Moralistik und Misstrauensgemeinschaft: Lise Charles, François de La Rochefoucauld und Aladin El-Mafaalani

Der Artikel liest Lise Charles’ Roman „Paranoïa“ (P.O.L., 2025) als gedankliches Zentrum einer doppelten Beobachtung: Er liest den Roman einerseits durch die moralistische Optik La Rochefoucaulds (der im Roman als Prince Marcillac erscheint), andererseits durch El-Mafaalanis soziologische Diagnose moderner „Misstrauensgemeinschaften“ (Kiepenheuer & Witsch, 2025). Auf dieser Achse erscheint Charles’ Werk als literarisches Labor der Post-Wahrheit, in dem die siebzehnjährige Louise Milton exemplarisch jene „zu schwere Selbstwahrnehmung“ verkörpert, die sowohl moralistisch-demaskierend als auch soziologisch-systemisch beschrieben werden kann. Hier wird Louises Paranoia nicht als pathologische Einzelstörung gelesen, sondern als strukturelle Erfahrung einer von medialen Rückkopplungen deformierten Moderne begriffen: Ihre permanente Überwachungsangst, die Enteignung ihres Ichs durch Mutter, Medien und sogar Autorin sowie die Zersetzung ihrer Identität im zweiteiligen System des Romans werden als literarische Verdichtung eines gesellschaftlichen Grundmodus gelesen. Die romanimmanente Metafiktionalität – Louise als „Romanheldin, verfolgt von einem Autor, der ihr Böses will“ – wird dabei zum stärksten Bild für eine Gegenwart, in der sich Kontrollverlust, Selbstverlust und Wirklichkeitsverlust überschneiden. Gleichzeitig zeigt der Artikel, wie Charles die Moralistik des 17. Jahrhunderts in das Herz ihrer Paranoia-Poetik transponiert. Der Prince de Marsillac fungiert als literarischer Wiedergänger La Rochefoucaulds und strukturiert die zweite Romanhälfte als hermeneutisches Regime des Argwohns. Seine Lehre vom amour-propre liefert Louise ein System, das Misstrauen nicht pathologisiert, sondern rationalisiert – und damit an El-Mafaalanis Beschreibung moderner Misstrauensgemeinschaften anschließt: Misstrauen wird zur Funktionsbedingung von Handlungsfähigkeit in einer unübersichtlichen, überkomplexen Welt. Die Besprechung argumentiert, dass Charles in dieser Verbindung von barocker Demaskierung und spätmoderner Vertrauenskrise den Kern einer neuen paranoiden Ästhetik freilegt. „Paranoïa“ steht so nicht nur im Dialog mit der klassischen französischen Moralistik, sondern kann als zeitdiagnostisches Schlüsselwerk gedeutet werden, das die Identitätskrise der Gegenwart – zwischen Überwachung, Performanz und moralischem Dogmatismus – in eine literarische Versuchsanordnung überführt, in der die Grenze zwischen Wahrheit und Täuschung endgültig porös geworden ist.

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Künstlerroman und tiefes Selbst: Patrice Jean

Der Artikel porträtiert Patrice Jean in seinen Romanen als kompromisslosen Verteidiger der literarischen Autonomie in einer Zeit, in der der Roman von Aktivismus und Ideologie geprägt ist. Im Anschluss an Balzacs „Illusions perdues“, die die „Kapitalisierung des Geistes“ entlarvten, wird gezeigt, wie Jean diese Diagnose auf die Gegenwart überträgt: Heute gefährden Militantismus, moralischer Aktivismus und die Logik der Sichtbarkeit die Freiheit der Literatur. Jeans Romane – von „La France de Bernard“ bis „La vie des spectres“ – stellen Schriftstellerfiguren ins Zentrum, die in Einsamkeit und Skepsis das „tiefe Selbst“ gegen das „soziale Ich“ behaupten. Literatur entsteht dort, wo Konversation und Konformismus enden – als Suche nach der unsichtbaren, inneren Wahrheit des Individuums. Die Argumentation entfaltet sich als kritische Bestandsaufnahme der geistigen Lage der Gegenwart: Patrice Jeans Künstlerromane sind nicht nostalgisch, sondern rebellisch; sie reagieren auf den Verlust des Tragischen und Ambivalenten in der Kunst. Gegen die glättende Moral des „engagierten“ oder „feel-good“-Romans setzt Jean den Roman als Erkenntnisform, die Widersprüche und Dunkelzonen sichtbar macht. Damit führt die Rezension Jean in die Linie Balzacs zurück, verschiebt den Konflikt aber von der ökonomischen zur existenziellen Ebene: Die wahre Krise der Literatur liegt nicht mehr im Markt, sondern in der Verflachung des Selbst. Der Künstlerroman wird so zur Bühne einer inneren Revolte gegen Ideologie und Sentimentalität.

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Entstellung, Scham und Spektakel: Pierre Jourde und Victor Hugo

Pierre Jourdes „La marchande d’oublies“ (Gallimard, 2025) ist ein düster funkelnder Roman über Erinnerung, Wahnsinn und die Groteske, der die Welt der Schausteller und Clowns des 19. Jahrhunderts mit der beginnenden Psychiatrie verschränkt. In verschachtelten Stimmen erzählt er die Geschichte eines Arztes, der auf einer Zugfahrt dem monströsen Clown Alastair begegnet – einem lebenden Relikt aus der Albtraumwelt der Jahrmärkte, der von seiner Amnesie, seiner verstörenden Kindheit und der Vision einer „marchande d’oublies“ berichtet, die süßes Vergessen wie Erlösung verkauft. Jourde entwirft eine finster-ästhetische Parabel über die Zersetzung des Subjekts im Zeitalter der modernen Wissenschaft und des Spektakels – eine Welt, in der Bühne und Irrenhaus, Kunst und Krankheit ununterscheidbar werden. In auffälliger Nähe zu Victor Hugos „L’homme qui rit“ radikalisiert Jourde das romantische Motiv des entstellten Gesichts: Das Lachen, einst Symbol der Anklage, wird zum Symptom eines universellen Verfalls.

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Von der Femme fatale zum Subjekt: Milady de Winter zwischen Dumas und Clermont-Tonnerre

Adélaïde de Clermont-Tonnerres „Je voulais vivre“ (2025) ist der stupende Versuch, einer ikonisch verfemten Figur der Weltliteratur ihre Geschichte zurückzugeben: Milady de Winter, dem vermeintlich „bösen Engel“ aus Dumas’ „Les Trois Mousquetaires“ (1844). Der Roman macht aus der Dämonin eine historisch und psychologisch nachvollziehbare Frau, deren Leben von männlicher Gewalt geprägt ist. Kindheitstraumata, soziale Entrechtung und die Logik eines Geschlechterverhältnisses, das Frauen nur als Besitz oder Gefahr kennt, bilden den verleugneten Hintergrund jener Taten, die der Kanon als metaphysische Verderbtheit etikettierte. „Je voulais vivre“ ist damit weit mehr als ein intertextuelles Spiel: Es erprobt einen Korrekturmodus des Erzählens, in dem literarische Mythen befragt und Figuren aus ihrer jahrhundertelangen Verurteilung befreit werden dürfen – nicht um sie reinzuwaschen, sondern um sie endlich zu verstehen. – Der Artikel verfolgt dieses Unternehmen in einer präzisen Gegenlektüre zu Dumas. Er arbeitet heraus, wie Clermont-Tonnerre die bekanntesten Milady-Episoden – Verführung, Giftmord, Rache, Brandmal und Hinrichtung – nicht negiert, sondern narrativ neu perspektiviert, sodass aus „Bosheit“ Kausalität wird und aus „Verführung“ ein Akt der Selbstbehauptung. Der Aufsatz zeigt, wie konsequent die Autorin kommunikative Machtverhältnisse, Zeitstrukturen und Figurenkonstellationen umbaut, um die Deutungshoheit vom männlichen Urteil zurück in die Innenwelt der Figur zu verlagern. Dadurch wird „Je voulais vivre“ zum literarischen Plädoyer dafür, solche fiktionale Frauenfiguren im Erzählen Gerechtigkeit erfahren zu lassen. Die Rezension begründet abschließend, weshalb Clermont-Tonnerres Roman den Prix Renaudot 2025 verdient erhalten hat.

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Der Geist von Locarno. Europa hundert Jahre nach der Friedenskonferenz: Christine de Mazières

Christine de Mazières hat mit „Locarno“ (2025) einen ebenso historischen wie gegenwärtigen Roman geschrieben – ein europäisches Zeitstück über Diplomatie, Erinnerung und die Macht der Sprache. Ausgangspunkt ist die Friedenskonferenz von 1925 im Schweizer Locarno, wo Aristide Briand, Gustav Stresemann und Austen Chamberlain nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs den Versuch einer moralischen Erneuerung Europas unternahmen. De Mazières erzählt die Ereignisse als vielstimmiges Tableau: Politiker, Journalisten und Künstler agieren auf einer Bühne, auf der politische Geste, rhetorische Form und symbolische Handlung unauflöslich ineinanderfließen. Eine Journalistin, Louise Lenfant, wird zur Zeugin dieser „Comédie humaine de la paix“, deren fragile Hoffnung sie zugleich privat wie politisch trägt. Das emblematische Bild des Romans – ein Adler, der auf die Friedenstauben herabstößt – fasst das Paradox dieser Epoche in einer einzigen Metapher zusammen. – Der Aufsatz „Der Geist von Locarno“ liest de Mazières’ Roman nicht als bloße historische Rekonstruktion, sondern als literarische Reflexion über das Verhältnis von Geist und Politik. Im Zentrum steht die Frage, ob Frieden denkbar ist, solange Europa geistig zerspalten bleibt. Der Text zeigt, wie der Roman Valérys Diagnose aus „La Crise de l’esprit“ (1919) fortschreibt: den Versuch, nach der Katastrophe eine „fédération de l’esprit“ – eine Föderation des Geistes – zu entwerfen. Die Besprechung deutet Locarno als narrative Antwort auf Valérys Frage „Et qu’est-ce que la paix?“ und als Echo auf Heinrich Manns Forderung nach einem „geistigen Locarno“. De Mazières verbindet die moralische Vision Briands mit der skeptischen Intelligenz Valérys und verwandelt die politische Bühne von 1925 in ein literarisches Labor für die Gegenwart: ein Jahrhundert später, im Jahr 2025, bleibt Locarno eine offene Frage an Europa selbst – ob es fähig ist, seine geistigen Kräfte zu erneuern, bevor der Adler wieder auf die Tauben herabstößt.

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Jenseits der Zivilisation: Fabrice Humbert

Fabrice Humberts Roman „De l’autre côté de la vie“ (2025) entfaltet eine apokalyptische Fluchtgeschichte, in der der Ich-Erzähler – ein Pariser Anwalt – mit seinen Kindern einer in Bürgerkrieg versinkenden Hauptstadt entkommt. Die Reise in Richtung einer halbmythischen „République du Jura“ wird zur moralischen Abwärtsbewegung: Was als Schutzversuch beginnt, verwandelt sich in eine phänomenologische Studie der Verrohung. Sprache selbst wird als Trägerin des Giftes sichtbar – „die Worte bereiteten den Boden“ –, während Gewalt aus Angst und Anpassung erwächst. Der Roman verbindet dystopische Gesellschaftsanalyse mit einer existenziell aufgeladenen Poetik: Kindheit erscheint als letzter Rest des Humanen, Natur als trügerischer Trost, Utopie als fragiles Wunschbild, das im Feuer vergeht. Die Parabel zeigt nicht primär äußere Katastrophen, sondern die Erosion des Menschlichen durch den Zerfall gemeinsamer Werte und des sozialen „Flüssigen“ früherer Höflichkeit. – Die Besprechung interpretiert diesen Roman als Fortschreibung von Humberts Gesamtwerk und stellt ihn in einen systematischen, thematisch wie poetologisch kohärenten Kontext. Sie argumentiert doppelt: einerseits wird der Roman als literarische Verdichtung aller bisher entwickelten Motive gelesen – Zerfall sozialer Bindungen, mediale Vergiftung der Realität, die Illusion von Utopien –, andererseits als radikalisierte Selbstkorrektur des Autors, die frühere moralische Hoffnungen skeptisch bricht. Die Kritik macht sichtbar, wie der Erzähler als Jurist seine eigene Sprache einer „Reinigung“ unterzieht und das Werk als Gegenrede zur Gewalt formuliert, obwohl es zugleich die Grenzen solcher Rede demonstriert. Die Rezension macht deutlich, dass Humbert sein zentrales Thema – die Selbstgefährdung des zivilisierten Menschen – in diesem Roman zu einer kompromisslosen literarischen Konsequenz führt.

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Ersticken des Naturalismus: Émile Zola und Jean-Louis Milesi

Jean-Louis Milesis „Flamboyante Zola“ (2025) erzählt die Geschichte von Alexandrine Zola, der Ehefrau des berühmten Schriftstellers, als intime Tragödie und als Revision eines nationalen Mythos. Ausgangspunkt ist eine anonyme Denunziation: Alexandrine erfährt, dass ihr Mann seit Jahren eine Geliebte hat und mit ihr zwei Kinder. Was folgt, ist ein Kammerspiel aus Schmerz, Wut und Erinnerung, das den großen Naturalisten Émile Zola nicht als moralischen Helden, sondern als widersprüchlichen, verletzlichen, feigen Mann zeigt. In dichten, filmisch montierten Szenen verfolgt Milesi, wie Alexandrine zwischen hysterischer Raserei und stillem Stolz schwankt, wie das Private in die Öffentlichkeit dringt, und wie die Lüge einer Ehe zur Metapher einer Gesellschaft wird, die sich selbst betrügt. Der Roman greift naturalistische Verfahren – genaue Beobachtung, materielle Sprache, soziale Diagnose – auf, aber wendet sie nach innen: in das Innere einer Frau, deren Atemnot, deren Küche, deren Kleider und deren Schrei zum Ort der Wahrheit werden. Der Artikel zeigt, dass Milesi den Naturalismus poetologisch weiterführt, indem er seine empirische Kälte psychologisch auflädt. „Flamboyante Zola“ erzählt nicht nur eine Ehe, sondern die Krise einer Epoche: Die Dritte Republik erscheint als von Skandalen und moralischer Heuchelei durchzogene Bühne, auf der der „Schriftsteller der Wahrheit“ selbst zum Opfer seiner eigenen Ideale wird. Das semantische Netz aus Luft, Licht, Nahrung und Stoff spiegelt Atem, Körper, Wahrheit und Verstellung, während narrative Techniken wie innere Monologe, mise en abyme und theatralische Szenenführung das Geflecht von Öffentlichkeit und Intimität verdichten. Am Ende steht kein Triumph, sondern ein Ersticken – Zolas Tod im Gas ist die Allegorie einer erstickten Republik, Alexandrines Überleben ihre bittere Läuterung.

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Die Brüder Goncourt und die Poetik der Verdopplung: Alain Claude Sulzer

Alain Claude Sulzers Roman „Doppelleben“ (2022) ist nun auf Französisch erschienen, mit dem Titel „Les Vieux Garçons“ (2025), er zeichnet mit präziser, kunstvoll distanzierter Sprache das Leben der Brüder Edmond und Jules de Goncourt nach – zwei Schriftstellern, die im Paris des 19. Jahrhunderts untrennbar miteinander leben, denken und schreiben. Sulzer verwebt historische Fakten mit poetischer Imagination: Von den alltäglichen Ritualen und Gesprächen über Kunst und Stil bis zu den leisen Katastrophen ihres Privatlebens entfaltet sich ein Kammerspiel über Abhängigkeit, Krankheit und schöpferische Obsession. Der Roman begleitet die Brüder von ihrem literarischen Aufstieg bis zu Jules’ körperlichem und geistigem Verfall, den Edmond mit verzweifelter Fürsorge, aber auch mit ästhetischer Kälte beobachtet.

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Selbstporträt mit Sancho Panza: Lydie Salvayre

In Lydie Salvayres „Autoportrait à l’encre noire“ (2025) zieht die Autorin, obwohl sie die egozentrische Form verachtet, eine schonungslose Bilanz ihres Lebens und Schaffens. Das Werk erzählt ihren Kampf gegen die tief sitzende Scham, die aus der Armut der Kindheit und dem Sprachtrauma des „Fragnol“-Dialekts ihrer spanischen Flüchtlingseltern resultiert. Strukturell wird die Erzählung durch den satirischen Dialog mit ihrer Nachbarin Albane, einer enthusiastischen Verfechterin der marktgängigen New Romance-Literatur mit ihren Forderungen polemisch zugespitzt. Zentral für die Erzählerin ist die Verarbeitung der väterlichen Tyrannei. Salvayre legt die intellektuellen Grundlagen ihres Schreibens offen – genährt durch Quevedo, Rabelais, La Boétie und vor allem den „Don Quijote“ – und manifestiert eine Haltung der Unbeugsamkeit, indem sie sich der vollständigen Offenlegung verweigert und am Ende wünscht, als „schelmischer Wind“ in Erinnerung zu bleiben. – Der Kern von Salvayres Poetologie, der im Autoportrait umfassend dargelegt wird, ist mit Marina Zwetajewa ein radikaler Kunstanspruch: Eine Kreation, die nicht „gefährlich“ ist, verdiene in keinem Fall, Schöpfung genannt zu werden, da die Mittelmäßigkeit ungefährlicher sei als wahre Exzellenz. Sie verteidigt die Ästhetik der Kürze, des Aufblitzens und der „voltairesschen Geschwindigkeit“ gegenüber der „klebrigen Weitschweifigkeit“ und der „Aufgeblasenheit“ der Trivialliteratur. Ihr unverwechselbarer Stil entsteht dabei durch die „liebevolle Kriegsführung“ zwischen dem barocken Exzess (Quevedo) und der asketischen Reinheit der klassischen Sprache, wobei sie sich bemüht, den „klassischen Karpfen“ mit dem „barocken Kaninchen“ zu vermählen. Die Erzählerin sublimiert ihre Wut in „spekulative Wutanfälle“, die sich in beißenden, zornigen Sätzen gegen soziale Heuchelei und den Zwang zur Positivität richten. Sie betrachtet Literatur als einen „schweigenden politischen Akt“, der stets die Freiheit des Geistes verteidigt und sich jeder Form der „freiwilligen Knechtschaft“ entzieht.

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Die unauffindbare Medaille: Laurent Mauvignier

Laurent Mauvigniers monumentaler Roman „La maison vide“ (2025) ist seine Familiensaga und eine Archäologie des Schweigens. Ausgangspunkt ist eine Kommode voller Relikte – Fotos mit ausgeschnittenen Gesichtern, verschwundene Briefe, eine unauffindbare Medaille. Aus diesen Lücken rekonstruiert der Erzähler fünf Generationen seit napoleonischer Zeit, voller Kriege, Scham, Mythen und verschwiegener Traumata. Der Aufsatz zeigt, dass Mauvignier Erfindung nicht als Lüge, sondern als einzige poetologische Möglichkeit begreift, Vergangenheit vor dem Verschwinden zu retten. Familienmythen werden demontiert, verdrängte Geschichten – besonders die von Frauen wie Marguerite – wieder hörbar gemacht. „La maison vide“ erweist sich als Metaroman, der zugleich intime Familiengeschichte, kritische Reflexion über Erinnerungspolitik, poetologisches Manifest und Summa des eigenen Werks ist.

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Rimbaud-Fiktionen: Philippe Lemaire

Philippe Lemaires Roman „L’Arpenteur de rêves“ (2021) lässt sich nicht als bloße Biographie oder historischer Bericht über den Dichter Arthur Rimbaud lesen. Der Text präsentiert vielmehr eine poetische Konstruktion, die auf verschiedenen Ebenen mit der Figur spielt: Rimbaud wird zugleich erzählt, beschworen und neu erfunden. Schon der Titel verweist auf eine doppelte Bewegung: der „Vermesser der Träume“ ist jemand, der das Unmessbare kartographiert, der das Unmögliche in Sprache fasst und zugleich in der Schwebe belässt. Lemaire erzählt Rimbaud, indem er ihn fiktionalisiert, um sein Bild für den Leser neu sichtbar zu machen.

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Rimbaud-Fiktionen: Alain Blottière

Alain Blottières Roman „Azur noir“ (2020) lässt sich als „Rimbaud-Fiktion“ interpretieren, in der der Protagonist Léo eine obsessive und transformative Verbindung zum französischen Dichter Arthur Rimbaud eingeht. Rimbaud ist für Léo nicht bloß eine literarische Figur, sondern wird zu einem zentralen Element seiner persönlichen Erfahrung, seiner Wahrnehmung der Welt und seiner kreativen Entfaltung, insbesondere in einem apokalyptischen Szenario des „Endes der Welt“. Der Roman entfaltet eine reiche Intertextualität, die sich auf biographische Details, poetische Konzepte und thematische Parallelen erstreckt. Die Erzählung ist in einem Kontext eines Endes der Welt („fin du monde“) angesiedelt, geprägt von extremen Hitzewellen, Bränden, Überschwemmungen und Umweltkatastrophen. Léo empfindet diese Gegenwart als unerträglich, und die „Rimbaud-Fiktion“ wird zu seinem „ultime refuge“. Rimbauds Welt, so wie Léo sie in seinen Visionen wahrnimmt, ist ein „Paradies“ ohne die Schrecken der Gegenwart – ein Paris vor der Industrialisierung, voller Pferde, sauberer Luft und unberührter Natur.

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Rimbaud-Fiktionen: Philippe Besson

Philippe Bessons Roman „Les jours fragiles“ (Julliard, 2004) geht von den letzten Lebensjahren des Dichters Arthur Rimbaud aus und zeichnet ein intimes Porträt aus der Perspektive seiner Schwester Isabelle. Der Roman ist eine suggestive Rimbaud-Fiktion, die die komplexen Beziehungen innerhalb der Familie und Isabelles innere Welt beleuchtet, während sie sich dem Mythos ihres Bruders nähert.

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Rimbaud-Fiktionen: Jean-Michel Lecocq

„Le squelette de Rimbaud“ von Jean-Michel Lecocq ist eine Kriminalgeschichte, die sich um die rätselhafte Entdeckung von Arthur Rimbauds Grab dreht und dabei in die Legenden und das Erbe des Dichters eintaucht. Der Roman spielt in Charleville-Mézières, der Heimatstadt Rimbauds, die in einer Phase kultureller Trägheit und wirtschaftlicher Sparsamkeit verharrt. Diese Lethargie wird jäh unterbrochen, als Georges Hermelin, der kulturverantwortliche stellvertretende Bürgermeister, eine gewagte und provokante Idee vorschlägt: die Erweiterung des Rimbaud-Museums um eine spezielle Ausstellung, deren Herzstück Rimbauds Schenkelknochen sein soll. Der Schock ist jedoch unermesslich, als bei der Öffnung des Sarges festgestellt wird, dass das darin befindliche Skelett beide Beine intakt besitzt und somit nicht Rimbaud gehören kann.

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Rimbaud-Fiktionen: Samuel Benchetrit

Der Roman „Le coeur en dehors“ (Grasset, 2009) von Samuel Benchetrit führt uns in die Welt von Charlie Traoré, einem zehnjährigen Jungen malisch-schwarzer Herkunft, der in einer französischen Banlieue-Siedlung, einer „Cité“, aufwächst. Sein tägliches Leben ist geprägt von der Zuneigung seiner Mutter Joséphine, seiner Schwärmerei für Mélanie, der Freundschaft zu seinen Kameraden und der Sorge um seinen drogenabhängigen älteren Bruder Henry. Die Handlung setzt dramatisch ein, als Charlies Mutter von der Polizei festgenommen wird, da ihre Papiere nicht in Ordnung sind. Der Roman schildert daraufhin einen einzigen, prägenden Tag in Charlies Leben, während er durch seine Cité streift, um seinen Bruder Henry zu finden und die Geschehnisse um die Verhaftung seiner Mutter zu ergründen. Diese Odyssee führt ihn durch die nach Dichtern benannten Türme, verfallene Einkaufszentren und trostlose Viertel seiner Umgebung. – Charlie selbst kann als eine Art moderner „Seher“ (voyant) im Rimbaud’schen Sinne verstanden werden, auch wenn er selbst keine Verse schreibt.

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Rimbaud-Fiktionen: Pierre Michon und William Marx

In „Rimbaud le fils“ (Gallimard, 1991) verfolgt Pierre Michon nicht das traditionelle Ziel eines Biografen, neue Fakten über Arthur Rimbaud zu enthüllen oder bestehende Studien zu ergänzen. Vielmehr dringt er in die Persönlichkeit und Intimität des Schreibens des Dichters ein, um letztlich zu seiner eigenen schriftstellerischen Stimme zu finden. William Marx (Minuit, 2005) betrachtet das Schweigen Rimbauds als einen Punkt, an dem sich eine Ära des Glaubens an die absolute Macht der Literatur endgültig schließt und die moderne Literatur in eine existenzielle Krise gerät, aus der sie bis heute nicht vollständig herausgefunden hat. – Das bedeutet, dass Michons Buch selbst zu einem Objekt der Marx’schen Analyse werden könnte: als ein Werk, das die „Mythologisierung“ Rimbauds fortsetzt und so zur Aufrechterhaltung des Diskurses über das „Adieu à la littérature“ beiträgt, auch wenn es dies auf eine persönlich-künstlerische und nicht auf eine historisch-soziologische Weise tut.

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Rimbaud-Fiktionen: Yves Bonnefoy

Yves Bonnefoys Werk „Rimbaud“, dessen erste Ausgabe 1961 erschien und 1994 neu aufgelegt wurde, ist gewiss mehr als eine konventionelle Biografie; es ist eine Interpretation von Arthur Rimbauds Leben und Schaffen, die sich auch als „Rimbaud-Dichtung“ verstehen lässt. Bonnefoy verfolgt das explizite Ziel, Rimbauds ureigene „Stimme wiederzufinden, seinen Willen zu entschlüsseln, seinen Akzent wiederzubeleben“.

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Rimbaud-Fiktionen: Victor Kathémo

Der Roman „Le descendant africain d’Arthur Rimbaud“ von Victor Kathémo erzählt die Geschichte des Ich-Erzählers Racho, der in Äthiopien, genauer gesagt in Dirédoua nahe Harar, geboren wurde. Sein Leben nimmt eine unerwartete Wendung, als seine Identitätspapiere gestohlen werden und der Dieb bei einem Unfall ums Leben kommt. Rachos Familie, die sich auf die Adresse in den gestohlenen Dokumenten beruft, hält den Toten für Racho selbst und veranstaltet eine Beerdigung zu seinen Ungunsten. Von seinen Angehörigen als „Wiedergänger“ oder „bösartiger Geist“ missverstanden und gefürchtet, verlässt Racho sein Dorf und begibt sich auf eine schwierige Reise, die er als sein „Kreuzweg“ bezeichnet. Im Verlauf seiner Odyssee entdeckt Racho, dass er ein entfernter Nachfahre Arthur Rimbauds ist. Seine Ururgroßmutter, eine Amhara-Frau und Gewürzhändlerin, hatte in Harar eine „kurze und diskrete Liaison“ mit Rimbaud, aus der nach dessen plötzlicher Abreise ein Kind hervorging.

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Rimbaud-Fiktionen: Sigolène Vinson

Der Roman „Courir après les ombres“ (2015) von Sigolène Vinson entwirft eine komplexe und tragische Erzählung, die sich um die Obsession des Protagonisten Paul Deville mit dem französischen Dichter Arthur Rimbaud dreht. Diese Obsession ist nicht nur ein zentrales Motiv, sondern auch der tragische Angelpunkt, der Pauls Handlungen, seine Rechtfertigungen und letztlich sein Scheitern in einer globalisierten Welt bestimmt. Rimbaud dient dabei als Projektionsfläche für Pauls idealistische Sehnsüchte, die sich jedoch unweigerlich mit den brutalen Realitäten des internationalen Handels und imperialistischer Machtpolitik verflechten.

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Rimbaud-Fiktionen: Thierry Beinstingel

Der vorliegende Roman „Vie prolongée d’Arthur Rimbaud“ (Fayard, 2016) von Beinstingel inszeniert eine provozierende Uchronie, indem er die literarische Legende Arthur Rimbauds als eine Fortsetzung seines Lebens jenseits des offiziell bekannten Todesjahres 1891 neu erzählt. Im Zentrum steht die Doppelidentität des Dichters, der unter dem Namen Nicolas Cabanis seine Krankheit überlebt und ein neues, scheinbar profanes Leben als Unternehmer und Familienvater beginnt, während der „tote“ Arthur Rimbaud in der europäischen Literaturszene zur Legende wird. Der Roman erkundet die Spannung zwischen dem „lebenden“ Nicolas, der sein dichterisches Erbe verleugnet, und dem „toten“ Arthur, dessen Ruhm von Literaturkritikern und seiner Schwester Isabelle posthum konstruiert wird.

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