Bestie Mensch: Emile Zola und Stéphanie Artarit

Sowohl Émile Zolas „La Bête humaine“ als auch Stéphanie Artarits „On ne mange pas les cannibales“ erforschen das Verhältnis zwischen dem Bestialischen und dem Menschlichen, obwohl sie dies aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunkten tun. Artarits Roman insgesamt spielt mit der Idee, wer die „Bestie“ ist. „On ne mange pas les cannibales“ (Belfond, 2025) ist eine düstere Geschichte, die die Grenzen zwischen menschlicher Bestialität und tierischer Humanität verwischt und dabei existenzielle Fragen nach Trauma, Rache, Liebe und Identität aufwirft. Der Zoo ist mehr als nur ein Schauplatz; er ist ein symbolischer Raum, in dem die menschliche Gesellschaft mit ihren Hierarchien, ihrer Gewalt, ihrem Elend und ihren Versuchen der Kontrolle abgebildet wird. Die Tiere werden zu Projektionsflächen für menschliche Ängste und Wünsche, während die „zivilisierte“ Welt außerhalb oft wilder und unbarmherziger erscheint als die „Bestien“ im Käfig. Menschliche Verhaltensweisen (Rache, Besitzgier, Gewalt) werden als „bestialisch“ und tierische Reaktionen (Schutzinstinkt, Anpassungsfähigkeit, die „Philosophie“ eines Schimpansen) als „menschlich“ darstellt. Dies gipfelt in der Figur des „Kannibalen“ Martin, der die ultimative Grenzüberschreitung verkörpert, und Rivières endgültiger Aussage, dass man „keine Kannibalen isst“, was die Frage aufwirft, ob dies eine moralische Grenze ist oder eine Anerkennung der inhärenten, nicht verdaulichen Wildheit.

Soziale Verachtung in Frankreich: Rose Lamy

Rose Lamys Buch „Ascendant beauf“ (Aszendent Spießer, Seuil, 2025) befasst sich mit der sozialen Verachtung und Klassendominanz in Frankreich, insbesondere durch die Analyse der abfälligen Figur des „Beauf“, Inbegriff des Spießertums. Der Begriff „Beauf“ ist höchstwahrscheinlich eine Kurzform von „beau-frère“ (Schwager). Er wurde 1972 vom Comiczeichner Cabu als Comicfigur erfunden. Der Begriff „Beauf“ wird als Werkzeug der Dominanz beschrieben, das von den dominierenden Klassen verwendet wird, um die populären Klassen zu stigmatisieren und zu „entmenschlichen“. Der „Beauf“ wird im Gegensatz zum „Grand Duduche“ beschrieben, einer Figur, die der Comiczeichner Cabu als sein Selbstporträt schuf. Der Duduche ist idealistisch, humanistisch, gebildet, nicht gewalttätig, offen, feministisch, antirassistisch, wählt links oder extrem links. Dies verdeutlicht die dichotome Sichtweise.

Denn es ist ernst: Omar Youssef Souleimane

Omar Youssef Souleimanes Werk ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit seiner syrischen Herkunft, den traumatischen Erfahrungen des Krieges und des Exils sowie seiner neuen Identität in Frankreich. Seine Perspektiven auf Syrien und die arabische Welt sind geprägt von einer anfänglichen Hoffnung auf Freiheit, die sich in tiefe Enttäuschung über das Scheitern der Revolution und die anhaltende Tyrannei verwandelt. Gleichzeitig entwickelt er eine tiefe Verbundenheit mit Frankreich, der Sprache und den Werten der Republik, was seinen Blick auf den Nahen Osten durch eine kritische, aber auch sehnsüchtige Linse prägt. Souleimanes literarisches Schaffen ist eine existentielle, mutige Auseinandersetzung mit der syrischen Tragödie, den Herausforderungen des Exils und der Komplexität der Identität im 21. Jahrhundert. Von seiner Befreiung vom Salafismus in „Le Petit Terroriste“ über die zerbrochenen Hoffnungen der syrischen Revolution in „Le Dernier Syrien“, die schwierige Integration in „Une chambre en exil“, bis hin zur schmerzhaften Rückkehr in das fremd gewordene Land und der intellektuellen Selbstfindung in „L’Arabe qui sourit“ bietet er einen schonungslosen und doch poetischen Blick.

Anthropologie der Angst: Éric Chauvier

Die Wissensbezüge des Buches sind tief in Chauviers anthropologischem Hintergrund verwurzelt, werden aber stets literarisch transformiert. Das gesamte Narrativ wird von einer zentralen, anthropologischen These getragen: Der Motor der Geschichte der Menschheit ist die Todesangst. Die Zivilisation ist für Chauvier ein stets gescheiterter, immer wieder neu begonnener Versuch, die Todesangst zu beschwören oder zu bannen. Diese Grundprämisse durchzieht das Buch wie ein Leitmotiv und liefert den Deutungsrahmen für die gesamte menschliche Entwicklung. Éric Chauviers „Un lac inconnu“ (2025), bei den Editions Allia erschienen, präsentiert sich dem Leser als ein Werk von geringem Umfang – gerade mal hundert Seiten stark – dessen Ambition und intellektuelle Tiefe jedoch weit über diese physische Größe hinausreicht. Der Autor, der sowohl als Anthropologe als auch als Schriftsteller tätig ist, verbindet in diesem Text wissenschaftliche Analyse mit literarischer Form. Das Buch ist kein traditioneller Essay, sondern, wie Chauvier selbst es nennt, eine „poetische Metaerzählung“ („métarécit poétique“). Dieser hybride Ansatz ermöglicht eine longue durée literarischer Untersuchung von Menschheitsgeschichte, ihrer Triebkräfte und ihrer letztendlichen Entwicklungsrichtung. Chauviers Buchvorhaben ist ein faszinierendes Beispiel für die Überschreitung disziplinärer Grenzen und die Nutzung literarischer Mittel zur Darstellung komplexer anthropologischer Thesen.

Trump, Musk, Putin: politische Farce bei Philippe Claudel

„Wanted“ (2025) von Philippe Claudel ist eine politische Satire, die zeitgenössische Personen und Machthaber wie Elon Musk, Donald Trump und Wladimir Putin in einer extrem überzeichneten Fabel inszeniert. Der Roman beginnt mit Musks absurd übersteigerter Ankündigung, ein Kopfgeld auf Putin auszusetzen, um das reale politische Spektakel der Gegenwart zu übertreffen und dadurch zu entlarven. Claudel nutzt dabei einen direkten, burlesken und komisch-tragischen Stil, der z.B. Elemente des Westerns aufgreift, um die Akteure als narzisstische „Clowns“ und „Fous“ darzustellen, die alle diplomatischen Usancen sprengen. Unter der Oberfläche von Klamauk und Parodie verbirgt sich eine scharfe Kritik am Einfluss des Geldes auf die Politik, der Erosion von Moral und Dialog in einer Ära der „wild diplomacy“ und der zunehmenden Verbreitung von Ignoranz und Dummheit. Aus einer spezifisch französischen Perspektive, die das Eindringen dieser Figuren in den Alltag empfindet, bietet der Roman eine dystopische Sicht auf eine Welt, in der Fiktion und Realität ununterscheidbar werden und die Macht des Kapitals über Leben und Tod entscheidet. Philippe Claudel, der als Präsident der Académie Goncourt eine wichtige Stimme im französischen Literaturbetrieb ist, setzt Humor als „Waffe“ ein, um dem „allgemeinen Durcheinander“ der Welt entgegenzutreten und den Leser zum Lachen statt zum Verzweifeln einzuladen. Ein Kernthema der Satire ist die Aufhebung der Grenze zwischen bizarrer Realität und plausibler Fiktion, die zeigt, wie Wahnsinn zur glaubwürdigen Realität werden kann. Unter der satirischen Oberfläche transportiert der Roman eine düstere und beunruhigende Botschaft über das kollektive Versagen, das solchen Figuren an die Macht verholfen hat, und die Gefahr einer Welt, die von „cinglés“ (Verrückten) beherrscht wird. Die knappe Form des Romans (ca. 140 Seiten), der begrenzte Personenkreis und die lineare Erzählweise unterstreichen die Direktheit des Angriffs auf die dargestellten Machtfiguren.

Schnitt ins Fleisch: Claire Berest über den Prozess Gisèle Pelicot

Claire Berests „La Chair des autres“ (2025) geht aus ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Dominique Pelicot im Herbst 2024 hervor, den sie zunächst als Reporterin begleitete. Der Ehemann hat über Jahre hinweg Männer in sein Haus eingeladen, um seine mit Medikamenten sedierte Ehefrau, Gisèle Pelicot, ohne deren Wissen sexuell zu missbrauchen. Die Autorin verbindet juristische Protokollierung mit literarischer und philosophischer Reflexion und stellt grundlegende Fragen nach dem Wesen des Bösen, nach der Möglichkeit von Zeugenschaft und nach den kulturellen Voraussetzungen sexueller Gewalt. Dabei bezieht sie sich auf Theoretikerinnen wie Camille Froidevaux-Metterie und Simone Weil, ebenso wie auf Hannah Arendts Konzept der „Banalität des Bösen“ und Roland Barthes‘ Analyse des fait divers. Ein zentraler Vergleich gilt der Leerstelle des Bildes bei KZ-Überlebenden, denen Berest das „wiederhergestellte Bild“ der Vergewaltigungsvideos gegenüberstellt – als Medium der Anerkennung und Sichtbarmachung. Der Text ist keine lineare Reportage, sondern eine vielschichtige Untersuchung darüber, wie Recht, Körper und Sprache in einem kulturellen Kontext verhandelt werden, in dem das Bewusstsein für den Anderen erschreckend lückenhaft erscheint.

Transgression bei Guillaume Lebrun: Jeanne d’Arc und Héliogabale

Guillaume Lebruns Romane „Fantaisies guérillères“ (2022) und „Ravagés de splendeur“ (2025) erzählen Geschichte als Produkt von Fiktion, Macht und Inszenierung. Der Artikel analysiert, wie Lebrun Jeanne d’Arc zur feministischen Medienfigur umcodiert und den römischen Kaiser Héliogabale als transidente Mystikerin der Dekadenz stilisiert. Mittelalter und römische Antike dienen als ästhetischer und ideologischer Resonanzraum für Fragen von Identität und Fiktion: In „Fantaisies guérillères“ wird Jeanne von einer Frauenclique erfunden und strategisch in Szene gesetzt als Symbol weiblicher Gegenmacht. In „Ravagés de splendeur“ führt die Überschreitung in Anlehnung an Antonin Artauds „Héliogabale“ in einen brutalen Tod, dieser Tod markiert die Unvereinbarkeit von Héliogabales Existenz mit einer Ordnung, die das Andere auslöschen muss. Lebrun versteht Literatur als Affektmaschine und Störinstanz – seine Sprache will nicht abbilden, sondern destabilisieren und befreien, in diesen queeren, mythopoetischen Transgressionen.

Postkolonialer Pikaroroman: Zied Bakir

„La naturalisation“ ist ein Roman über den Akt der Einbürgerung, der für den Erzähler nicht den Eintritt in die nationale Gemeinschaft Frankreichs bedeutet, er legt deren groteske Kulissen frei. Elyas Z’Beybi, der Ich-Erzähler des Textes, berichtet in einem dichten, episch-atmenden, satirisch-ernsten Ton von seinem Weg aus einem tunesischen Dorf nach Paris, von seiner Kindheit im Schatten des autoritären Regimes Bourguibas, von gescheiterten Bildungsprojekten, sexueller Frustration, dem Versuch, ein Dichter zu werden, und seinem allmählichen Abrutschen in die Prekarität. Der vorliegende Artikel versteht den Text als Geschichte einer scheiternden Akkulturation und als Reaktivierung und Transformation eines literarischen Modells: des Pikaro, jenes illusionslosen Erzählers von unten, der sich durch eine fragmentierte Welt laviert, ohne je heimisch zu werden. Der Pikaro hat sich als äußerst anschlussfähig für postkoloniale, migrantische Erzählungen erwiesen. „La naturalisation“ verbindet die Elemente dieses Modells mit einer radikalen Gegenwartsanalyse: Der moderne Pikaro trägt ein Smartphone in der Tasche und rezitiert dennoch Victor Hugo. Statt in die französische Gesellschaft aufgenommen zu werden, erfährt der Erzähler immer wieder Ausschluss, Entfremdung und symbolische Erniedrigung. Seine Erzählung ist weder eine klassische Erfolgsgeschichte noch ein lineares Bildungsnarrativ. Vielmehr folgt sie den Umwegen, Sprüngen und Umständen eines postkolonialen Schelms, eines Pikaros in der Migrationsgesellschaft.

Poetiken der Kindheit: Anouk Grinberg, Respect (2025)

Am 13. Mai 2025 wurde Gérard Depardieu vom Pariser Strafgericht wegen sexueller Übergriffe auf zwei Frauen während eines Filmdrehs im Sommer 2021 zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem wird er in das Register für Sexualstraftäter aufgenommen. Die Lektüre von Anouk Grinbergs Buch „Respect“ ist von diesem Prozess nicht zu lösen, die Schauspielerin hat sich während der Verhandlungen mehrfach öffentlich dazu geäußert. Anouk Grinbergs autobiografisches Werk „Respect“ (2025) konfrontiert Leserinnen und Leser mit einer Kindheit, die von Gewalt, Vernachlässigung und der systematischen Zerstörung des Selbst geprägt ist. Die Kindheit ist in diesem Text nicht nur Thema, sondern Ursprung und Motivationsquelle der literarischen Bewegung selbst. Grinberg geht über eine bloße Darstellung von Leid hinaus: Sie untersucht die Mechanismen des Schweigens, der Scham und des Überlebens und entwickelt daraus eine radikale Erzählform, die private Traumata in ein politisches Zeugnis verwandelt. Ausgangspunkt ihres öffentlichen Sprechens war die Unterstützung der Schauspielerin Charlotte Arnould im Verfahren gegen Gérard Depardieu, was schließlich dazu führte, dass Grinberg sich auch ihrer eigenen Geschichte stellte.

Poetiken der Kindheit: Marie NDiaye, Le bon Denis (2025)

Im Rahmen der autobiografischen Reihe „Traits et portraits“ des Mercure de France, die seit Jahren hybride Selbstentwürfe zwischen Bild und Text fördert, fügt NDiaye ihrer eigenen literarischen Untersuchung familiärer Konstellationen ein weiteres Kaleidoskop hinzu – diesmal im Zeichen der Vaterschaft. Marie NDiayes „Le bon Denis“ (2025) ist ein Werk von nur 136 Seiten, das sich dennoch in die autobiografische Spurensuche der Autorin einreiht – und diese weiter verkompliziert. Bereits mit ihrem „Autoportrait en vert“ (2005) hatte NDiaye in derselben Reihe das Porträt ihrer Mutter vorgelegt – ein Text, der weniger enthüllte als verwischte, der autobiografisches Erzählen nicht als Akt der Erinnerung oder als Bekenntnis darstellte, sondern als poetisch-performative Praxis, als ein Spiel mit Erscheinung, mit Verschiebung und Verunsicherung inszenierte. „Le bon Denis“ steht in dieser Tradition und steigert zugleich den poetischen Gestus des Nichtwissens und der Konstruktion im Angesicht der biografischen Leerstelle des Vaters. Der in vier Prosastücke gegliederte Band umkreist die Abwesenheit und Abgründigkeit des Vaters, der einst die Familie verließ – ohne diesen Verlust psychologisch zu erklären oder aufzulösen. Stattdessen legt NDiaye ein literarisches Kaleidoskop vor, das mit Perspektivverschiebungen, ironischem Sprachgebrauch, dem Spiel mit Fakt und Fiktion sowie intermedialen Einschüben operiert.

Entwicklung im Negativ: Audrey Jarre

Audrey Jarres Debütroman „Les négatifs“ (2025) ist nicht nur ein Großstadtroman und eine Erkundung weiblicher Subjektivität, sondern zugleich ein Beitrag zur gegenwärtigen Literatur über das Sehen, Gesehenwerden und die Rolle der Bilder. Die fotografische Metaphorik durchzieht den gesamten Roman. Bereits im Motto – einem Zitat aus Roland Barthes‘ „La Chambre claire“ über die Fotografie als „micro-expérience de la mort“ – deutet Jarre an, dass ihr Text in engem Dialog mit der Bildtheorie steht. Die Fotografie wird nicht nur thematisch verhandelt, sondern strukturell implementiert. Erzählt wird die Geschichte der jungen Französin Alice, die ein Auslandspraktikum in New York absolviert und dort in eine intensive und zunehmend toxische Beziehung mit dem Fotografiestudenten Nathan gerät. Das narrative Grundmotiv des Romans ist das Sichtbar-Werden und zugleich das Sich-Entziehen. Zwischen dem Wunsch, sichtbar zu werden, Teil einer urbanen Bohème zu sein, und der Angst, sich selbst zu verlieren, schwankt Alice in einer Welt aus Kunst, Oberfläche, Emotionalität und Bildlichkeit. Die Beziehung zu Nathan, aber auch zu dessen charismatischer Freundin Léonore, wird zur Projektionsfläche für Alices Unsicherheiten und Sehnsüchte.

Paris, Stadt in Ruinen: Philippe Bordas

Philippe Bordas’ Roman „Les Parrhésiens“ (2025) ist eine Hommage an die alten „Parrhésiens“ – jene Pariser, die Rabelais zufolge die Gabe der freien Rede (parrhêsia) mit dem Mut verbanden, alles auszusprechen. Bordas’ Erzähler entdeckt diese ausgestorben geglaubte Spezies in einer verlassenen Turnhalle am Boulevard Montparnasse wieder. Die Begegnung mit diesen wortgewaltigen, körperlich deformierten, aber heroisch auftretenden Männern wird zur literarischen Urszene: Ein sozialer Abstieg, ein körperlicher Aufstieg, eine poetische Wiedergeburt. In der Konfrontation mit der Pariser Marginalität inszeniert Bordas eine Poetik der „parrhêsia“ – widerständig, archaisch, körperlich, ekstatisch. Von der ersten Seite an ist Paris kein Hintergrund, sondern ein Organismus: atmend, schwitzend, alternd. Der Erzähler lebt über dem Friedhof Montparnasse, in einem „belvédère à vertiges“, und blickt auf ein Paris, das sich seiner Auflösung entgegen neigt. Diese Stadt lebt – aber anders als das klischeehafte Paris der Romane, Filme und Reiseführer. Sie lebt als corps malade, als Körper, der von Gentrifizierung, Sprachverfall und sozialer Entwurzelung befallen ist. Dennoch trägt sie Spuren eines alten Lebens, das wieder aufflackert: in den Stimmen der „Parrhésiens“, in den Bewegungen der Körper, in der Gewalt der Rede.

Poetiken der Kindheit: Maylis Adhémar, L’école est finie (2025)

„L’école est finie“ von Maylis Adhémar (Stock, 2025) erzählt die Geschichte des neunjährigen Al, der sich im südfranzösischen Dorf Cos gegen die Härte und Gängelung des Schulsystems zur Wehr setzt. Gemeinsam mit seiner Freundin Adeline gründet er die geheime „ACE“ – die Association Contre École – und erschafft sich im verlassenen Fort Barbaresque eine eigene, poetische Gegenwelt. Dort erleben die Kinder Abenteuer, pflegen Rituale, begraben einen Vogel und schreiben ihre Geschichten in die Wände – fern von den Erwartungen der Erwachsenen. Al beobachtet die Welt der Erwachsenen mit kritischem Blick: Schule, Familie, Geschichte und Politik erscheinen als Zonen der Disziplin, der Entfremdung, aber auch der Erinnerung. Der Roman ist eine poetische Hommage an die rebellische Kraft der Kindheit und die Sehnsucht nach Freiheit, Zugehörigkeit und eigener Wahrheit. Maylis Adhémars „L’école est finie“ entfaltet auf fesselnde und zugleich poetisch intensive Weise eine Kindheit in den 1990er Jahren in einem südfranzösischen Dorf. In der Gestalt des neunjährigen Protagonisten Al zeichnet die Autorin nicht nur eine Kindheit voller Abenteuer und Widerstände, sondern auch ein komplexes Bild vom Verhältnis zwischen individueller Freiheit, institutioneller Gewalt und poetischer Imagination.

Alchimie des Worts: Hugues Jallon

In „Le cours secret du monde“ (2025) widmet sich Hugues Jallon einer radikalen Revision dessen, was als „geheim“ oder „verborgen“ gilt – nicht aus esoterischem Interesse, sondern als kontrapunktische Suchbewegung gegen das hegemoniale, rationale Weltwissen. Das „Geheime“ ist bei Jallon keine fixe Kategorie, kein abgeschlossener Inhalt oder dogmatisches System. Es ist vielmehr ein Denkraum, eine Öffnung, eine Leerstelle, aus der sich alternative Formen von Geschichte, Wahrnehmung und Weltdeutung ergeben. Die Zuschreibungen an das „Geheime“ im Roman sind vielfältig und bewusst widersprüchlich. Sie zielen darauf, das Verhältnis zwischen Sichtbarkeit, Wahrheit, Wissen und Macht neu zu justieren. Mit einer Einordnung in Bezug auf seine bisherigen Romane.

Tonino Benacquista: Der letzte Verleger

Seine Verlagsfirma ist bankrott, die letzten Mittel sind verbraucht. Die Handlung setzt an einem Wendepunkt ein – dem letzten Tag vor dem Gerichtstermin zur offiziellen Liquidation. Rückblickend erzählt der Protagonist von seiner Verlagsgeschichte, von Autorinnen und Autoren, die er entdeckte oder ablehnte, von Erfolgen und Niederlagen, aber vor allem von seinem Glauben an die Kraft der Literatur. Tonino Benacquistas 2025 erschienener Roman „Tiré de faits irréels“ ist eine tiefmelancholische und zugleich ironisch gebrochene Auseinandersetzung mit der Frage, was Literatur heute noch vermag. Der Text erzählt vom Ende eines unabhängigen Literaturverlags in Paris. Benoît Clerc ist ein egomanischer Autor, der seine banalen Lebenskrisen zu Literatur verklärt und damit den Verfall der literarischen Substanz exemplarisch spiegelt. Die Figur Pierre-Antoine Réa erhält im Verlauf des Romans eine emblematische Bedeutung. Sie steht für das Ideal des wahren Schriftstellers und verkörpert in der Perspektive des Ich-Erzählers – des Verlegers Bertrand Dumas – die Hoffnung auf ein literarisches Wunder, das seine kriselnde Verlagswelt vielleicht noch retten könnte. Wie lässt sich angesichts eines beschleunigten, digitalisierten, ökonomisierten Alltags noch erzählen? Die Antworten, die der Roman gibt, sind fragil, tastend – aber gerade dadurch literarisch glaubwürdig. Der Text ist ein würdiger, stiller, nachdenklicher Beitrag zur späten Moderne, der das Erzählen als kulturellen Überrest und ethische Möglichkeit verteidigt.

Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère

Emmanuel Carrère beschreibt Jahrzehnte nach der Publikation seines Buchs „Le Détroit de Behring“ (1986, dt. „Kleopatras Nase: kleine Geschichte der Uchronie“, 1993.) in seiner Wiederveröffentlichung von 2025, „Uchronie“, mit eigenem Vorwort, seine Bewegung als eine von der Imagination zur Akzeptanz, vom Spiel zur Verantwortung, vom uchronischen Möglichkeitsüberschuss zur gelebten Realität. Die Uchronie bei Carrère ist nicht nur Gattungsbezeichnung, sondern auch ein poetologischer Kommentar: Der Text selbst ist eine Uchronie, reflektiert aber zugleich, was eine Uchronie leisten kann – und wo ihre Grenzen liegen, etwa in seinen Büchern „La Moustache“ oder „Le Royaume“.

Der Beginn des Neuen Staats: Jérôme Leroy

„La petite fasciste“ von Jérôme Leroy setzt sich mit der ideologischen Prägung, der sozialen Determination und der persönlichen Emanzipation der Protagonistin Francesca Crommelynck auseinander: Der Roman entwirft das Porträt einer jungen Frau, die in einem extrem rechten Milieu aufwächst und sich zunächst mit dessen Ideologie identifiziert, bevor sie durch persönliche Erfahrungen und Verluste zunehmend in einen kritischen Reflexionsprozess gerät. Inwieweit kann „La petite fasciste“ als Dekonstruktion extremistischer Denkmuster gelesen werden? Der Roman zeichnet ein düsteres Bild eines polarisierten Frankreichs, in dem soziale Spannungen, politische Radikalisierung und kulturelle Konflikte eskalieren. Leroy beschreibt eine Gesellschaft, die von latenter Gewalt und ideologischen Kämpfen geprägt ist. Damit reiht sich „La petite fasciste“ in das literarische Schaffen des Autors ein, der in Werken wie „Le Bloc“ ähnliche Themen behandelt.

Patrick Chamoiseau in der neuen Weltordnung

Während Patrick Chamoiseau in seinem neuesten Buch „Que peut Littérature quand elle ne peut“ (2025) sein Werk und seine Thesen einerseits bekräftigt, stellt er sie in einer Reflexion über die veränderten politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der Gegenwart zugleich neu zur Debatte. Patrick Chamoiseau bleibt vielen seiner Grundüberzeugungen treu, doch die Art und Weise, wie er die Welt betrachtet und interpretiert, hat sich deutlich verändert. Während er früher vor allem postkoloniale Fragen der Identität, der Kreolisierung und der kulturellen Hybridität in den Mittelpunkt stellte, erweitert er nun seinen Blick auf globale Herausforderungen wie Digitalisierung, algorithmische Steuerung von Wissen, ökologische Krisen und die Bedrohung durch totalisierende politische Narrative.

Der Moment der Wahrheit: Karine Tuil

Karine Tuils „La Guerre par d’autres moyens“ seziert den Zerfall von Macht, Identität und öffentlicher Wahrnehmung: Im Mittelpunkt steht Dan Lehman, ein ehemaliger Präsident Frankreichs der Linken, der nach einer Wahlniederlage in Alkoholismus und Bedeutungslosigkeit versinkt, während seine Ex-Frau Marianne Bassani in der Literatur und seine zweite Frau Hilda Müller im Filmgeschäft neue Karrieren aufbauen. Der Artikel zeigt, wie Tuil subtil Fiktion und Realität verschränkt: Mariannes Roman „À la recherche du désastre“, der als Film adaptiert wird, reflektiert Lehmans Fall und entzieht ihm neben der medialisierten Öffentlichkeit auf andere Weise die Kontrolle über seine eigene Geschichte – eine raffinierte Spiegelung der Mechanismen öffentlicher Demontage. Die Analyse betont zudem die intertextuelle Verbindung zu Philip Roths „My Life as a Man“, die jüdische Identität Lehmans und die Frage nach toxischer Männlichkeit in Politik und Kultur. Tuils Roman erscheint so als eine kluge Reflexion über die Zerstörung öffentlicher Figuren in einer mediengesteuerten Gesellschaft – ein tragikomisches Drama über Macht, Narzissmus und den Kampf um die Deutungshoheit der eigenen Existenz.

Ich will alles geschrieben haben und alles zerstören: Pierre Michon

Der Artikel verfolgt exemplarische Interpretationslinien von Pierre Michons „J’écris l’Iliade“, das Homers „Ilias“ nicht nur nacherzählt, sondern mit wuchtiger, bildgewaltiger Sprache neu erschafft, indem es epische Gewalt, mythisches Begehren und Fragmente des antiken Epos in die Zerrissenheit der Moderne überführt. In 14 relativ autonomen Episoden verdichten sich poetische Halluzination und historische Reflexion zu einer fiebrigen Auseinandersetzung mit dem Erbe des blinden Homer, während Figuren wie Achilles, Helena oder Alexander nicht als starre Mythen, sondern als lebendige Obsessionen erscheinen. Michon verbindet anthropologische Perspektiven – etwa Descolas Analogismus oder Heideggers Idee des Tempels als Wahrheitsraum – mit einer archaisch-modernen Spannung, die Schönheit und Schrecken gleichermaßen beschwört und entgrenzt. Besonders provokant sind Szenen, in denen Erotik und Gewalt, Kunst und Zerstörung in eine fiebrige Spannung geraten, etwa bei Persephones Entführung, oder wenn die abschließende Bücherverbrennung den Mythos gleichzeitig tilgt und fortschreibt. Die besondere Leistung des Buchs liegt darin, die „Ilias“ nicht als literarisches Monument zu feiern, sondern als ein unablässiges Ringen mit Sprache und Geschichte zu zeigen – eine atemlose, schmerzhafte, hypnotische Beschwörung, die das Epos neu erfindet und zugleich radikal infrage stellt.

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