Der Geist von Locarno. Europa hundert Jahre nach der Friedenskonferenz: Christine de Mazières

In Erinnerung an Seraina Plotke.

Friedenstaube und Königsadler

– J’ai tout de suite senti en vous un navigateur, mon cher Leger, un homme de larges horizons, et cela m’a plu. La politique est parfois une course en solitaire, mais on a besoin de bons marins. Vous ne regrettez pas de délaisser la muse pour les mémorandums et les pactes?

– Certes non, monsieur le ministre. Loin de s’opposer, la poésie et l’action, j’en suis convaincu, s’ensemencent l’une et l’autre. C’est vous qui me l’avez appris : la vision sans l’action est stérile. Et l’action sans imagination ne mène pas loin. Auprès de vous, jamais je n’ai aussi bien compris l’universalité de la vocation française. Vous savez souffler de grandes anticipations au peuple.

– C’est sûr que l’on conduit les hommes par l’imagination plus que par la raison. Mais modérez vos éloges, répond Briand en riant, car la grande vision de paix qui nous anime ici pourra-t-elle s’incarner? Nous en sommes encore bien loin et il me reste si peu de temps… Non, ne protestez pas, Leger, si je suis encore solide pour mon âge, je ne suis pas éternel. Et faire changer les mentalités, passer d’un nationalisme ocardier au « désarmement moral », comme disent vos amis de la NRF, cela prendra du temps, beaucoup de temps, peut-être même une génération. Je n’y serai plus.

– Ich habe sofort gespürt, dass Sie ein Steuermann sind, mein lieber Leger, ein Mann mit Weitblick, und das hat mir gefallen. Politik ist manchmal eine einsame Überfahrt, aber man braucht gute Seeleute. Bereuen Sie es nicht, die Muse zugunsten von Memoranden und Pakten aufgegeben zu haben?

– Ganz sicher nicht, Herr Minister. Ich bin überzeugt, dass Poesie und Handeln sich nicht widersprechen, sondern gegenseitig befruchten. Sie haben mir beigebracht, dass Visionen ohne Handeln fruchtlos sind. Und Handeln ohne Fantasie bringt einen nicht weit. Durch Sie habe ich die Universalität der französischen Berufung so gut verstanden wie nie zuvor. Sie verstehen es, dem Volk große Erwartungen zu vermitteln.

– Sicherlich lassen sich Menschen eher durch Fantasie als durch Vernunft leiten. Aber mäßigen Sie Ihr Lob, antwortet Briand lachend, denn wird die große Vision des Friedens, die uns hier antreibt, jemals Wirklichkeit werden? Wir sind noch weit davon entfernt, und mir bleibt so wenig Zeit … Nein, protestieren Sie nicht, Leger, ich bin zwar für mein Alter noch rüstig, aber ich bin nicht unsterblich. Und um Mentalitäten zu ändern, von einem verkrusteten Nationalismus zu einer „moralischen Abrüstung“ überzugehen, wie Ihre Freunde von der NRF sagen, wird Zeit brauchen, viel Zeit, vielleicht sogar eine Generation. Ich werde dann nicht mehr da sein.

Der französische Außenminister Aristide Briand vertieft hier mit seinem Sekretär Alexis Leger (der selbst Dichter ist, alias Saint-John Perse) die Reflexion über Diplomatie, Poesie und die Utopie des Friedens. Briand stellt die Frage nach der Vereinbarkeit von Kunst und Politik. Leger antwortet mit einem zentralen Credo: Vision und Aktion sind untrennbar („la vision sans l’action est stérile“).

Im Oktober 1925 fand in der schweizerischen Stadt Locarno eine der folgenreichsten diplomatischen Konferenzen der Zwischenkriegszeit statt. Unter der Leitung von Aristide Briand, Gustav Stresemann und Austen Chamberlain verhandelten die Außenminister der europäischen Großmächte – Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Belgien, dazu die jungen Staaten Polen und Tschechoslowakei – über ein System gegenseitiger Sicherheitsgarantien. Das „Geistige von Locarno“, wie es die Literaten tauften, beruhte auf der Idee, dass durch eine symbolische Geste des Vertrauens der Kreislauf von Schuld, Revanche und nationaler Verletzung nach dem Ersten Weltkrieg durchbrochen werden könne. Das Ziel war nicht die Revision des Versailler Vertrages, sondern seine moralische Überwindung: die freiwillige Anerkennung der Grenzen, die wechselseitige Garantie des Friedens im Westen, flankiert durch das Versprechen, Streitigkeiten künftig durch Schiedsgerichte beizulegen. Locarno wurde so zur Chiffre für eine europäische Verständigung, die den Weg in den Völkerbund und später in den Friedensnobelpreis 2026 für Briand und Stresemann, 2025 für Chamberlain bereitete.

Doch diese Konferenz war nicht nur ein politisches Ereignis, sondern auch ein symbolisches Schauspiel. Locarno wurde von Journalisten, Dichtern und Diplomaten zugleich bevölkert – ein Ort der politischen Theatralität und der medialen Inszenierung. Christine de Mazières greift diese Konstellation in ihrem Roman Locarno mit erstaunlicher Präzision und poetischer Dichte auf. Ihr Buch ist kein bloßes historiographisches Nacherzählen, sondern eine literarische Versuchsanordnung über das Verhältnis von Erinnerung, Politik und Sprache. Christine de Mazières, geboren 1965, arbeitete lange im diplomatischen und kulturellen Dienst, bevor sie sich der Literatur zuwandte. Ihre Romane zeichnen sich durch eine präzise Beobachtung des europäischen Selbstverständnisses aus, ihren Roman über die deutsche Wiedervereinigung zum 30-jährigen Jahrestag 2019 habe ich in diesem Blog bereits besprochen. Locarno ist ihr bisher ambitioniertestes Werk: ein europäischer Roman im emphatischen Sinn, der Politik als moralische und ästhetische Erfahrung begreift.

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, im unmittelbaren Umfeld der Locarno-Konferenz von 1925, äußerten sowohl Thomas als auch Heinrich Mann Gedanken, die das Schlagwort vom „Geistigen von Locarno“ – den Versuch einer moralisch-kulturellen Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland – in verschiedener Weise aufnahmen. Der Ausdruck selbst stammt von Heinrich Mann, der ihn 1927 in Essays wie Ein geistiges Locarno und Rede zum Friedensnobelpreis Briands und Stresemanns verwendete. Heinrich Mann forderte darin, dass die politische Annäherung von Locarno durch eine geistige, humanistische ergänzt werden müsse: „Die Politik hat den Frieden gewagt; der Geist muss ihn vollenden.“ Er verstand darunter die Verpflichtung der Intellektuellen, die Idee der europäischen Versöhnung aktiv zu tragen. Für ihn war das „geistige Locarno“ ein Bündnis der Vernunft gegen Nationalismus und Militarismus – eine moralische Erneuerung Europas, in der Kunst und Denken jene Einheit verwirklichen sollten, die die Politik nur andeutet.

Thomas Mann äußerte sich im selben Zeitraum in Vorträgen wie Von deutscher Republik (1922), Goethe und die Demokratie (1928) und Gedanken im Kriege und nach dem Kriege sowie in Reden zur deutsch-französischen Verständigung, die er 1926–1927 in Paris und Berlin hielt. Auch er sah in der politischen Entspannung der Locarno-Jahre einen geistigen Auftrag, wenngleich in anderer Tonlage als sein Bruder: Er sprach von einer „europäischen Humanität“, die sich über nationale Gegensätze erheben müsse, und lobte Briand und Stresemann für ihren Mut zum Frieden. „Was Europa rettet, ist das Gespräch der Geister, nicht der Kanonen“, heißt es in seiner Pariser Rede von 1926. Anders als Heinrich Mann betonte er weniger den aktivistischen Humanismus als die moralische Verantwortung des Künstlers, die geistige Verständigung durch Maß, Form und Kulturtradition zu fördern – ein konservativ-humanistisches Pendant zur republikanischen Ethik des Bruders.

Gemeinsam bezeichnen beide Autoren eine kulturelle Bewegung der Zwischenkriegszeit: die Idee, dass das politische Locarno ein „geistiges Locarno“ braucht – ein Bündnis der Schriftsteller, Denker und Künstler zur Wahrung des europäischen Humanismus. Heinrich Mann verstand darunter den ethischen Aktivismus des Intellektuellen, Thomas Mann den verantwortungsvollen Humanismus der Kultur. Beide trafen sich in der Überzeugung, dass Europa nicht durch Verträge, sondern durch Geist gerettet werde. Das „geistige Locarno“ ist so die literarische Fortsetzung des politischen Friedensprojekts – getragen auch von beiden Mann-Brüdern, die auf unterschiedlichen Wegen dieselbe Vision formulierten: Frieden als Kulturleistung.

Sprachereignis Locarno

Der Roman beginnt im Jahr 2025 – genau ein Jahrhundert nach der historischen Konferenz. Ein namenloser Ich-Erzähler, offenbar ein Nachfahre der Journalistin Louise Lenfant, findet in einem verstaubten Chalet im Tessin ein altes Tagebuch: das Journal seiner Großmutter, die 1925 als Korrespondentin des Courrier de Genève über die Friedensverhandlungen berichtete. Die Rahmenerzählung stellt damit ein typisches Verfahren der französischen Gegenwartsliteratur her: eine doppelte Zeitachse, in der das Vergangene nicht als bloßes Archiv erscheint, sondern als Spiegel des Gegenwärtigen. „Vertige du temps aboli“ („Schwindel der aufgehobenen Zeit“) nennt die Erzählerfigur jenen Moment, in dem sich das Private und das Historische berühren. De Mazières öffnet den Raum zwischen den Jahrhunderten, indem sie ein Jahrhundertfresko durch die Linse einer individuellen Erinnerung betrachtet.

Die historischen Fakten sind präzise recherchiert: Stresemanns Ankunft in Minusio, Briands Spaziergänge am Seeufer, Chamberlains aristokratische Ironie, der Auftritt des tschechischen Außenministers Beneš, die Anwesenheit von Saint-John Perse alias Alexis Leger, der als Dichter und Diplomat zugleich die Verschränkung von politischer Rhetorik und poetischer Sprache verkörpert. Auch Marianne von Werefkin, die russische Malerin, die tatsächlich in Ascona lebte, erscheint als Figur. Sie wird zum weiblichen, künstlerischen Gegenpol des politischen Geschehens – eine „baronne à la Rembrandt russe“, deren expressionistische Malerei die seelische Zerrissenheit Europas spiegelt.

Bereits die erste Szene des Romans – das Herabstoßen eines Adlers auf eine Schar von Friedenssymbolen, als auf der Piazza Grande von Locarno weiße Tauben freigelassen werden – entfaltet eine mächtige Allegorie. Der Angriff des Adlers (in der Szene ausdrücklich als „aigle royal“ bezeichnet) auf die „colombes de la paix“ ist kein bloßer Zufall, sondern ein ironisch-düstere Vorahnung: der Krieg, die Gewalt, die Machtpolitik brechen in die Idylle der Versöhnung ein. Louise, die junge Journalistin, beobachtet diese Szene, fotografiert sie, und so entsteht das emblematische Bild des Romans: der Deutsche Ernst Wibeau und der Franzose André Meyer halten gemeinsam die verletzte Taube. „La colombe de la paix sauvée par un Français et un Allemand : quel beau symbole d’amitié !“ („Die Friedenstaube, gerettet von einem Franzosen und einem Deutschen: welch schönes Symbol der Freundschaft!“) – ruft Louise aus, halb ironisch, halb prophetisch.

Hier beginnt das eigentliche Spiel des Romans: Politik als Bild, Symbol und Medienereignis. De Mazières verwebt historische Dialoge mit fiktiven Gesprächen, diplomatische Sitzungen mit privaten Briefen, journalistische Kommentare mit inneren Monologen. Das Buch gleicht einer vielstimmigen Partitur, in der die Rhetorik der Politik, die Sprache der Presse und die Empfindung des Privaten unablässig ineinander übergehen. Die Autorin montiert historische Dokumente, Zeitungsausschnitte, Reden und imaginierte Szenen zu einer vielschichtigen Collage, die an die dokumentarische Poetik von W. G. Sebald erinnert, aber zugleich eine filmische Dynamik besitzt.

Die Konferenz selbst ist als Bühne inszeniert: Briand, der alte Fuchs der französischen Politik, mit seiner „tignasse mal peignée“ („zerzausten Mähne“) und dem ewigen Zigarettenstummel, Stresemann, der „block de granit“ mit „yeux bleu-gris exorbités“, Chamberlain mit aristokratischem Gleichmut – alle erscheinen wie Figuren einer Comédie humaine des Friedens. Doch hinter den Gesten lauert die Ambivalenz: Briands humanistische Rhetorik trifft auf Stresemanns verletzten Nationalstolz. Der Roman arbeitet diese Spannung subtil heraus. Als Luther, der deutsche Kanzler, sein langes Lamento über die „schuldlose Schuld“ Deutschlands vorträgt, antwortet Briand trocken: „Ne continuez pas, monsieur le chancelier, vous allez tous nous faire pleurer.“ („Fahren Sie nicht fort, Herr Kanzler, Sie werden uns alle zum Weinen bringen.“) Der Satz, historisch belegt, wirkt im Roman wie der Wendepunkt: Ein Moment des Humors, der das Pathos bricht, öffnet den Raum für das menschliche Gespräch. Stresemann lacht – und dieser eine „rire chaleureux“ (herzliche Lachen) wird zur Geste des Verständnisses.

De Mazières entwickelt hier eine Poetik des Dialogs. Das Wort, das Lachen, das Missverständnis – sie sind keine Nebensächlichkeiten, sondern Instrumente der politischen Erkenntnis. Das Politische erscheint nicht als Gegensatz zum Persönlichen, sondern als seine Verlängerung. So spiegeln sich in den Figurenbeziehungen immer auch psychische Dispositionen: Briands heitere Skepsis, Stresemanns schweres Pflichtgefühl, Chamberlains ironische Distanz, Louises verletzte Hoffnung. Der Roman führt diese Figuren nicht auf eine lineare Handlung hin, sondern auf ein polyphones Ensemble, das den Akt des Verstehens selbst dramatisiert.

Louises Tagebuchaufzeichnungen bilden den emotionalen Kern. Sie verknüpfen die politische Geschichte mit einer Liebesgeschichte – oder vielmehr mit dem, was davon bleibt: der Erinnerung an Jean, ihr Kind, das sie in einem Waisenhaus zurückgelassen hat, und an eine verbotene Beziehung zu einem deutschen Soldaten während des Ersten Weltkriegs. „À l’automne 1914 à Paris, il valait mieux ne pas porter l’enfant d’un Allemand…“ („Im Herbst 1914 in Paris war es besser, nicht das Kind eines Deutschen auszutragen …“) – schreibt sie. Diese intime Wunde wird zur Matrix des ganzen Romans: die historische Versöhnung als sublimierte Form der persönlichen Schuld. Louise lebt die Geschichte auf einer inneren Bühne nach; die Konferenz, die sie journalistisch begleitet, ist zugleich ihre eigene Verhandlung mit dem Vergangenen.

Die Form des Romans ist doppelt dialogisch: Zum einen wird in langen, spannungsvoll inszenierten Gesprächsszenen zwischen den Delegierten der politische Diskurs geführt, zum anderen entfalten sich in Louises inneren Monologen und Begegnungen mit der Malerin Marianne von Werefkin oder mit Ernst Wibeau die ästhetischen und existentiellen Dimensionen. So entsteht ein feines Netz aus Parallelen: Während Briand und Stresemann um Worte ringen, suchen Louise und Marianne nach Bildern, nach Farben, nach Formen, die den Schmerz des Jahrhunderts fassen können. Die Kunst steht der Diplomatie gegenüber – aber nicht als Flucht, sondern als Komplement. Werefkin sagt zu Louise: „Un jour, on voit le monde avec d’autres yeux, des yeux voyants. Cela vient quand on ne se pense plus le nombril du monde, mais poussière entre les poussières.“ („Eines Tages sieht man die Welt mit anderen Augen, sehenden Augen. Das geschieht, wenn man sich nicht mehr als Nabel der Welt betrachtet, sondern als Staub unter Staub.“) – Diese poetische Demut bildet das ethische Zentrum des Romans.

Auch die Tiermetaphorik ist konsequent durchkomponiert. Der Adler, die Taube, der Hund, der den Menschen betrachtet – all diese Tiere fungieren als Spiegel der menschlichen Natur. Der Adler steht für die Macht, den männlichen Impuls zur Herrschaft und zum Töten; die Taube für die verletzliche Utopie des Friedens; der Hund, der („flairant l’oiseau“) zögert, die Gewalt unterdrückt. Das Tier blickt den Menschen an: „Que peut bien penser d’eux ce chien ?“ („Was mag wohl dieser Hund von ihnen denken?“) – eine Variation auf die berühmte Frage von Montaigne, die hier in erzählerischer Form wiederkehrt. De Mazières nutzt diese Tierperspektiven, um die moralische Instabilität der Menschen sichtbar zu machen: Sie sind zugleich zivilisierte Verhandler und instinktgetriebene Wesen.

Im Zentrum steht jedoch der Gegensatz von Sprache und Schweigen. Die Konferenz von Locarno ist ein monumentales Sprachereignis, aber sie findet in einem Raum des Unaussprechlichen statt. Die Figuren sprechen, um das Schweigen zu bannen – das Schweigen über Schuld, über Tod, über persönliche Verluste. Louise sagt: „La haine, je la connais, elle m’a chassée de chez moi.“ („Den Hass kenne ich, er hat mich aus meinem Zuhause vertrieben.“) – Der Satz könnte ebenso von Stresemann stammen, der im Namen eines gedemütigten Volkes spricht. Sprache wird bei de Mazières zum Medium der Heilung – nicht, weil sie Lösungen bietet, sondern weil sie das Trauma artikulierbar macht.

Und was ist der Frieden?

Die intertextuelle Dimension des Romans ist weit gespannt. Schon das Motto aus Paul Valérys Crise de l’esprit (1919) stellt die zentrale Frage: „Et qu’est-ce que la paix ?“ („Und was ist der Frieden?“) – Das Nachbeben des Ersten Weltkriegs erscheint als geistige Krise Europas. Ebenso bedeutend ist das Zitat aus Hermann Hesses Demian: „Seit einem Jahrhundert weiß Europa genau, wie viele Gramm Pulver nötig sind, um einen Menschen zu töten, aber es weiß nicht mehr, wie man betet.“ Diese Zitate rahmen den Roman in einen europäischen Kanon der Friedensskepsis ein, der sich von den 1910er Jahren bis zur Gegenwart zieht. Die Autorin lässt auch Saint-John Perse auftreten, in seiner Doppelrolle als Dichter (unter Pseudonym) und als Diplomat Alexis Leger. Sein Gedicht „Amitié du Prince“ wird als literarisches Echo der politischen Freundschaft zwischen Briand und Stresemann zitiert. Damit legt de Mazières eine selbstreflexive Spur: der Poet als Zeuge der Geschichte.

Valéry hatte bereits 1897 einen Essay La Conquête allemande (Die deutsche Eroberung) über die deutsche Expansion verfasst, der 1915 erneut veröffentlicht wurde. Valéry merkte 1941 an, dass es damals „eine gewisse Kühnheit – und heute ein gewisses Verdienst“ war, die Namen Deutschland, Italien und Japan 1895 zusammenzubringen. Seine kritische Analyse der deutschen Dynamik war also bekannt. Valéry wurde 1925 in die Académie française gewählt. Er war intensiv im Komitee für Geistige Zusammenarbeit (Comité de Coopération intellectuelle) in Genf tätig. Im Juli 1926, also unmittelbar nach der Ratifizierung des Locarno-Pakts, nahm Valéry an einer Sitzung dieses Komitees in Genf teil, bei der die Deutschen hinzukamen. Er beschrieb seinen Eindruck dieser „séance d’entrée des Allemands“ (Sitzung des Eintritts der Deutschen) als ambivalent: „Impression nulle ou énorme, suivant que je me consulte“ (Eindruck Null oder enorm, je nachdem, wie ich mich befrage).

Der Text Crise de l’esprit, den Valéry im Frühjahr 1919, wenige Monate nach dem Waffenstillstand, verfasste, gehört zu den eindringlichsten Selbstdiagnosen Europas im 20. Jahrhundert. Er beschreibt nicht die physische, sondern die geistige Erschöpfung des Kontinents: Europa als Kulturraum, der seine eigenen Grundlagen – Vernunft, Maß, Bildung, Geist – durch den Krieg selbst in Zweifel gestürzt hat. „Nous autres, civilisations, nous savons maintenant que nous sommes mortelles“, heißt der berühmte Anfangssatz. („Wir Zivilisationen wissen nun, dass wir sterblich sind.“) Der Erste Weltkrieg hat für Valéry die metaphysische Sicherheit Europas zerstört: den Glauben an Fortschritt, an Rationalität, an eine durch Wissenschaft und Humanismus garantierte Zukunft. Der Essay ist eine Meditation über die Grenzen der Aufklärung, geschrieben im Moment ihres Zusammenbruchs.

Als Valéry La Crise de l’esprit publizierte, war die Pariser Friedenskonferenz in Greifweite. Der Versailler Vertrag wurde noch verhandelt, aber die „moralische“ Katastrophe war längst offenbar. Valéry sah in der politischen Neuordnung Europas keine Wiederherstellung der Vernunft, sondern die Fortsetzung der Zerstörung mit anderen Mitteln. Der Krieg habe, so schreibt er, „die geistigen Kräfte erschöpft“ („épuisé les forces spirituelles“). Es sei, als habe der Intellekt selbst gegen sich Krieg geführt.

Was Valéry interessiert, ist nicht der Sieg oder die Niederlage einzelner Nationen, sondern der Verlust eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins. Europa, schreibt er, sei weniger ein geographischer Raum als ein „petit cap du continent asiatique“ („kleines Vorgebirge des asiatischen Kontinents“), dessen Bedeutung ausschließlich aus seiner geistigen Energie erwachse: aus der Fähigkeit, sich selbst zu denken. Wenn diese Energie versiegt, droht das Abendland nicht durch äußere Eroberung, sondern durch innere Erschöpfung zu sterben.

Dieses Denken bildet den philosophischen Untergrund für das, was die Politiker von Locarno zehn Jahre später praktisch zu leisten versuchen: eine Wiederbelebung des europäischen Selbstbewusstseins jenseits der Logik des Sieges und der Vergeltung. Locarno ist, auf einer anderen Ebene, die politische Antwort auf die geistige Krise, die Valéry analysiert hatte.

Zwischen Valérys Essay (1919) und der Locarno-Konferenz (1925) liegt ein symbolischer Übergang: vom Entsetzen zur Hoffnung, von der Diagnose zur Heilung. Doch die Verbindung ist tiefer als bloße Chronologie. Briand und Stresemann, die Hauptakteure von Locarno, verstanden den Frieden ausdrücklich als „moralische Wiedergeburt“. Ihre Freundschaft und ihr gegenseitiger Respekt sollten eine neue politische Kultur begründen, die Valéry wohl als Versuch der „reconstruction de l’esprit européen“ bezeichnet hätte.

Der französische Außenminister Aristide Briand war kein Intellektueller im engeren Sinn, doch er teilte mit Valéry die Vorstellung, dass Europa nicht auf Gewalt, sondern auf „esprit“, auf Geist, gegründet sein müsse. In seiner Rede vor dem Völkerbund (1929) spricht Briand von einer „fédération européenne de l’esprit“ – einer europäischen Föderation des Geistes –, womit er ausdrücklich an den Diskurs Valérys anknüpfte. Auch Saint-John Perse, alias Alexis Leger, Briands Kabinettschef und Dichter, kannte Valérys Schriften genau; er war Schüler von Gide und Vertrauter der NRF. In seinem Poem Anabase (1924), das de Mazières ebenfalls zitiert („Tant de douceur au cœur de l’homme, se peut-il qu’elle faille à trouver sa mesure ?“), klingt dieselbe Frage nach der Maßlosigkeit des Menschen an, die Valéry formuliert hatte. So lässt sich sagen: Der Geist von Locarno ist die politische Übersetzung des Geistes von Valéry. Was Valéry als intellektuelle Aufgabe beschreibt – die Wiederherstellung eines europäischen Selbstbewusstseins, das sich auf Maß, Vernunft und Sprache gründet –, versuchen Briand, Stresemann und Chamberlain in diplomatischer Form umzusetzen.

Die Brüder Mann und Paul Valéry waren nicht allein mit dieser Diagnose. In den Jahren nach 1918 entstand eine ganze Reihe von Essays, Manifesten und Briefwechseln, die auf ähnliche Weise um eine geistige Rekonstruktion Europas kreisen.

Romain Rolland hatte schon 1914 in Au-dessus de la mêlée („Über dem Getümmel“) gegen den nationalistischen Taumel geschrieben und den „esprit européen“ als moralische Instanz beschworen, die über den Nationen steht. „L’Europe sera le juge suprême de l’Europe“ („Europa wird der oberste Richter Europas sein“) – dieser Satz aus Rollands Essay klingt wie ein moralischer Vorläufer von Valérys Warnung.

Stefan Zweig veröffentlichte 1932 Die geistige Einheit Europas, in dem er die kulturelle Vernetzung des Kontinents als Gegenbild zu den politischen Grenzziehungen beschwört: „Über allen Grenzen bleibt Europa eine geistige Heimat.“ Auch hier ist das zentrale Motiv der esprit européen als Kraft der Verständigung, eine Idee, die in Locarno erstmals politische Gestalt annahm.

Julien Benda formulierte 1927 in La Trahison des clercs („Der Verrat der Intellektuellen“) eine radikale Anklage gegen die Intellektuellen seiner Zeit, die sich von universellen Prinzipien abgewandt und der Politik der Leidenschaften ausgeliefert hätten. Benda fordert, dass der Intellektuelle die „passions politiques“ (politischen Leidenschaften) übersteigen müsse – eine Forderung, die direkt an Valérys Ideal der geistigen Selbstbeherrschung anschließt.

Hermann Hesse, dessen Demian (1919) de Mazières im Epigraph ebenfalls zitiert, sprach von der inneren Verrohung Europas, das „genau weiß, wie viele Gramm Pulver nötig sind, um einen Menschen zu töten, aber nicht mehr weiß, wie man betet“. Auch Hesse beschreibt die Krise des Geistes als Verlust der Innerlichkeit, als Entfremdung von Menschlichkeit durch Technisierung und Nationalismus.

Bertrand Russell veröffentlichte 1916 Principles of Social Reconstruction, in dem er argumentiert, dass die Zivilisation nur überleben könne, wenn Vernunft stärker sei als Machttrieb. Und Albert Einstein, in seinem Briefwechsel mit Sigmund Freud über die Frage „Warum Krieg?“ (1932), nennt genau das, was Valéry und Locarno verbindet: die Notwendigkeit einer supranationalen Ordnung, die auf moralischem Bewusstsein beruht.

Thomas Manns eingangs erwähnte Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) stehen in gespannter Nähe zu Valéry: Sie verteidigen die Idee der „Kultur“ gegen die „Zivilisation“, also das Innerliche gegen das bloß Mechanische. Doch Manns späterer Wandel – in den Radioansprachen an die Deutschen (1940er Jahre) oder in Doktor Faustus – führt zu einer Haltung, die der von Valéry ähnelt: einer skeptischen, aber moralisch engagierten Humanität.

Heinrich Mann war in seiner Rede „Ein geistiges Locarno“, die er im Oktober in Berlin hielt, sowie in dem Vortrag „Un Locarno intellectuel“, den er im Dezember desselben Jahres in französischer Sprache in Paris darbot, überzeugt von der aktiven, vorbereitenden Rolle des Intellektuellen in der internationalen Diplomatie. Er würdigte zwar die versöhnende Friedenspolitik der Minister Stresemann und Briand, fügte jedoch selbstbewusst hinzu, dass diese nur Erfolg haben konnten, „weil wir Schriftsteller vorgearbeitet und eine besser zu atmende Luft geschaffen hatten“. Heinrich Mann betrachtete sich selbst als „avant-diplomate“ – eine Bezeichnung, die sein Selbstverständnis als geistiger Vermittler zwischen den Nationen prägnant zum Ausdruck bringt und auf die er mehrfach verwies. Sein „geistiges Locarno“ war somit ein Appell an die Schriftsteller und Denker, ihr moralisch-politisches Engagement zugunsten des Friedens und der Demokratie aktiv in die Tat umzusetzen.

In seiner Rede „Ein geistiges Locarno“ betonte Heinrich Mann die zentrale Vermittlerrolle der deutschen Intellektuellen zwischen den europäischen Nationen, sowohl im Westen als auch im Osten. Für Mann war die friedliche Koexistenz Deutschlands und Frankreichs die „wichtigste Grundlage“ für eine europäische Einigung. Die Vorstellung gipfelte in der Idee, dass die Initiative europäischer Intellektueller letztendlich die Mentalität aller Europäer bestimmen würde. Mann glaubte, dass der „übrige Kontinent“ dem Vorangehen Deutschlands und Frankreichs „auch gegen seinen Willen“ folgen würde. Dieses Ideal war eine Fortsetzung von Manns politisch-ethischer Haltung, die er seit seinem Essay „Geist und Tat“ (1911) vertrat. In diesem früheren Werk attackierte er Intellektuelle, die „Demokratieverachtung und vornehme politische Abstinenz kultivieren“. Er betonte, dass der Geist „nichts Erhaltendes“ sei; er „zersetzt“ und ist „gleichmacherisch“ und muss „über die Trümmer von hundert Zwingburgen“ vordringen. Das „geistige Locarno“ forderte somit die Schriftsteller auf, ihre „Definition der Welt“ in einen konkreten Eingriff in das politische Feld zu verwandeln, was Mann als „Tat“ bezeichnete. Bis zum Ende der Weimarer Republik setzte sich Heinrich Mann für diese deutsch-französische Verständigung und die Überwindung des Nationalismus zugunsten einer politischen Vereinigung Europas ein.

Was Valéry im Essay als Reflexionsfigur beschreibt – die Wiedergewinnung des europäischen Denkens über sich selbst –, wird in Locarno zur historischen Versuchung. Briands Geste der ausgestreckten Hand ist die Verkörperung einer Idee, die in der Literatur geboren wurde: Europa als moralische Gemeinschaft des Geistes. Doch Valéry hätte wohl auch die Grenzen dieser Übersetzung gesehen. In Regards sur le monde actuel (1931) äußert er Skepsis gegenüber der politischen Instrumentalisierung des „esprit“. Der Geist könne nicht institutionell verordnet werden, sondern müsse sich aus individueller Erkenntnis speisen. „L’esprit ne se fédère pas“, schreibt er sinngemäß – der Geist lässt sich nicht föderieren. Darin liegt eine subtile Kritik an Briands späterem Projekt einer „Union européenne“. Gleichwohl bleibt Valéry der unbestrittene Denker des moralischen Locarno. Seine Diagnose von 1919 – die Notwendigkeit einer geistigen Erneuerung – war die Voraussetzung dafür, dass zehn Jahre später ein politisches Experiment wie Locarno überhaupt denkbar wurde.

Nach 1945 wurde Valérys Crise de l’esprit wieder zu einem zentralen Text der europäischen Nachkriegsreflexion. In der Zeit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft wurde er von Jean Monnet, Raymond Aron und Hannah Arendt gleichermaßen zitiert. Arendt sprach vom „Verlust der Welt“ und meinte damit dasselbe wie Valéry: den Zusammenbruch des gemeinsamen Sinnhorizonts.

Im kulturellen Gedächtnis Europas markiert La Crise de l’esprit den Übergang von der Ästhetik zur Ethik, von der Kunst zur Verantwortung. De Mazières hat das intuitiv verstanden: Ihr Roman Locarno ist die erzählerische Fortsetzung dieses Essays. Sie lässt Valérys Frage „Et qu’est-ce que la paix ?“ durch das ganze Buch hallen – als eine Frage, die weder die Diplomaten noch die Schriftsteller endgültig beantworten können.

In dieser Hinsicht ist Locarno weniger eine historische Rekonstruktion als ein Dialog zwischen Literatur und Geschichte, zwischen Geist und Politik. Valérys Essay bildet den Unterton, das moralische Echo. Wenn Briand am Ufer des Lago Maggiore sagt: „Entre la France et l’Allemagne, il n’est pas d’autre alternative : l’amitié ou la guerre“, dann antwortet er – vielleicht unbewusst – auf Valérys Satz: „Ce passage de la guerre à la paix est plus obscur, plus dangereux que le passage de la paix à la guerre.“ („Dieser Übergang vom Krieg zum Frieden ist dunkler, gefährlicher als der Übergang vom Frieden zum Krieg.“) Das ist der eigentliche Bezug: La Crise de l’esprit benennt das Paradox des Friedens, das Locarno zu lösen versucht – den Frieden als geistiges Risiko, als Arbeit an der eigenen Maßlosigkeit.

Der geistige Horizont von Locarno ist ohne Valéry nicht zu denken. La Crise de l’esprit ist die präfigurierte Theorie dessen, was in Locarno zur politischen Praxis wird: die Erkenntnis, dass Frieden nicht nur Verträge, sondern eine Form des Denkens erfordert. Valéry, Thomas und Heinrich Mann, Rolland, Hesse, Benda, Zweig und Saint-John Perse bilden gemeinsam die intellektuelle Konstellation dieses „zweiten Humanismus“, der nach 1918 entsteht: ein Humanismus der Skepsis, des Maßhaltens, der Sprache. Sie alle verbindet der Versuch, aus dem Trümmerfeld des Ersten Weltkriegs eine neue Idee Europas zu gewinnen – nicht als Machtgebilde, sondern als „fédération de l’esprit“.

So gesehen ist Locarno nicht nur eine Konferenz der Politiker, sondern eine späte Szene aus Valérys Essay – eine dramatische Antwort auf die Frage, die 1919 gestellt wurde und die im Jahr 2025, in dem Christine de Mazières‘ Roman erscheint, erneut gilt: „Et qu’est-ce que la paix ?“ – Was ist Frieden, und wie lange kann der Geist ihn tragen?

Politische Bühne und narrative Form

Formal nutzt der Roman eine vielschichtige Struktur: Wechsel zwischen Journal, Brief, innerem Monolog und szenischem Dialog, dazwischen essayistische Einschübe, die an Reportagen erinnern. Dieses Nebeneinander erzeugt eine fast filmische Dynamik. Die Szenen sind in kurzen, rhythmisch präzisen Sätzen komponiert, die atmosphärische Dichte entsteht aus der wiederholten Beschreibung des Lichts am Lago Maggiore – „le lac, brillant comme une émeraude“ („der See, glänzend wie ein Smaragd“) –, das sich wie ein Refrain durch das Buch zieht. Licht und Wasser sind die eigentlichen Metaphern des Friedens: beweglich, transparent, aber auch unbeständig.

Die Figurenkonstellation ist funktional: Briand und Stresemann repräsentieren zwei Formen politischer Humanität – die französische, rhetorisch durchgebildete, und die deutsche, moralisch und rational argumentierende. Zwischen ihnen steht Chamberlain als ironischer Vermittler, als „père tranquille“ der angelsächsischen Diplomatie. Louise und Wibeau hingegen bilden das Pendant auf der privaten Ebene: ein deutsch-französisches Paar, das in der Nähe des Friedens scheitert. Ihre Begegnung bleibt flüchtig, aber sie trägt das utopische Moment des Romans. Marianne von Werefkin wiederum fungiert als Allegorie der Kunst – ihre Bilder, die „montagnes géantes incendiées de rouge“ („von Rot entzündeten Riesenberge“), übersetzen das seelische Beben Europas in Farbe.

Die Spannung zwischen Privatem und Politischem wird bei de Mazières nicht moralisch, sondern strukturell gelöst. Die großen Reden der Politiker spiegeln sich in den kleinen Sätzen des Tagebuchs. Wenn Briand sagt: „Entre la France et l’Allemagne, il n’est pas d’autre alternative : l’amitié ou la guerre.“ („Zwischen Frankreich und Deutschland gibt es keine andere Alternative: Freundschaft oder Krieg.“), dann antwortet Louise aus der Ferne mit ihrem eigenen Versuch, das persönliche Trauma in Sprache zu verwandeln. Das Individuelle und das Kollektive werden zu zwei Versionen derselben Sehnsucht.

Die narrative Ökonomie des Romans ist durchzogen von Spiegelungen. Der Text öffnet sich ständig selbst: Das Journal der Großmutter wird im Roman des Enkels gelesen, der Leser liest den Roman, der wiederum das Journal enthält – ein Palimpsest der Erinnerung. Der historische Diskurs (Zeitungsartikel, politische Reden) wird von der Fiktion absorbiert, die Fiktion wiederum von der Erinnerung. So entsteht eine Art hermeneutischer Schleife, die zeigt, dass Geschichte immer narrativ vermittelt ist.

Die Sprache ist bemerkenswert nuanciert: zugleich journalistisch prägnant und poetisch aufgeladen. De Mazières beherrscht die Kunst des „style mixte“ – eine Sprache, die zwischen dokumentarischer Genauigkeit und lyrischer Suggestion changiert. Besonders in den Beschreibungen der Natur – der Berge, des Lichts, der Tiere – erreicht der Text eine metaphysische Dichte, die an Saint-John Perse erinnert.

Das Ende des Romans – das hier ausführlich zu interpretieren ist – bringt die zeitlichen Ebenen zusammen. Der Enkel, der das Tagebuch gelesen hat, erkennt, dass der Friede von Locarno nur scheinbar Bestand hatte: Schon 1936 marschierte Hitler ins entmilitarisierte Rheinland ein, und das „Geistige von Locarno“ zerbrach. Aber in der privaten Dimension bleibt etwas bestehen: die Stimme von Louise, ihr Glaube an das Wort, an die Möglichkeit des Verstehens. Der Roman endet mit einem Blick in den Himmel, wo erneut ein Adler kreist – diesmal nicht als Bedrohung, sondern als Symbol der Erinnerung. „Peut-être, se dit-il, que même les aigles apprennent un jour à voler sans tuer.“ („Vielleicht, denkt er, lernen selbst die Adler eines Tages, zu fliegen, ohne zu töten.“)

Der Schluss ist ambivalent, aber nicht pessimistisch. De Mazières lässt die Geschichte nicht mit der Katastrophe von 1939 enden, sondern mit dem Bewusstsein, dass Frieden keine Epoche, sondern eine Haltung ist – eine tägliche Praxis der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, des Aushaltens von Differenz.

Nach hundert Jahren ist Locarno von frappierender Aktualität. In einer Zeit, in der die Idee des Friedens in Europa erneut unter Druck steht, erinnert de Mazières daran, dass Verständigung nicht in Verträgen, sondern in Sprache beginnt – im Mut, den anderen zu hören, ohne sich selbst zu verlieren. Ihr Roman ist ein Denkmal für die Kraft des Wortes, ein literarisches Locarno im besten Sinne: Ort der Differenz, der Begegnung, eines Vertrauens im Dialog. Denn, wie Briand im Roman sagt – und wie es heute wieder gilt:

Parier que la paix est possible, c’est le moindre risque.

Darauf zu wetten, dass Frieden möglich ist, ist das geringste Risiko.


Neue Artikel und Besprechungen


rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.