Nackte Realität: zur Neuausgabe des frühen Claude Simon

Claude Simons Roman „La corde raide“ (1947) ist ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Reflexionen, die vom Bad im Meer mit der jungen Véra über Kindheitserinnerungen und Kriegserlebnisse bis hin zu kunsttheoretischen Betrachtungen reichen. Das „straff gespannte Seil“ im Titel steht für eine heikle Balance zwischen Vitalität und Todesbewusstsein, zwischen chaotischer Lebenserfahrung und deren künstlerischer Formung. Die 2025 von den Éditions de Minuit in einem Band mit „Le tricheur“ (1945) neu herausgegebenen Frühwerke des Autors, präsentiert von Mireille Calle-Gruber, waren lange vergriffen, da Simon ihre Wiederauflage zu Lebzeiten nicht wünschte. Calle-Gruber deutet die Texte als poetologisches Laboratorium, in dem bereits Montage, Fragmentierung, Simultaneität der Zeiten und Vorrang der Sinneswahrnehmung vor Handlung erkennbar sind – Techniken, die sein späteres Werk prägen. Die Neuauflage schließt eine Lücke in der Werkgeschichte, indem sie diesen Moment der literarischen Entwicklung wieder zugänglich macht (beide Texte fehlen in der Pléiade-Ausgabe). – Der Artikel interpretiert „La corde raide“ als nicht-lineare Erzählung, als assoziatives Netz von Szenen und Leitmotiven, die durch semantische Felder wie Wasser, Licht, Vegetation, Körper und Bewegung verknüpft sind. Kriegserfahrungen werden nicht heroisch, sondern als chaotische, körperlich-sensorische Realität geschildert; Kindheitsszenen dienen als Ursprungsschicht der Wahrnehmung und Kontrastfolie zur existenziellen Gegenwart. Das Spannungsverhältnis von Schein und Realität ist zentral: Simon kritisiert „Fälschung“ in Kunst und Gesellschaft und sucht eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, wobei Cézanne als positives Gegenmodell zur akademischen Malerei gilt. Architektur, Farb- und Lichtgestaltung werden wie in der Malerei eingesetzt, um Erinnerung und Wahrnehmung zu strukturieren. Insgesamt wird „La corde raide“ als frühe, aber bereits konsequente Erprobung einer Poetik verstanden, die Wahrnehmung, Erinnerung und Form auf einem „Drahtseil“ zwischen Chaos und Struktur balanciert.

Choreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.

Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.

Walzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl

Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.

Poetiken der Kindheit: Annie Ernaux

Annie Ernaux‘ Poetik der Kindheit ist eine sich entwickelnde, zentrale Dimension ihres Werks, die persönliche Erinnerung untrennbar mit kollektiven, sozialen und historischen Dimensionen verknüpft. Ihre Kindheit im elterlichen Café-Lebensmittelgeschäft in Yvetot prägte ein tiefes Gefühl des „Dazwischenseins“ und der „Zerrissenheit“ – entstanden durch fehlende Privatsphäre, frühe Konfrontation mit Armut und sozialen Unterschieden, die sich in ihrer Privatschulzeit verstärkten und einen Bruch mit dem Herkunftsmilieu bewirkten. Anstatt eine lineare, traditionelle Erzählung der Kindheit zu präsentieren, zerlegt Ernaux ihre Erinnerungen, analysiert die prägenden Einflüsse von Sprache, sozialer Herkunft, Geschlechterrollen und kulturellen Normen und beleuchtet, wie diese Faktoren ihre Identität als Kind und junge Frau formten. Sie ist bemüht, die „unsagbare Szene“ ihrer Kindheit aufzulösen und sie in die Allgemeinheit von Gesetzen und Sprache einzubetten, oft indem sie sich selbst als „Ethnologin ihrer selbst“ präsentiert. Ihre Kindheitsdarstellungen sind daher keine idealisierten oder nostalgischen Rückblicke, sondern scharfe, oft schmerzhafte Untersuchungen, die die Ambivalenz und die sozialen Spannungen ihrer Herkunft offenlegen.

Zum Gedächtnis: Pierre Nora (1931–2025)

Am 2. Juni 2025 ist der bedeutende französische Historiker Pierre Nora im Alter von 93 Jahren in Paris gestorben. Als Herausgeber der monumentalen siebenteiligen Werkreihe „Les Lieux de mémoire“ (1984–1993) prägte er entscheidend das Verständnis der nationalen Erinnerungskultur und trug maßgeblich zur Reflexion über die französische Identität bei. Geboren 1931 in Paris, entkam Pierre Nora als Kind der Verfolgung durch die Gestapo. Diese frühe Erfahrung prägte sein Denken über Geschichte, Gedächtnis und Nation tiefgreifend. In zwei Büchern aus den letzten Jahren legte Nora Memoiren vor, „Jeunesse“ (2022) und „Une étrange obstination“ (2023), um frei über sein Leben als Verleger und Historiker zu berichten und insbesondere seinen Werdegang nachzuzeichnen.

Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère

Emmanuel Carrère beschreibt Jahrzehnte nach der Publikation seines Buchs „Le Détroit de Behring“ (1986, dt. „Kleopatras Nase: kleine Geschichte der Uchronie“, 1993.) in seiner Wiederveröffentlichung von 2025, „Uchronie“, mit eigenem Vorwort, seine Bewegung als eine von der Imagination zur Akzeptanz, vom Spiel zur Verantwortung, vom uchronischen Möglichkeitsüberschuss zur gelebten Realität. Die Uchronie bei Carrère ist nicht nur Gattungsbezeichnung, sondern auch ein poetologischer Kommentar: Der Text selbst ist eine Uchronie, reflektiert aber zugleich, was eine Uchronie leisten kann – und wo ihre Grenzen liegen, etwa in seinen Büchern „La Moustache“ oder „Le Royaume“.

Schiff aus offenem Meer: Philippe Sollers

Philippe Sollers ist am 6. Mai 2023 in Paris gestorben, mit 86 Jahren. Die ersten Todesmeldungen in Deutschland beziehen sich weitgehend nur auf „Femmes“, ein Buch, mit dem der Autor und Literaturtheoretiker 1983 eine zugänglichere Form des Schreibens gefunden hatte. Bücher des 21. Jahrhunderts bleiben zu entdecken: „Passion fixe“ (2000), „Un amour américain“ (Mille et une nuits, 2001), „L’Étoile des amants“ (2002), „Une vie divine“ (2005), „Un vrai roman : mémoires“ (Plon, 2007), „Les Voyageurs du temps“ (2009), „Trésor d’amour“ (2011), „L’Éclaircie“ (2012), „Médium“ (2013), „L’École du mystère“ (2015), „Mouvement“ (2016), „Beauté“ (2017), „Centre“ (2018), „Le Nouveau“ (2019), „Désir“ (2020), „Légende“ (2021), „Graal“ (2022).

Die Öffnung der Höhle: Pierre Michon

Nach einem Vierteljahrhundert veröffentlicht Pierre Michon auf Basis des viel gelobten Textes „La Grande Beune“ 2023 nun ein Diptychon, den Roman „Les deux Beune“, mit einem zweiten Teil des obsessiven Begehrens eines jungen Lehrers in einer Welt vorzeitlicher Höhlen der Dordogne.

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