Zum Gedächtnis: Pierre Nora (1931–2025)

Am 2. Juni 2025 ist der bedeutende französische Historiker Pierre Nora im Alter von 93 Jahren in Paris gestorben. Als Herausgeber der monumentalen siebenteiligen Werkreihe „Les Lieux de mémoire“ (1984–1993) prägte er entscheidend das Verständnis der nationalen Erinnerungskultur und trug maßgeblich zur Reflexion über die französische Identität bei. Geboren 1931 in Paris, entkam Pierre Nora als Kind der Verfolgung durch die Gestapo. Diese frühe Erfahrung prägte sein Denken über Geschichte, Gedächtnis und Nation tiefgreifend. In zwei Büchern aus den letzten Jahren legte Nora Memoiren vor, „Jeunesse“ (2022) und „Une étrange obstination“ (2023), um frei über sein Leben als Verleger und Historiker zu berichten und insbesondere seinen Werdegang nachzuzeichnen.

Anthropologie der Angst: Éric Chauvier

Die Wissensbezüge des Buches sind tief in Chauviers anthropologischem Hintergrund verwurzelt, werden aber stets literarisch transformiert. Das gesamte Narrativ wird von einer zentralen, anthropologischen These getragen: Der Motor der Geschichte der Menschheit ist die Todesangst. Die Zivilisation ist für Chauvier ein stets gescheiterter, immer wieder neu begonnener Versuch, die Todesangst zu beschwören oder zu bannen. Diese Grundprämisse durchzieht das Buch wie ein Leitmotiv und liefert den Deutungsrahmen für die gesamte menschliche Entwicklung. Éric Chauviers „Un lac inconnu“ (2025), bei den Editions Allia erschienen, präsentiert sich dem Leser als ein Werk von geringem Umfang – gerade mal hundert Seiten stark – dessen Ambition und intellektuelle Tiefe jedoch weit über diese physische Größe hinausreicht. Der Autor, der sowohl als Anthropologe als auch als Schriftsteller tätig ist, verbindet in diesem Text wissenschaftliche Analyse mit literarischer Form. Das Buch ist kein traditioneller Essay, sondern, wie Chauvier selbst es nennt, eine „poetische Metaerzählung“ („métarécit poétique“). Dieser hybride Ansatz ermöglicht eine longue durée literarischer Untersuchung von Menschheitsgeschichte, ihrer Triebkräfte und ihrer letztendlichen Entwicklungsrichtung. Chauviers Buchvorhaben ist ein faszinierendes Beispiel für die Überschreitung disziplinärer Grenzen und die Nutzung literarischer Mittel zur Darstellung komplexer anthropologischer Thesen.

Trump, Musk, Putin: politische Farce bei Philippe Claudel

„Wanted“ (2025) von Philippe Claudel ist eine politische Satire, die zeitgenössische Personen und Machthaber wie Elon Musk, Donald Trump und Wladimir Putin in einer extrem überzeichneten Fabel inszeniert. Der Roman beginnt mit Musks absurd übersteigerter Ankündigung, ein Kopfgeld auf Putin auszusetzen, um das reale politische Spektakel der Gegenwart zu übertreffen und dadurch zu entlarven. Claudel nutzt dabei einen direkten, burlesken und komisch-tragischen Stil, der z.B. Elemente des Westerns aufgreift, um die Akteure als narzisstische „Clowns“ und „Fous“ darzustellen, die alle diplomatischen Usancen sprengen. Unter der Oberfläche von Klamauk und Parodie verbirgt sich eine scharfe Kritik am Einfluss des Geldes auf die Politik, der Erosion von Moral und Dialog in einer Ära der „wild diplomacy“ und der zunehmenden Verbreitung von Ignoranz und Dummheit. Aus einer spezifisch französischen Perspektive, die das Eindringen dieser Figuren in den Alltag empfindet, bietet der Roman eine dystopische Sicht auf eine Welt, in der Fiktion und Realität ununterscheidbar werden und die Macht des Kapitals über Leben und Tod entscheidet. Philippe Claudel, der als Präsident der Académie Goncourt eine wichtige Stimme im französischen Literaturbetrieb ist, setzt Humor als „Waffe“ ein, um dem „allgemeinen Durcheinander“ der Welt entgegenzutreten und den Leser zum Lachen statt zum Verzweifeln einzuladen. Ein Kernthema der Satire ist die Aufhebung der Grenze zwischen bizarrer Realität und plausibler Fiktion, die zeigt, wie Wahnsinn zur glaubwürdigen Realität werden kann. Unter der satirischen Oberfläche transportiert der Roman eine düstere und beunruhigende Botschaft über das kollektive Versagen, das solchen Figuren an die Macht verholfen hat, und die Gefahr einer Welt, die von „cinglés“ (Verrückten) beherrscht wird. Die knappe Form des Romans (ca. 140 Seiten), der begrenzte Personenkreis und die lineare Erzählweise unterstreichen die Direktheit des Angriffs auf die dargestellten Machtfiguren.

Schnitt ins Fleisch: Claire Berest über den Prozess Gisèle Pelicot

Claire Berests „La Chair des autres“ (2025) geht aus ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Dominique Pelicot im Herbst 2024 hervor, den sie zunächst als Reporterin begleitete. Der Ehemann hat über Jahre hinweg Männer in sein Haus eingeladen, um seine mit Medikamenten sedierte Ehefrau, Gisèle Pelicot, ohne deren Wissen sexuell zu missbrauchen. Die Autorin verbindet juristische Protokollierung mit literarischer und philosophischer Reflexion und stellt grundlegende Fragen nach dem Wesen des Bösen, nach der Möglichkeit von Zeugenschaft und nach den kulturellen Voraussetzungen sexueller Gewalt. Dabei bezieht sie sich auf Theoretikerinnen wie Camille Froidevaux-Metterie und Simone Weil, ebenso wie auf Hannah Arendts Konzept der „Banalität des Bösen“ und Roland Barthes‘ Analyse des fait divers. Ein zentraler Vergleich gilt der Leerstelle des Bildes bei KZ-Überlebenden, denen Berest das „wiederhergestellte Bild“ der Vergewaltigungsvideos gegenüberstellt – als Medium der Anerkennung und Sichtbarmachung. Der Text ist keine lineare Reportage, sondern eine vielschichtige Untersuchung darüber, wie Recht, Körper und Sprache in einem kulturellen Kontext verhandelt werden, in dem das Bewusstsein für den Anderen erschreckend lückenhaft erscheint.

Transgression bei Guillaume Lebrun: Jeanne d’Arc und Héliogabale

Guillaume Lebruns Romane „Fantaisies guérillères“ (2022) und „Ravagés de splendeur“ (2025) erzählen Geschichte als Produkt von Fiktion, Macht und Inszenierung. Der Artikel analysiert, wie Lebrun Jeanne d’Arc zur feministischen Medienfigur umcodiert und den römischen Kaiser Héliogabale als transidente Mystikerin der Dekadenz stilisiert. Mittelalter und römische Antike dienen als ästhetischer und ideologischer Resonanzraum für Fragen von Identität und Fiktion: In „Fantaisies guérillères“ wird Jeanne von einer Frauenclique erfunden und strategisch in Szene gesetzt als Symbol weiblicher Gegenmacht. In „Ravagés de splendeur“ führt die Überschreitung in Anlehnung an Antonin Artauds „Héliogabale“ in einen brutalen Tod, dieser Tod markiert die Unvereinbarkeit von Héliogabales Existenz mit einer Ordnung, die das Andere auslöschen muss. Lebrun versteht Literatur als Affektmaschine und Störinstanz – seine Sprache will nicht abbilden, sondern destabilisieren und befreien, in diesen queeren, mythopoetischen Transgressionen.

Postkolonialer Pikaroroman: Zied Bakir

„La naturalisation“ ist ein Roman über den Akt der Einbürgerung, der für den Erzähler nicht den Eintritt in die nationale Gemeinschaft Frankreichs bedeutet, er legt deren groteske Kulissen frei. Elyas Z’Beybi, der Ich-Erzähler des Textes, berichtet in einem dichten, episch-atmenden, satirisch-ernsten Ton von seinem Weg aus einem tunesischen Dorf nach Paris, von seiner Kindheit im Schatten des autoritären Regimes Bourguibas, von gescheiterten Bildungsprojekten, sexueller Frustration, dem Versuch, ein Dichter zu werden, und seinem allmählichen Abrutschen in die Prekarität. Der vorliegende Artikel versteht den Text als Geschichte einer scheiternden Akkulturation und als Reaktivierung und Transformation eines literarischen Modells: des Pikaro, jenes illusionslosen Erzählers von unten, der sich durch eine fragmentierte Welt laviert, ohne je heimisch zu werden. Der Pikaro hat sich als äußerst anschlussfähig für postkoloniale, migrantische Erzählungen erwiesen. „La naturalisation“ verbindet die Elemente dieses Modells mit einer radikalen Gegenwartsanalyse: Der moderne Pikaro trägt ein Smartphone in der Tasche und rezitiert dennoch Victor Hugo. Statt in die französische Gesellschaft aufgenommen zu werden, erfährt der Erzähler immer wieder Ausschluss, Entfremdung und symbolische Erniedrigung. Seine Erzählung ist weder eine klassische Erfolgsgeschichte noch ein lineares Bildungsnarrativ. Vielmehr folgt sie den Umwegen, Sprüngen und Umständen eines postkolonialen Schelms, eines Pikaros in der Migrationsgesellschaft.

Poetiken der Kindheit: Anouk Grinberg, Respect (2025)

Am 13. Mai 2025 wurde Gérard Depardieu vom Pariser Strafgericht wegen sexueller Übergriffe auf zwei Frauen während eines Filmdrehs im Sommer 2021 zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem wird er in das Register für Sexualstraftäter aufgenommen. Die Lektüre von Anouk Grinbergs Buch „Respect“ ist von diesem Prozess nicht zu lösen, die Schauspielerin hat sich während der Verhandlungen mehrfach öffentlich dazu geäußert. Anouk Grinbergs autobiografisches Werk „Respect“ (2025) konfrontiert Leserinnen und Leser mit einer Kindheit, die von Gewalt, Vernachlässigung und der systematischen Zerstörung des Selbst geprägt ist. Die Kindheit ist in diesem Text nicht nur Thema, sondern Ursprung und Motivationsquelle der literarischen Bewegung selbst. Grinberg geht über eine bloße Darstellung von Leid hinaus: Sie untersucht die Mechanismen des Schweigens, der Scham und des Überlebens und entwickelt daraus eine radikale Erzählform, die private Traumata in ein politisches Zeugnis verwandelt. Ausgangspunkt ihres öffentlichen Sprechens war die Unterstützung der Schauspielerin Charlotte Arnould im Verfahren gegen Gérard Depardieu, was schließlich dazu führte, dass Grinberg sich auch ihrer eigenen Geschichte stellte.

Himmlers Zuchtbefehl: Caroline de Mulder

Caroline De Mulders Roman „La pouponnière d’Himmler“ erzählt das Lebensborn-Programm des Nationalsozialismus als Schrecken einer durchideologisierten Kindheit: Kindheit wird nicht als schützenswerte Lebensphase gezeigt, sondern als Produkt eines rassistischen Zuchtprogramms – verwaltet, vermessen, umbenannt und ihrer Herkunft beraubt. Die Körper von Frauen, Kindern und Männern erscheinen nicht als Subjekte, sondern als biopolitisches Material im Dienst einer totalitären Ideologie. Die Frau wird als „Gebärmaschine“ dargestellt, deren Wert sich ausschließlich aus ihrer Reproduktionsfähigkeit für die „Rasse“ ergibt. Renée, die als junge schwangere Französin im Lebensborn-Heim entrechtet wird, Helga, die als Oberschwester zwischen Pflichterfüllung und Schuld taumelt, und Marek, der als Zwangsarbeiter entmenschlicht wird, verkörpern drei Varianten existenzieller Ausgeliefertheit an ein System, das Körper zählt, aber Leben entwertet. Gleichzeitig deutet der Roman an, dass die völlige Indienstnahme der Körper nicht gelingt: In poetischen Momenten innerer Bilder, sinnlicher Erfahrung und zwischenmenschlicher Nähe blitzen Möglichkeiten von Subjektivität auf. Die Erzählerin des Romans versucht im Rückblick, das Schweigen der Vergangenheit zu durchbrechen, und begegnet der historischen Leerstelle mit Sprache, Imagination und dokumentarischen Fragmenten. Die vielstimmige Struktur des Romans – zwischen innerem Monolog, Archivtexten und Gegenwartserzählung – spiegelt die Fragmentierung traumatisierter Kindheiten wider und macht literarisch erfahrbar, was historisch mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945 ausgelöscht werden sollte.

Poetiken der Kindheit: Marie NDiaye, Le bon Denis (2025)

Im Rahmen der autobiografischen Reihe „Traits et portraits“ des Mercure de France, die seit Jahren hybride Selbstentwürfe zwischen Bild und Text fördert, fügt NDiaye ihrer eigenen literarischen Untersuchung familiärer Konstellationen ein weiteres Kaleidoskop hinzu – diesmal im Zeichen der Vaterschaft. Marie NDiayes „Le bon Denis“ (2025) ist ein Werk von nur 136 Seiten, das sich dennoch in die autobiografische Spurensuche der Autorin einreiht – und diese weiter verkompliziert. Bereits mit ihrem „Autoportrait en vert“ (2005) hatte NDiaye in derselben Reihe das Porträt ihrer Mutter vorgelegt – ein Text, der weniger enthüllte als verwischte, der autobiografisches Erzählen nicht als Akt der Erinnerung oder als Bekenntnis darstellte, sondern als poetisch-performative Praxis, als ein Spiel mit Erscheinung, mit Verschiebung und Verunsicherung inszenierte. „Le bon Denis“ steht in dieser Tradition und steigert zugleich den poetischen Gestus des Nichtwissens und der Konstruktion im Angesicht der biografischen Leerstelle des Vaters. Der in vier Prosastücke gegliederte Band umkreist die Abwesenheit und Abgründigkeit des Vaters, der einst die Familie verließ – ohne diesen Verlust psychologisch zu erklären oder aufzulösen. Stattdessen legt NDiaye ein literarisches Kaleidoskop vor, das mit Perspektivverschiebungen, ironischem Sprachgebrauch, dem Spiel mit Fakt und Fiktion sowie intermedialen Einschüben operiert.

Poetiken der Kindheit: Jean-Baptiste Del Amo, Le Fils de l’homme (2021)

Jean-Baptiste Del Amos Roman „Le Fils de l’homme“ (Gallimard, 2021, deutsch von Karin Uttendörfer: „Der Menschensohn“, Matthes und Seitz, 2025) entwirft eine Kindheitserfahrung im Grenzbereich zwischen Trauma, Naturgewalt und archaischer Initiation. In einer Sprache von minimalistischer poetischer Verdichtung und biblischer Wucht wird geformt, deformiert und gebrochen: Die Kindheit erscheint hier nicht als Ort der Unschuld, sondern als Durchgangsstadium des Werdens, geprägt von Schweigen, Körperlichkeit und unauflöslicher Ambivalenz zwischen Nähe und Entfremdung. Im Zentrum des Romans steht das Verhältnis zwischen einem Vater und seinem Sohn – ein Verhältnis, das nicht durch Dialog oder gegenseitiges Verständnis geprägt ist, sondern durch körperliche Präsenz, Sprachlosigkeit und archaische Rituale. In einer Prosa von dichter Schönheit und unerbittlicher Genauigkeit erkundet Del Amo die Dynamik zwischen einem Mann, der aus der Geschichte gefallen zu sein scheint, und einem Kind, das in dieser Geschichte aufwächst, ohne sie begreifen oder benennen zu können.

Poetiken der Kindheit: Maria Pourchet, Champion (2015)

Maria Pourchets Roman „Champion“ (Gallimard 2015, folio 2019) ist eine wütende Kindheitserzählung in Monologform, eine Geschichte über Gewalt, Einsamkeit – und über die heilende, wenn auch ambivalente Macht der Imagination. Erzählt wird aus der Perspektive des fünfzehnjährigen Fabien Bréckard, der sich in einer Art psychiatrischem Schreibauftrag rückblickend an ein zentrales Jahr seiner Kindheit erinnert. Das Ergebnis ist ein Text, der weniger einen psychologischen Fall als vielmehr eine literarische Poetik der Kindheit vorführt: Kindheit nicht als idyllischer Ursprung, sondern als sprachlich gebrochene Erfahrung von Ausgrenzung, Gewalt und Einsamkeit – und zugleich als Ort poetischer Schöpfung. Die Literatur ist kein Ornament, sondern das Medium, in dem das Kind Subjekt wird.

Poetiken der Kindheit: Marouane Bakhti, Comment sortir du monde (2023)

Marouane Bakhtis „Comment sortir du monde“ (2023) erzählt den Versuch eines jungen Mannes mit migrantischem Hintergrund, sich durch Erinnerung, Sprache und Spiritualität aus familiärer Gewalt, kultureller Entfremdung und innerer Zersplitterung zu befreien – nicht um die Welt zu verlassen, sondern um in ihr einen eigenen, verletzlichen und zugleich standhaften Ort des Daseins zu schaffen. Dies ist ein Selbstermächtigungstext, der in poetisch verdichteten Kapiteln die Kindheit, Jugend und frühe Selbstfindung eines queeren Ich-Erzählers mit französisch-arabischem Hintergrund schildert. Hierbei entwickelt er eine Poetik der Kindheit, in der Erinnerung nicht retrospektiv geordnet, sondern als sinnlich-fragiles Erleben rekonstruiert wird. Der Erzähler schreibt aus der Perspektive des verletzten, staunenden Kindes, dessen Wahrnehmung von Natur, Sprache und Körperlichkeit zugleich magisch und bedroht ist. Die fragmentarische Form, durchsetzt mit Bildern, Gerüchen, Geräuschen und poetischen Assoziationen, spiegelt die Zerrissenheit und Offenheit des kindlichen Bewusstseins. Kindheit erscheint dabei nicht als verlorene Unschuld, sondern als Ursprung von Differenz, von Scham, Begehren und Sprachlosigkeit – aber auch als Quelle einer Widerstandskraft, die sich dem Vergessen widersetzt. Der Roman macht spürbar, dass Schreiben hier nicht nur Erinnern ist, sondern ein behutsames Wiedererschaffen jener inneren Welt, die „aus der Welt“ gefallen war.

Entwicklung im Negativ: Audrey Jarre

Audrey Jarres Debütroman „Les négatifs“ (2025) ist nicht nur ein Großstadtroman und eine Erkundung weiblicher Subjektivität, sondern zugleich ein Beitrag zur gegenwärtigen Literatur über das Sehen, Gesehenwerden und die Rolle der Bilder. Die fotografische Metaphorik durchzieht den gesamten Roman. Bereits im Motto – einem Zitat aus Roland Barthes‘ „La Chambre claire“ über die Fotografie als „micro-expérience de la mort“ – deutet Jarre an, dass ihr Text in engem Dialog mit der Bildtheorie steht. Die Fotografie wird nicht nur thematisch verhandelt, sondern strukturell implementiert. Erzählt wird die Geschichte der jungen Französin Alice, die ein Auslandspraktikum in New York absolviert und dort in eine intensive und zunehmend toxische Beziehung mit dem Fotografiestudenten Nathan gerät. Das narrative Grundmotiv des Romans ist das Sichtbar-Werden und zugleich das Sich-Entziehen. Zwischen dem Wunsch, sichtbar zu werden, Teil einer urbanen Bohème zu sein, und der Angst, sich selbst zu verlieren, schwankt Alice in einer Welt aus Kunst, Oberfläche, Emotionalität und Bildlichkeit. Die Beziehung zu Nathan, aber auch zu dessen charismatischer Freundin Léonore, wird zur Projektionsfläche für Alices Unsicherheiten und Sehnsüchte.

Poetiken der Kindheit: Sébastien Dulude, Amiante (2024)

Sébastien Duludes Roman „Amiante“ (2024) erzählt die Kindheit von Steve Dubois in der kanadischen Bergbaustadt Thetford Mines – einem Ort, der vom Asbestabbau ökologisch und sozial verseucht ist. In einer Welt aus Gewalt, Krankheit und schwelender Resignation findet Steve im gleichaltrigen Charlélie Poulin eine existentielle Freundschaft: gemeinsam bauen sie Baumhäuser, streifen durch verwüstete Landschaften und teilen erste, zarte Erfahrungen körperlicher Nähe. Die episodische, fragmentarische Struktur von „Amiante“ spiegelt die poetische Arbeit der Erinnerung: Dulude zeigt die Kindheit als durchdrungen von Verletzlichkeit, Schönheit, Gefahr und Sinnlichkeit. Körperliche Erfahrungen – Hitze und Staub, Verletzungen, Berührungen – prägen das Erleben und formen eine frühe Wahrnehmungsintensität, die der Ursprung poetischer Sprache wird. Der Artikel untersucht, wie Dulude die Kindheit nicht nostalgisch verklärt, sondern sie als dynamischen Ursprungsraum des Erzählens darstellt – als eine Erfahrungsform, in der die ersten Impulse von Sprache, Imagination und Verlust ineinander greifen. „Amiante“ ist ein melancholisches, kraftvolles Buch über Kindheit im Angesicht einer toxischen Welt – und über die Möglichkeit, durch Sprache das Flüchtige zu bewahren.

Poetiken der Kindheit: Nathacha Appanah, La mémoire délavée (2023)

Nathacha Appanahs autofiktionales Werk „La mémoire délavée“ (2023) ist eine vielstimmige Spurensuche nach familiärer Herkunft, kolonialer Geschichte und Identität. Im Zentrum steht die literarische Aufarbeitung der Geschichte der eigenen Vorfahren, die als indische Vertragsarbeiter (engagés) im 19. Jahrhundert auf die Insel Mauritius kamen. Der Titel verweist dabei bereits auf das Hauptmotiv: die verwaschene, verblasste Erinnerung – sowohl individuell als auch kollektiv –, die durch mündliche Überlieferung, familiäre Anekdoten, Lücken und Archive hindurch rekonstruiert werden muss. Diese Suche ist zugleich eine Rückkehr zur eigenen Kindheit: Zurück zu einer Zeit in Piton, einem mauritischen Dorf, zu einer Kindheit in einer von Schweigen, Fragmenten und unausgesprochenen Traumata geprägten Familiengeschichte. Die Kindheit erscheint in diesem Text als biographischer Ursprung, als literarischer Ausgangspunkt und als epistemologischer Horizont: Durch das kindliche Staunen, die sensorische Weltwahrnehmung, die existenziellen Fragen des Kindes, das wissen will, „woher wir kommen“, formt sich der Text zu einem poetischen Gedächtnisraum.

Poetiken der Kindheit: Mathieu Palain, Sale gosse (2019)

Mathieu Palains „Sale gosse“ (2019) erzählt vor allem zwei Geschichten: die von Marc und die von Wilfried, dem „sale gosse“ – jenem „Drecksgör“, das immer wieder durch die Maschen der Hilfe fällt. Marc, selbst gezeichnet von einer schwierigen Herkunft, versucht in seinem Beruf, eine Generation zu retten, die kaum an Rettung glaubt. Wilfried, der früh mit Gewalt, Drogen und Instabilität konfrontiert wird, sucht im Fußball eine Perspektive, die ihm immer wieder entgleitet. Palains „Sale gosse“ zeigt Kindheit in prekären sozialen Verhältnissen als Brennspiegel gesellschaftlicher Strukturen und individueller Schicksale, er gibt ein Porträt der Verwundbarkeit, der Suche nach Anerkennung und der Sprachlosigkeit am Rand der Gesellschaft. Der Roman erzählt nicht nur vom Scheitern individueller Biografien, sondern entwirft – subtil und ohne falsches Pathos – eine eigene Poetik der Kindheit.

Paris, Stadt in Ruinen: Philippe Bordas

Philippe Bordas’ Roman „Les Parrhésiens“ (2025) ist eine Hommage an die alten „Parrhésiens“ – jene Pariser, die Rabelais zufolge die Gabe der freien Rede (parrhêsia) mit dem Mut verbanden, alles auszusprechen. Bordas’ Erzähler entdeckt diese ausgestorben geglaubte Spezies in einer verlassenen Turnhalle am Boulevard Montparnasse wieder. Die Begegnung mit diesen wortgewaltigen, körperlich deformierten, aber heroisch auftretenden Männern wird zur literarischen Urszene: Ein sozialer Abstieg, ein körperlicher Aufstieg, eine poetische Wiedergeburt. In der Konfrontation mit der Pariser Marginalität inszeniert Bordas eine Poetik der „parrhêsia“ – widerständig, archaisch, körperlich, ekstatisch. Von der ersten Seite an ist Paris kein Hintergrund, sondern ein Organismus: atmend, schwitzend, alternd. Der Erzähler lebt über dem Friedhof Montparnasse, in einem „belvédère à vertiges“, und blickt auf ein Paris, das sich seiner Auflösung entgegen neigt. Diese Stadt lebt – aber anders als das klischeehafte Paris der Romane, Filme und Reiseführer. Sie lebt als corps malade, als Körper, der von Gentrifizierung, Sprachverfall und sozialer Entwurzelung befallen ist. Dennoch trägt sie Spuren eines alten Lebens, das wieder aufflackert: in den Stimmen der „Parrhésiens“, in den Bewegungen der Körper, in der Gewalt der Rede.

Poetiken der Kindheit: Maylis Adhémar, L’école est finie (2025)

„L’école est finie“ von Maylis Adhémar (Stock, 2025) erzählt die Geschichte des neunjährigen Al, der sich im südfranzösischen Dorf Cos gegen die Härte und Gängelung des Schulsystems zur Wehr setzt. Gemeinsam mit seiner Freundin Adeline gründet er die geheime „ACE“ – die Association Contre École – und erschafft sich im verlassenen Fort Barbaresque eine eigene, poetische Gegenwelt. Dort erleben die Kinder Abenteuer, pflegen Rituale, begraben einen Vogel und schreiben ihre Geschichten in die Wände – fern von den Erwartungen der Erwachsenen. Al beobachtet die Welt der Erwachsenen mit kritischem Blick: Schule, Familie, Geschichte und Politik erscheinen als Zonen der Disziplin, der Entfremdung, aber auch der Erinnerung. Der Roman ist eine poetische Hommage an die rebellische Kraft der Kindheit und die Sehnsucht nach Freiheit, Zugehörigkeit und eigener Wahrheit. Maylis Adhémars „L’école est finie“ entfaltet auf fesselnde und zugleich poetisch intensive Weise eine Kindheit in den 1990er Jahren in einem südfranzösischen Dorf. In der Gestalt des neunjährigen Protagonisten Al zeichnet die Autorin nicht nur eine Kindheit voller Abenteuer und Widerstände, sondern auch ein komplexes Bild vom Verhältnis zwischen individueller Freiheit, institutioneller Gewalt und poetischer Imagination.

Groteske Republik: Nathalie Quintane

Nathalie Quintane (geb. 1964), ist eine Poetin, Schriftstellerin und Lehrerin an einem Collège in Digne. Mit ihrem Roman „Tout va bien se passer“ (2023, dt. Alles wird gut) legt sie ein Werk vor, das auf außergewöhnliche Weise literarische Formen, historische Reflexion, postmoderne Ironie und eine scharfe politische Analyse verknüpft. Im Zentrum steht eine groteske Szene: Ein Minister, reduziert auf seinen Torso, durchquert Paris auf dem Weg zum Elysée-Palast. Begleitet wird er vom Blick der Erzählerin sowie von historischen und fiktiven Stimmen, insbesondere Lucile Franque, einer realen, aber nahezu unbekannten Malerin des 18. Jahrhunderts, die in den Roman als Zeitreisende eintritt. Der Roman führt uns durch den Elysée, nicht als Ort staatlicher Würde, sondern als Bühne absurder Repräsentationsrituale. Der Roman entfaltet ein Textgewebe aus szenischen Miniaturen, essayistischen Einschüben, surrealen Passagen, komischer Überzeichnung und dokumentarischer Akribie. Der Ministertorso steht für eine Politik, die keine Integrität mehr besitzt, sondern zur bloßen Hülse degradiert ist. Der Élysée wird zum Palast der leeren Zeichen, zur Attrappe einer Demokratie, in der nur noch symbolische Gesten zirkulieren.

Kippmomente bei Erwan Desplanques

Erwan Desplanques’ Erzählband „La part sauvage“ (2024) vereint zehn Kurzgeschichten, die in ihren feinen, psychologisch dichten Momentaufnahmen das Porträt einer Generation zeichnen, die zwischen Anpassung und Selbstverlust, zwischen ironischer Weltklugheit und innerer Müdigkeit schwankt. Allen Geschichten ist ein spezifischer struktureller und thematischer Angelpunkt gemeinsam: der Kippmoment. Es handelt sich dabei um einen Moment der Veränderung, der Konfrontation oder der Erkenntnis, der den Figuren – oft schmerzhaft, oft leise – einen anderen Blick auf sich selbst oder ihre Welt eröffnet. Aus der Summe dieser Brüche, Übergänge und Erschütterungen ergibt sich eine tiefergehende Reflexion über das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinen Beziehungen und zur Gegenwart.