés Chien 51 stellt nicht nur eine Dystopie im erzählerischen Gewand eines Kriminalromans dar, sondern ist in seiner Tiefe ein systematisches Gedankengebäude über Macht, Schuld, Erinnerung, Widerstand und Menschsein in einer Welt nach dem Zusammenbruch der politischen Ethik. Die ethischen und anthropologischen Problemfelder, die Gaudé entfaltet, sind nicht spekulativ-futuristisch im engeren Sinn, sondern höchst gegenwärtig: Chien 51 ist keine Prophezeiung, sondern eine Parabel – das Erzählte ist Fiktion, die Problemlagen sind real.

1. Kapitalismus als neue Religion: Transplantate, Lotterien, Loyalitäten

Est-ce que ceux qui gagnent se rendent compte qu’au-delà de leur petite victoire – qu’ils appellent destin tant les hommes ont besoin de se tenir éloignés de l’idée de hasard et de son vertige – il y a une plus grande victoire, celle de GoldTex, qui joue avec les vies, les déplace, les culbute pour que tout le monde pense que chaque jour est riche de mille possibles ?

Laurent Gaudé, Chien 51, Actes Sud, 2022. Dt. Übersetzung: dtv, 2023, Ü: Christian Kolb.

Merken die Gewinner, dass es jenseits ihres kleinen Sieges – den sie für Schicksal halten, da sie sich von der schwindelerregenden Vorstellung des Zufalls lossagen müssen – einen ungleich größeren Sieg gibt, und zwar den von GoldTex, der als Konzern mit den Leuten spielt, ihr Leben umkrempelt und auf den Kopf stellt, damit alle denken, dass jeder Tag reich an Möglichkeiten ist?

In Chien 51 ist der Kapitalismus nicht mehr bloß ein Wirtschaftssystem, sondern ein totalitärer Bezugsrahmen. GoldTex, der globale Konzern, der gleich mehreren ehemals souveränen Staaten die Kontrolle entrissen hat, fungiert als neue Form von Souverän: Eine Macht, die nicht durch demokratische Legitimation, sondern durch ökonomische Überlegenheit herrscht. Damit verschieben sich auch die Kriterien des Sozialen. Nicht mehr Recht und Gleichheit, sondern Nützlichkeit, Funktionalität und Loyalität sind entscheidend für die Bewertung des Einzelnen.

Das Eternytox-Transplantat – eine medizinische Innovation, die das Altern nahezu aufhält – wird zum heiligen Gral dieses Systems. Wer sich dieses Verfahren leisten kann, wird Teil einer neuen Unsterblichkeit, eines technischen Jenseits auf Erden. Die miraculeux von Zone 1 sind nicht einfach reich – sie sind ausgewählt, auserwählt. Das Transplantat ist Sakrament und Statussymbol zugleich, ein sakraler Code für Unangreifbarkeit. Dieser technologische Mythos wird ideologisch abgesichert durch Zeremonien des Fortschritts und des Glücks, etwa durch die „Destiny“-Lotterie, in der arme Bewohner:innen von Zone 3 mit einem „Wunder“ rechnen dürfen: der Einweisung in eine bessere Zone, scheinbare Erlösung aus dem Elend. In Wahrheit ist die Lotterie Teil des „RealTest“-Programms, das Testpersonen für medizinische Experimente rekrutiert. Die Hoffnung auf ein besseres Leben wird zum Mechanismus der Versuchsfreigabe.

So etabliert der Roman ein System, in dem der Glaube an Fortschritt und Konsum das politische Denken ersetzt. Die rituellen Wiederholungen des Systems, seine semantischen Euphemismen (z. B. „Cilarié“ statt Untertan) und die bewusste Verknüpfung von Glück, Arbeit, Belohnung und Schmerz führen zu einer neuen Biopolitik, in der selbst das Sterben funktionalisiert wird. GoldTex verwaltet nicht nur Leiber, sondern Seelen.

2. Entwurzelung und Migration

Ein zentrales Thema von Chien 51 ist das der Entwurzelung, nicht nur geographisch, sondern auch kulturell, historisch und affektiv. Die griechische Herkunft des Protagonisten Zem Sparak ist dabei nicht bloß ein erzählerisches Detail, sondern emblematisch: Griechenland, Geburtsort der Demokratie, wird im Roman zur ausgebeuteten Konzernkolonie. Ihre Bürger verlieren Staatsbürgerschaft, Rechte, Geschichte – sie werden zu „Cilariés“, zu Vertragsmenschen, zur importierten Arbeitskraft im Dienst der Konzerne.

Der Roman thematisiert Entwurzelung und Migration als eine tiefgreifende Folge der korporativen Übernahme Griechenlands durch GoldTex, die die Bevölkerung zur Flucht zwingt und ihre Identität bedroht. Die Bürger Athens drängen in einen Massenexodus, wobei die Straßen zum Hafen, Bahnhof und Flughafen „verstopft“ sind und Tausende von Menschen in aussichtsloser Hoffnung fliehen. Zem Sparak selbst wird zum „Exilanten“, einem „Staatenlosen“, dessen Heimatland ihm „für immer verschlossen“ bleibt. Er muss sich von seinem früheren Leben in Athen lossagen und versucht, jede Erinnerung an die sterbende Stadt einzubrennen. GoldTex verwaltet diese Migration durch ein hochgradig zynisches und entmenschlichendes System. Die „Transitinsel“ Kefalonia dient als „Verwaltungsgebäude“, wo die ankommenden Menschen nach Gesundheitszustand und Qualifikation sortiert werden. Hochqualifizierte werden zu „Bürgern im Festangestelltenverhältnis (BiFs)“ in Zone 2 Magnapole, während Geringqualifizierte in die verfallenen Hütten von Zone 3 deportiert werden und ahnen, dass sie „das tiefblaue Meer nie wiedersehen würden“. Die „Unqualifizierten“ wie Arbeitslose und Rentner werden entweder zu Handlangern auf den Transitinseln oder als „Deported“ erklärt, für die „keinen Ort mehr“ auf dieser Welt existiert, und auf die Fähre „Redemption 3“ in unbekannte Länder verfrachtet werden.

Zem steht exemplarisch für eine migrantische Figur der transnationalen Entindividualisierung: Sein Name ist gekürzt, seine Sprache ist standardisiert, seine Herkunft irrelevant – es zählt nur seine Funktion. Die griechische Kultur, ihre Mythen, ihre Geschichte haben keinen Platz in Magnapole. Gaudé verweist in mehreren Szenen auf die verloren gegangene Sprache, auf den Verlust des mündlichen Gedächtnisses, das einst von Mutter zu Sohn weitergegeben wurde. Was bleibt, ist ein zerfaserter Rest von Erinnerung, eine schmerzhaft leere Rückprojektion in Form von Okios-Visionen. Diese Form der Entwurzelung betrifft nicht nur Menschen wie Zem, sondern stellt eine anthropologische Struktur dar: Migration ist nicht mehr Bewegung von einem Ort zum anderen, sondern permanenter Zustand der Nicht-Zugehörigkeit. Zone 3 ist das ultimative Niemandsland – ein urbanes Lager für die, die im globalen Wettkampf keine Rolle mehr spielen. Ihre Mobilität ist nicht dynamisch, sondern erzwungen. Ihre Identität wird nicht geachtet, sondern ausgelöscht. Migration wird zum passiven Existenzmodus.

3. Gewalt, Schuld und Erinnerung

Cette ville, décidément, n’a pas de mémoire. Tout s’y perd et disparaît.

Laurent Gaudé, Chien 51, Actes Sud, 2022. Dt. Übersetzung: dtv, 2023, Ü: Christian Kolb.

Diese Stadt hat kein Gedächtnis, soviel steht fest. Alles geht verloren und verschwindet.

Trotz der technologischen Bestrebungen, den Tod zu besiegen, bleibt er eine allgegenwärtige, teils grauenvolle Realität und ein wiederkehrendes Motiv im Buch. Der Roman beginnt mit dem „Weltuntergang“, dem Zusammenbruch Griechenlands unter der Übernahme von GoldTex, und der Panik der Bürger, die spüren, dass „ihre Welt verschwinden würde“. Das Gemetzel am Hafen von Piräus durch Explosionen zeigt die Brüchigkeit des Lebens und die Leichtigkeit, mit der es ausgelöscht wird. Sparak ist wiederholt mit Toten konfrontiert und schließt einen Schwur, den Mörder von Pamouk zu finden. Der Tod wird auch als Verlust von Identität und Erinnerung thematisiert: Völker werden ihrer Herkunft beraubt, und die Erinnerung an verlorene Orte wie Athen oder Delphi droht zu verblassen. Die „Okios“-Droge ermöglicht Sparak eine Flucht in eine idealisierte Schwarz-Weiß-Vergangenheit Athens, in der die Verstorbenen „vollkommen echt“ wirken, doch selbst diese Träume können von traumatischen Erinnerungen an Gewalt und Tod überlagert werden. Salia Malberg erlebt durch Folter eine ähnliche Überflutung mit verstörenden Bildern von Tod, Pornografie und Gewalt, die ihr Bewusstsein zerreißt. Die Morde an Pamouk und Ira Cuprack sind dabei keine zufälligen Verbrechen, sondern strategische Inszenierungen, die im Rahmen eines „Politkrieges“ zwischen rivalisierenden Kandidaten instrumentalisiert werden, um Kanaka zu diskreditieren.

Zentrale Achse des Romans ist die Beziehung zwischen Gewalt und Erinnerung. Die Gewalttaten im Roman – die Morde, die Bastonade, die Auslöschung ganzer Protestbewegungen – sind nicht episodisch, sondern strukturell. Gewalt ist in diesem System nicht Ausnahme, sondern Regel. Doch was den Roman auszeichnet, ist die Art, wie er diese Gewalt psychologisch und erinnerungstechnisch rahmt. Die Bastonade-Folter, die Salia erleidet, ist dabei ein prägnantes Beispiel: Es handelt sich nicht um physische Verletzung, sondern um eine Form der sensorischen Überwältigung, die das Gedächtnis löscht, die Identität verwirrt, das „Ich“ auflöst. Was Salia danach bleibt, ist kein Bewusstsein von sich selbst, sondern ein Vakuum. Erst über die Annäherung an Zem, und durch die Übertragung seiner Erinnerungen, gewinnt sie neue Konturen.

Zem wiederum ist eine schuldgetriebene Figur: Sein ganzer Weg in Magnapole ist eine Selbstbestrafung für den Verrat an seinen früheren Genossen. Die Erinnerung daran, wie er dem GoldTex-System Informationen über das Netzwerk zuspielte, lässt ihn nicht los. Auch seine Liebe zu Léna steht im Zeichen dieser Schuld: Was als Akt der Rettung gedacht war, entpuppt sich als Selbsttäuschung – Léna war längst Teil des Systems. Zem hat verraten, um zu retten, und verloren, was er retten wollte. Dies führt ihn zur radikalen Entscheidung: Rache an Solobek und anschließender Selbstmord. In dieser Konstellation verbinden sich Schuld, Gewalt und Erinnerung zu einer tragischen Dialektik.

Gaudé arbeitet dabei mit der Idee, dass Erinnerung politisch ist – und dass das System auf Vergessen baut. Die Körper der Opfer werden entsorgt, ihre Namen gelöscht, ihre Geschichten verschwiegen. Gegen diese Form des systemischen Vergessens setzt der Roman die Handlung des Erinnerns: Zems Schwur, Salias Zeugenschaft, die Relektüre der Vergangenheit als Widerstand.

4. Hoffnung, Handlung, Hilflosigkeit

Les rues d’Athènes ressurgissent, se déployant dans son esprit avec cette même odeur de pneus brûlés. Il se laisse envahir par le souvenir de la rue, les cris des manifestants, la clameur du peuple en colère. Il se souvient de cette rage qui les animait tous.

Laurent Gaudé, Chien 51, Actes Sud, 2022. Dt. Übersetzung: dtv, 2023, Ü: Christian Kolb.

Die Straßen Athens sind wieder da, der Gestank von brennenden Reifen bringt sie zurück. Die skandierenden Demonstranten, das Gebrüll des wütenden Volkes. Er denkt an den Zorn, der alle antrieb.

Trotz all dieser düsteren Perspektiven schließt der Roman nicht mit totaler Hoffnungslosigkeit. Vielmehr formuliert er eine fragile, brüchige, verletzliche Idee von Widerstand und Würde. Es gibt keine Rebellion, keinen Systemsturz, keinen moralischen Sieg. Aber es gibt die Entscheidung des Einzelnen, nicht mitzumachen – oder zumindest, sich nicht vollständig korrumpieren zu lassen.

Zem ist in seiner Transformation zur Heimkehr bereit (was das heißt, wird der Folgeroman zeigen) – nicht aus Verzweiflung, sondern aus Überzeugung, dass in dieser Welt keine Heimat mehr möglich ist. Salia bleibt – mit dem Wissen, mit der Last, mit den Erinnerungen. Sie ist keine Heldin, sondern eine Überlebende. Aber vielleicht wird sie erzählen. Vielleicht wird sie schreiben. Vielleicht wird sie sich erinnern – und damit Zeugnis geben. In einer Welt, in der alles gelöscht wird, ist das Erinnern selbst ein Akt des Widerstands.

V. Mythisierungen: Antike und biblische Resonanzen

Ein zentrales poetologisches Moment des Romans besteht in seiner mythischen Tiefenstruktur. Gaudé verankert die Erzählung nicht nur in einer futuristischen Kulisse, sondern durchzieht sie mit archaischen, religiösen und kulturellen Motiven, die der Geschichte eine universelle Dimension verleihen. Diese Mythisierungen wirken nicht aufgesetzt, sondern strukturieren die Figuren, Szenarien und Entscheidungen der Protagonist:innen.

1. Zem als tragischer Held

Zem ist keine Science-Fiction-Figur, sondern postmoderner Ödipus oder Antigone. Seine Figur folgt dem tragischen Muster des klassischen Helden: ein Held mit moralischer Integrität, der durch eine Mischung aus Schuld, Blindheit, Täuschung und Einsicht in den Untergang getrieben wird. Wie Antigone folgt Zem einem inneren Gesetz (seinem Schwur), das ihn in Konflikt mit der bestehenden Ordnung bringt. Wie Orest nimmt er die Schuld seiner Familie (Griechenland, Léna, Skyros) auf sich und reagiert mit Gewalt.

Auch seine Bereitschaft zu sterben ist ein ritueller Rückzug aus einer Welt, die seine Existenz nicht mehr tragen kann. Dieser Moment des Drogenrausches und der imaginären Rückkehr ins Athen seiner Jugend stellt den Höhepunkt und Abschluss seiner inneren und äußeren Reise dar, eine bewusste Entscheidung zum selbstgewählten Ende, um der grausamen Realität zu entfliehen. Nach den Enthüllungen über Lenas Schicksal und den Verrat von Skyros, der seine Heimat zerstört und ihn selbst gezwungen hatte, seine Freunde zu verraten, fühlt sich Sparak zutiefst müde und gebrochen. Um dem unerträglichen Schmerz seiner Existenz zu entkommen und in eine idealisierte Vergangenheit zu flüchten, begibt er sich ein letztes Mal in den Dreamshop in RedQ. Dort bittet er Miki, den Betreiber, um eine exorbitante Menge von zehn Okios-Pillen, einer Droge, die ihm erlaubt, in eine perfekte Fantasiereise nach Athen einzutauchen. Er schluckt zunächst zwei Pillen und dann die restlichen acht, eine enorme Überdosis. Sein Ziel ist es, ein letztes Mal in das Athen seiner Jugend zurückzukehren, frei von Erinnerungen an Verrat, Leid und die Gewalt, die sein Leben bestimmt hat. Das Kapitel, das sein Ende beschreibt, trägt den Titel „Ithaka“, was eine Heimkehr nach langer Irrfahrt symbolisiert, die eine endgültige Flucht in die verlorene Heimat untermauert. Zem gibt sich dieser Halluzination hin, im Schoß einer unversehrten Vergangenheit, da er sich dort zu Hause fühlt und in Frieden sterben könnte.

2. Die Stadt als Unterwelt – Katabasis und Initiation

Gaudés Roman stellt die Megastadt Magnapol nicht als neutralen, zivilisierten Raum dar, sondern als eine umfassende Sphäre der Hölle, der Prüfung und der Läuterung, die tief in der literarischen Tradition der Katabasis verwurzelt ist. Der Held durchläuft hier einen regelrechten Abstieg in die Unterwelt, vergleichbar mit einem Abstieg in den Hades, wo er die Sphäre der Toten durchquert, um am Ende mit schmerzhafter Erkenntnis oder einer endgültigen Entscheidung wieder aufzutauchen. Zone 3, Sparaks Arbeits- und Lebensbereich, fungiert als sein persönlicher Hades. Diese verwahrlosten Straßenzüge, die Drogenmärkte, die allgegenwärtigen Leichen und die weitläufigen Deponien wie der Citizens’ Dump sind untrügliche Zeichen dieser Totensphäre. Der saure Regen und die zerfallenen Gebäude verstärken das Bild eines verfallenen, feindseligen Ortes. Hier wimmelt es von Menschen, die als „Vieh“, als „Versuchskaninchen für die Reichsten der Reichen“ oder „Schatten ihrer selbst“ behandelt werden und deren Leben als „absolut nichts wert“ angesehen wird, was die Stadt zu einer urbanen Nekropole macht.

Zem Sparaks Reise durch diese urbane Unterwelt ist ein schonungsloser Initiationsritus, der ihn an einen Punkt führt, von dem es keinen Rückweg mehr gibt. Seine Begegnung mit der Wahrheit beginnt mit dem Schwur am Leichnam Pamouks, dessen Mörder er finden will, um das Verbrechen nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Tiefere Erkenntnisse erlangt er durch die Enthüllungen Jon Maframs über das zynische „RealTest“-Programm, das Menschen aus Zone 3 als „Versuchskaninchen“ missbraucht und sie bei Komplikationen „einfach verrecken“ lässt. Besonders vernichtend sind die persönlichen Wahrheiten: Der Verrat seines einstigen Kameraden Skyros (Solobek), der die griechische Widerstandsbewegung und seine Freunde für Geld preisgab, sowie die schockierende Offenbarung, dass Lena, seine große Liebe, selbst als „Nummer 50“ vom System rekrutiert wurde – noch vor ihm. Salias brutale Folter durch Panotis auf Befehl Solobeks führt Sparak die extreme Grausamkeit des Systems und die persönlichen Kosten seines Kampfes vor Augen. Sein eigener Akt der Gewalt, die Tötung Skyros‘, ist der tragische Höhepunkt seiner Läuterung; er wird selbst zum „Mörder“, ein Spiegelbild der Gewalt, die er bekämpft, und ein endgültiger Abschied von seinem früheren, idealistischen Selbst. Zem stirbt am Ende im Drogenrausch, gefangen in seiner idealisierten Vision seines alten Athens, in seiner Flucht vor einer Realität, die zu schmerzhaft geworden ist – ein klares Zeichen dafür, dass Magnapole ein Ort ist, der Leben verzehrt und die Menschen zu Schatten ihrer selbst macht. Magnapole ist kein Ort des Lebens, sondern eine urbane Nekropole.

3. Île-guichet als Jenseitsinsel

Die „île-guichet“ (Schalterinsel), auf der Zem sein Leben beendet, wird im Roman explizit als „Antichambre de l’enfer“, also als Vorhof zur Hölle bezeichnet. Sie fungiert als letzter Ort – eine Schwelle zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits.

In der Struktur der griechischen Mythologie (Inseln der Seligen, Acheron) wie in der christlichen Tradition (Fegefeuer, Jüngstes Gericht) gibt es solche Schwellenräume. In Gaudés Text ist die Schalterinsel Gerichtsort, Übergangsort, Spiegel der Wahrheit. Hier trifft Zem seine letzte Entscheidung – nicht, weil er muss, sondern weil er sich dafür entscheidet.

4. Biblische Anspielungen: Opfer, Visionen, Errettung

Der Text ist reich an biblischen Motiven, die eine tiefere Ebene der Bedeutung hinzufügen und die dystopische Realität Magnapolis‘ unterstreichen. Die „Destiny“-Lotterie beispielsweise fungiert wie ein säkularisiertes Wahlverfahren der Auserwählung, das den Bewohnern der Zone 3 ein besseres Leben verspricht. Es wird als ein „Mirakel“ inszeniert, bei dem schwarze Limousinen, Kameras, Bodyguards und Moderatoren die „Gewinner“ abholen, um deren Leben angeblich zu verändern. Doch hinter dieser glänzenden Fassade verbirgt sich eine tödliche Illusion: Während es oberflächlich die Hoffnung auf einen Aufstieg nährt, dient es in Wirklichkeit der GoldTex-Gesellschaft, die ihre „Datenbank erweitern und ihr Produkt verbessern“ will, indem sie die „Gewinner“ aus Zone 3 als „Versuchskaninchen für die Reichsten der Reichen“ im „RealTest“-Programm missbraucht. Die „Destiny“-Lotterie reißt Familien auseinander und verwandelt Menschen in „brave kleine Soldaten“ des Systems, wobei ein Scheitern des Experiments oft den Tod bedeutet, ohne dass eine medizinische Versorgung gewährleistet wäre. Dies entpuppt sich als „Versprechen nicht gehalten“, und die „Sieger“ werden zu Opfern eines zynischen Systems.

Pamouks Körper, „von der Luftröhre bis zum Zwerchfell aufgeschnitten“, „wie ein Fisch ausgeweidet“ und „post mortem abgelegt“, erinnert an das biblische Opferlamm. Er ist das reine Opfer, das nicht um seiner selbst willen geopfert wird, sondern um ein System zu offenbaren und zu „bestrafen“. Pamouk war selbst ein „RealTest“-Opfer, dessen Implantat verschwinden sollte, um die Wahrheit zu vertuschen. Er hatte die Idee, seinen Tod zu inszenieren, um „hohe Wellen zu schlagen“ und „einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen“. Doch dieser Akt des scheinbaren Opfers führt zu keiner Reinigung oder Erlösung im biblischen Sinne; stattdessen wird die Wahrheit über seine wahre Identität als „echter Eternytox-Implantierter“ von GoldTex und Kanaka geleugnet und verschleiert. Er wird lediglich zu einer „Schachfigur“ im Machtkampf rivalisierender Kommissionen. Die Gewaltdarstellung seines Todes ist bewusst gewählt, um „die Leute zu schockieren“ und die Verantwortlichen zu „beschämen“. Doch selbst das führt nicht zu der von Pamouk beabsichtigten „Reinigung“ oder „Erlösung“ des Systems.

Zem Sparak entwickelt sich im Laufe der Handlung zu einem messianischen Agenten, jedoch ohne die typische Sendung oder Anhängerschaft. Sein Schwur, den Mörder von Pamouk zu finden, ist „kein rein beruflicher Impuls, sondern ein archaischer Akt“, ein „Pakt mit dem Toten“, der ihn aus seiner zwanzigjährigen „Gleichgültigkeit“ als „Hund“ in Zone 3 reißt. Er ist nicht primär an Gerechtigkeit im großen Stil interessiert, sondern daran, dass die Tat „nicht der Vergessenheit anheimfällt“, weil „der Tote diesen Schwur von ihm verlangt hat“. Zem stirbt nicht buchstäblich für andere, um sie zu erretten; seine „Erlösung“ liegt paradoxerweise in der „Erlösung vom Irrtum“ und einer Art innerer Katharsis. Diese „Erlösung vom Irrtum“ betrifft zunächst die Aufdeckung der Wahrheit über das „RealTest“-Programm und die politischen Machenschaften hinter den Morden an Pamouk und Ira Cuprack. Doch sie reicht tiefer: Zem muss sich seinem eigenen Verrat in Griechenland stellen, wo er, um seine große Liebe Léna Farakis zu retten, seine Kameraden an die Polizei verraten hat. Am Ende entdeckt er, dass Léna selbst vor ihm verraten wurde. Seine finale Tat, die Tötung von Skyros, des wahren Verräters, ist kein Akt der globalen Errettung, sondern ein höchst persönlicher, gewaltsamer Abschluss seines eigenen Leidenswegs. Er „tötet“, um seine Verbindung zu seiner griechischen Vergangenheit zu festigen und das „alte Blut“ in seinen Adern zu ehren. Seine letzte „Erlösung“ findet er in der Übergabe seiner schmerzhaften Erinnerungen an Salia, die diese Last übernimmt, und in der Flucht in die virtuellen Realitäten Athens durch die Droge Okios. Dies ist keine Erlösung für Magnapolis, sondern eine für ihn selbst, ein Loslösen von seiner Rolle als „Hüter der Vergangenheit“.

VI. Poetologische Dimensionen: Erzählweise, Symbolik, Stil

Laurent Gaudés Sprache in Chien 51 ist geprägt von einer ungewöhnlichen Mischung aus technischer Kälte und poetischer Gravität. Die Erzählweise folgt einer personalen Fokalisierung, in der besonders Zem Sparaks Innenleben plastisch herausgearbeitet wird. Gleichzeitig arbeitet Gaudé mit wiederkehrenden Symbolen, Motiven und rhythmischen Strukturen, die dem Text eine fast liturgische Struktur verleihen.

Die stilistischen Mittel, der Wechsel von nüchterner Beschreibung (etwa bei Polizeiarbeit, Datenbanken, Transplantaten) zu hochverdichteter Sprache (z. B. beim Schwur, beim in der Szene von Zems Vision im Rausch), erzeugen eine ästhetische Spannung, die das Leseerlebnis intensiviert. Wiederholungen – etwa von Begriffen wie „Chien“, „Zone“, „Souvenir“ – erzeugen eine refrainartige Wirkung, die an Gebetsformeln erinnert. Die Symbolik des Hundes ist dabei besonders zentral: „Chien“ ist zugleich Beleidigung und Ehrenzeichen, Zeichen der Loyalität und der Erniedrigung. Zem nimmt den Titel an, verwandelt ihn aber in ein Symbol des moralischen Widerstands. Die Stadt wiederum wird wie ein Organismus beschrieben – atmend und modulierend, fressend. Sie ist nicht neutral, sondern ein Lebewesen, das Menschen verschlingt und ausscheidet.

Insgesamt steht Chien 51 formal und stilistisch in der Tradition einer tragisch-poetischen Dystopie, die ihren Figuren keine Hoffnung auf Veränderung lässt – aber sehr wohl auf Bedeutung, Haltung und Würde.

Fazit

In Kapitel 35 des Romans, das den Titel „Delphi, der letzte Widerhall der Welt“ trägt, trifft Zem Sparak eines Morgens einen alten Mann am Archäologischen Museum in Athen, der ihm erzählt, dass er nach Delphi fährt. Zu diesem Zeitpunkt war das Gebiet um Delphi, Zentralgriechenland und Thessalien bereits an ein Subunternehmen weiterverkauft und sollte bald „nichts mehr geben. Kein Leben mehr.“. Die Bevölkerung war angewiesen, das Gebiet zu verlassen. Der alte Mann erklärt Sparak, dass seine Mutter aus Delphi stammte und er als Kind jeden Sommer dorthin fuhr. Obwohl er zunächst widerwillig dort war, fand er später seine Bestimmung im Ziegenhüten in den Tempelruinen. Er beschreibt die „gewaltige Atmosphäre“ und die „unsichtbaren Mächte“, die einen dort umschlingen. Der alte Mann stellt die rhetorische Frage: „Meinen Sie, dass man so etwas kaufen kann? Oder gar zerstören? Meinen Sie, dass sich der Mittelpunkt der Welt, das Innerste der Mysterien auslöschen lässt?“. Er betont, dass man an Sommerabenden dort den „Hauch der Unsterblichkeit auf der Haut“ spürt und dies die schönsten Momente seines Lebens waren. Trotz der Zerstörung und des Verkaufs des Landes besteht der alte Mann darauf, dass „Man darf Delphi nicht vergessen.“. Er sieht es als seine Ehre, über die „unveränderte Schönheit zu wachen, von vergangenen Zeiten durchdrungen zu sein.“. Seine Fahrt nach Delphi ist ein Akt des Trotzes und der Erinnerung an das, was GoldTex nicht zerstören kann: die kulturelle und spirituelle Essenz Griechenlands. Er fragt: „Wer sonst soll Delphi vor dem warnen, was mit der Welt los ist?“. Jahre später erinnert sich Sparak an diese Begegnung und fragt sich: „Wer wird sich einmal an Delphi erinnern? Wessen Blick wird segnen, was jeden Abend stirbt und jeden Morgen neu geboren wird?“. Dies unterstreicht die thematische Relevanz von Erinnerung, Verlust und der Frage nach der Bewahrung kultureller Identität. Die Bezüge zu Delphi in diesem Kapitel betonen die tief verwurzelte griechische Identität der Geschichte zu betonen, die Resilienz des Geistes und der Kultur gegenüber Unterdrückung und Sparaks eigene Suche nach Sinn und Erinnerung in einer verlorenen Welt. Delphi wird zu einem Symbol für das Unvergängliche und die wahre Heimat, die jenseits materieller Eroberung liegt.

Chien 51 ist ein dichter, sprachlich eigenwilliger und inhaltlich hochkomplexer Roman, der als literarischer Kommentar auf die Gegenwart gelesen werden kann. In der dystopischen Überzeichnung einer Konzernstadt wie Magnapole erkennt man bereits heute angelegte Tendenzen: die Zerstörung von Staatlichkeit durch Märkte, die Erosion von Erinnerung durch Informationskontrolle, die Ökonomisierung des Körpers durch medizinische Technologien.

Simon Sahner (für Deutschlandfunk Kultur, 19. August 2023) positioniert Hund 51 klar im Genre des literarischen Cyberpunk. Er beschreibt Cyberpunk als ein Subgenre der Science-Fiction, das in einer düsteren Zukunft spielt: Der technische Fortschritt führt zu Unterdrückung, und die menschlichen Körper sind technisch erweitert. Sein zentraler Kritikpunkt ist allerdings, dass der Roman sehr starr in den Genregrenzen bleibe und kaum kreativ darüber hinausdenke. Er sei ein „solider Genreroman“, aber es sei „schade“, da Cyberpunk eigentlich Möglichkeiten böte, das Genre aufzubrechen und aktuelle Diskurse wie Geschlechterverhältnisse und Diskriminierungsfragen aufzugreifen. Der Roman bleibe in seiner grundlegenden Struktur ein Roman der 80er-Jahre. Positiv hebt Sahner hervor, dass „Hund 51“ Probleme der realen Welt gut abbildet: Es herrscht eine anhaltende Klimakatastrophe, die Stadt wird von schweren Stürmen heimgesucht. Eine Klimakuppel soll die Stadt schützen, schützt aber nur die reichen Zonen, während die armen Zonen der Klimakatastrophe voll ausgesetzt sind.

Laurent Gaudé, Même si le monde meurt ou le tout grand voyage, 2023.
Laurent Gaudé, Même si le monde meurt ou le tout grand voyage, Actes Sud, 2023.

Christoph Vormweg (Deutschlandfunk Büchermarkt) beschreibt Laurent Gaudés Roman Hund 51 als eine Zukunftsvision, die aufzeigt, wie es enden könnte, „wenn alles so weitergeht wie bisher“. Der Reiz des Romans liegt in seiner „beunruhigenden Nähe seines Romans zum Hier und heute“. Beispiel hierfür ist, wie der Konzern GoldTex Flüchtlinge nach „Kapazitäten“ selektiert. Gaudé nutzt aktuelle Informationen und Nachrichten über Flüchtlinge, Polizeigewalt, Naturkatastrophen, Korruption und Skandale als „Indizien für die Gefährdung unserer Welt“ und rechnet sie in seinem Roman zu einem Szenario hoch, das davon ausgeht, es könne nur schlimmer werden. Vormweg hebt hervor, dass Gaudés Stärke der „gespaltene Held“ sei. Die drogengeleiteten Rückstürze Sparaks ins Gestern zeigen, dass er in der Zeit des Widerstands gegen den Ausverkauf Griechenlands Schuld auf sich geladen hat, auch durch den Verrat seiner Freunde. Dies füge dem Roman eine wichtige zweite Ebene hinzu. Gaudé kombiniere einen „brisanten, komplex gebauten, fintenreichen Plot, der Zukunftsängste schürt“ mit einer „leicht lesbaren, dialogreichen Prosa voller Rhythmuswechsel“.

Laurent Gaudé, Zem, Actes Sud, 2025.
Laurent Gaudé, Zem, Actes Sud, 2025.

Zem Sparak ist in dieser Welt keine Heldengestalt im klassischen Sinne. Er ist ein gebrochener Mensch, der nicht erlöst, sondern sich selbst erlöst. Durch seinen letzten Akt – die Vision im Rausch auf der Schalterinsel – scheint er ein Zeichen gegen das Vergessen, gegen das System zu setzen, letztlich gegen die absolute Macht der Lüge, man könnte es gar als Suizid lesen. Salia Malberg bleibt zurück, mit dem Wissen und mit der Erinnerung. Vielleicht wird sie weiterleben und alles aufschreiben. Aber im Moment ihres Nachdenkens, in dem sie auf Zems Vergangenheit blickt, liegt die Möglichkeit eines anderen Anfangs.

In Laurent Gaudés Stück Même si le monde meurt (2023) wird auf andere Weise dystopisch der Weltuntergang als eine von Wissenschaftlern angekündigte, konkrete Katastrophe thematisiert, die tiefgreifende Auswirkungen auf die menschliche Psyche und Gesellschaft hat. Der Weltuntergang wird von fünf Physik-Nobelpreisträgern auf den 17. August um 17:58 Uhr genau datiert. Diese exakte Vorhersage führt zu einem „Zeitschnitt“, in dem das Leben der Menschen unterbrochen wird und eine planetare Nachricht die Welt in wenigen Sekunden verhüllt. Bevor die genaue Zeit bekannt wird, spürt die Welt bereits ein tiefes Grollen und Knistern, wie ein Schiff unter Wasserdruck, und etwas „bricht“, das alles verändern wird. Dieses „erste Geräusch“ wird als ein Stoß beschrieben, den die Menschen in ihren Körpern und in der Luftvibration spüren. Die Unsicherheit und das Ausbleiben beruhigender Stimmen von Führungspersönlichkeiten und Wissenschaftlern führen zu einem Zustand der Lähmung und ständigen Wiederholung der gleichen Nachrichten. Viele Menschen sind fassungslos und verfallen in Angst und Furcht. Sie leiden unter Schlaflosigkeit und wollen die letzten Sekunden ihres Lebens intensiv nutzen. Die angekündigte Katastrophe tritt nicht ein. Dies führt zunächst zu großem Aufatmen und Feiern. Doch die Wissenschaftler enthüllen bald, dass der Erdkern seine Rotation verlangsamt, zum Stillstand gekommen ist und sich nun in die entgegengesetzte Richtung zu drehen beginnt. Diese Umkehrung des Erdkerns hat schwerwiegende Folgen. Für den „Pressé de vivre“ bedeutet sie, dass er in rasanter Geschwindigkeit altert und nur eine sehr kurze Lebensspanne haben wird. Das Konzept der Zeit wird verdreht, ein Sohn wird schneller alt als seine Mutter. Diese neue Realität der Beschleunigung und des Verlusts unterscheidet sich von der ursprünglich erwarteten Zerstörung, hinterlässt aber dennoch eine große Traurigkeit und Verwirrung, insbesondere bei denen, die von den neuen Regeln des „verdrehten Zeitzyklus“ betroffen sind. Insgesamt wird der Weltuntergang in Même si le monde meurt nicht nur als äußeres, katastrophales Ereignis dargestellt, sondern vor allem als eine psychologische und existentielle Zerreißprobe, die die tiefsten Ängste, Wünsche und die wahre Natur der Menschheit offenbart, sowohl im Angesicht des scheinbaren Endes als auch in den unerwarteten Nachwirkungen.

Der Verlag Actes Sud kündigt für die Rentrée littéraire 2025 einen Folgeroman zum Verkaufserfolg Chien 51 an, mit dem Titel Zem, der die Geschichte von Zem Sparak fortsetzt (er ist also nicht gestorben!) und tiefere Einblicke in die dystopische Welt von GoldTex und ihre soziologischen Implikationen bietet: „Zurück auf den Straßen von Magnapole beschützt Zem Sparak, der ehemalige degradierte Polizist aus Zone 3 – der „Hund“ mit der Nummer 51 – nun Barsok, den Mann, der versprach, die Klassenunterschiede zu beseitigen und die Stadt wieder zu vereinen. Als der Tag, der den Fortschritt der Grand Travaux feiern sollte, näher rückt und alle Kameras auf den Hafen gerichtet sind, wo ein Frachter zur Eisbergjagd einläuft, offenbart ein Container eine grausame Entdeckung: Fünf anonyme Leichen, nebeneinander liegend, tragen die Spuren grausamen Leidens. Dies ist eine Gelegenheit für Zem, die leitende Inspektorin Salia Malberg zu treffen. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, was das GoldTex-Konsortium verbirgt: In Magnapole, wie anderswo auch, scheint der Wohlstand einiger auf dem Leben Tausender anderer zu beruhen … Dieser neue Roman von Laurent Gaudé hält unseren konsumorientierten Gesellschaften im Zusammenbruch den Spiegel vor. Doch er birgt auch die Idee eines Anderswo, eines Zufluchtsortes im Angesicht der Katastrophe, genannt Widerstand.“


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