Zolas Erbe Bourdieu: Lars Thorben Henk

Lars Thorben Henk, Zola vor Bourdieu: eine Studie zur Protosoziologie in Émile Zolas «Les Rougon-Macquart» (1871–1893), Mimesis 125 (Berlin; Boston: de Gruyter, 2025).

Die Rekonstruktion einer impliziten Soziologie

Die Dissertation Zola vor Bourdieu von Lars Thorben Henk, erschienen in der Reihe Mimesis: romanische Literaturen der Welt, liefert eine literaturwissenschaftliche Neulektüre von Émile Zolas Arbeiterroman-Trilogie, indem sie dessen implizite Soziologie durch die Brille der Ethnosoziologie Pierre Bourdieus entschlüsselt. Die Studie setzt bei der historischen Feststellung an, dass Émile Zola zeitlebens mit seinen Romanen, insbesondere durch die kompromisslose Darstellung des französischen Volks (le peuple), Anstoß erregte. Basierend auf der Einsicht Jacques Dubois’, dass Zolas Erklärung sozialen Handelns mittels der Kategorien hérédité und milieu Parallelen zu Bourdieus Habitus- und Feldkonzept aufweist, formuliert Henk die zentrale Forschungsfrage: die systematische Rekonstruktion von Zolas impliziter Soziologie, fokussiert auf das französische Volk, aus der Perspektive von Bourdieus ökonomischer Ethnosoziologie. Die Notwendigkeit dieser Perspektivierung ergibt sich aus der Beobachtung, dass Zolas Kategorien hérédité und milieu Ähnlichkeiten mit Bourdieus Konzepten von Habitus und Feld aufweisen, eine systematische Verhältnisbestimmung zwischen Zolas Romanen und Bourdieus Soziologie jedoch bislang eine Forschungslücke darstellt. Zola wird dabei als Pionier innerhalb des sich konstituierenden Forschungsfelds der Sozialwissenschaften verstanden, dessen literarische Werke protosoziologische Erkenntnisse enthalten.

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Frauenmord als Denkstruktur: Ivan Jablonka

Ivan Jablonka, La culture du féminicide: histoire d’une structure de pensée (Traverse, 2025).

Systemisches Phänomen: sexuelle Gewalt, Verstümmelung und Tötung

Ivan Jablonkas La culture du féminicide: histoire d’une structure de pensée (2025) präsentiert eine literaturwissenschaftliche und soziohistorische Analyse, die die kulturelle Zentralität des sexualisierten Frauenmordes in der westlichen Zivilisation freilegt. Jablonka, bekannt für seine Werke über Gewalt und soziale Strukturen, stellt die gynozidale Kultur oder Feminizid-Kultur („culture du féminicide“) 1 als eine universelle Denkstruktur dar, die die Gesellschaft durchdringt und das Vergnügen am weiblichen Terror vorbereitet. Die grundlegende Problemstellung ist das Ambivalente der gesellschaftlichen Obsession: Wir sind kulturell nach sexualisierten Morden „süchtig“, während wir diese Taten als abscheulich verurteilen. Jablonka definiert den Feminizid als „meurtre d’une femme en tant que femme“ (Mord an einer Frau als Frau), ein vorsätzliches und systemisches Verbrechen, das in sozialen Ungleichheiten wurzelt. Er segmentiert diesen Akt theoretisch in drei „items gynocidaires“: (1) sexualisierte Gewalt (Vergewaltigung, Prostitution), (2) Verstümmelung (Folter, Zerstückelung) und (3) die eigentliche Tötung. Die zentrale These ist, dass diese gynozidale Kultur durch die „idéologie gynocidaire“ – die Rechtfertigung dieser Darstellung – den Feminizid von der Mythologie bis zur Gegenwart als „logique qui traverse la société tout entière“ legitimiert und normalisiert.

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Anmerkungen
  1. „Der Begriff ‚Femizid‘ wurde in den 1990er Jahren von Feministinnen in den USA geprägt, um die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu bezeichnen. Feministinnen in Mexiko entwickelten den Begriff weiter und fügten die Silbe „ni” an Feminizid an, um auszudrücken, dass es sich nicht um die Ermordung von Frauen als individualisierte Fälle, sondern um ein Massenverbrechen handelt.“ https://contre-les-feminicides.ch/femizid-oder-feminizid/, 21. Dezember 2023.>>>

Ambivalenz der jüdischen Assimilation: Philip Roth und Marc Weitzmann

Marc Weitzmann, La part sauvage: le monde de Philip Roth et le chaos américain. Retour sur vingt ans d’amitié. Grasset, 2025.

Philip Roth und die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie

Marc Weitzmanns La part sauvage ist eine Hommage an den verstorbenen Schriftsteller Philip Roth; es ist aber auch eine literarische Untersuchung, die das Werk, das Leben und die Freundschaft zu Roth nutzt, um die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie und den Wandel der literarischen Kultur im Angesicht des Chaos zu analysieren.

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Das Französische als Selbst-Dekolonisierung: Kamel Daoud

Die Verleihung des Prix Goncourt im Jahr 2024 für seinen Roman Houris führte zu heftigen Angriffen gegen Kamel Daoud. Der Autor schreibt, dass dieser Preis die Wiederbelebung des Verräter-Stereotyps mit „beispielloser Gewalt“ („violence inouïe“) in der islamistisch-konservativen Presse zur Folge hatte. Die Presse verwendete sogar die unvollkommene Homonymie seines Namens (Daoud) mit dem des mythischen Verräters Colonel Bendaoud bis zur Übertreibung, um ihn zu diskreditieren. Die Attacken dienten dazu, ihm erneut das Etikett des Abtrünnigen („renégat“), Dissidenten und Deserteurs anzuheften, weil er das „Wir“ für das ewig französische „sie“ („eux“) verlassen habe. Die polemische Verteidigung der Freiheit und Pluralität in Il faut parfois trahir kann als direkte und tiefgreifende intellektuelle Reaktion auf diese erneuten Diffamierungen und die damit verbundene identitäre Orthodoxie verstanden werden.

Kamel Daouds Abhandlung Il faut parfois trahir (Gallimard, 2025) stellt eine leidenschaftliche thesenhafte Verteidigung des Universalismus und der individuellen Freiheit dar und rechnet scharf mit jenen Kräften ab, die er als Hüter der nationalen Erstarrung und des Identitätskults ansieht. Die Argumentation entwickelt sich um die paradoxe Umkehrung des Begriffes „Verrat“, der zum Vehikel der Befreiung wird.

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Autosoziobiographie als französische Gattung

Autosoziobiographie: Poetik und Politik, hrsg. von Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, Metzler, 2022.

Der Sammelband „Autosoziobiographie: Poetik und Politik“, herausgegeben von Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel, widmet sich der Untersuchung einer literarischen Textform, die seit Didier Eribons Rückkehr nach Reims (Retour à Reims, 2009/2016) eine unübersehbare Konjunktur erlebt. Die Herausgeber verfolgen die Intention, dieses „noch junge Genre“ zu sichten, zu systematisieren und zu reflektieren, um es als relevantes literaturwissenschaftliches Forschungsobjekt zu etablieren und die literarische Form (Poetik) im Kontext ihrer politischen und gesellschaftsanalytischen Ansprüche zu untersuchen. Die Beiträge diskutieren aktuelle autosoziobiographische Texte und ihre literarhistorischen Kontexte unter den drei Schwerpunkten ‚Literarische Epistemologie des Sozialen‘, ‚Zum Politischen der Form‘ und ‚Transition und Narration‘.

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Fragmente eines Werks: Roland Barthes Handbuch von Angela Oster

Barthes-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Angela Oster, Metzler, 2025.

Dritte Form des Schreibens

Roland Barthes’ Position konsolidierte sich erst im Laufe der Zeit. Im 21. Jahrhundert ist dieser Rang unumstritten, aber die Universitäten der Gegenwart und ihre Geistes- und Kulturwissenschaften sind nicht mehr die der 1960er und 1970er Jahre. Durch die radikale Neukonzeption des Schreibens („écriture“) als gewählte Haltung (Am Nullpunkt der Literatur) und die programmatische Abschaffung des Autors als Sinn-Garant (Der Tod des Autors) befreite er die Literaturwissenschaft von positivistischen und essentialistischen Dogmen. Barthes’ theoretisches Werk ist selbst Literatur in Kurzform („écriture courte“), die mit Lust und Wollust affektive und körperliche Dimensionen in die Ästhetik einführte (Die Lust am Text). Sein Spätwerk, das sich der Autofiktion und Biographematik widmete (Über mich selbst, Die Vorbereitung des Romans), indem es das Subjekt nicht eliminierte, sondern in seinen fragmentarischen Widersprüchen annahm, lieferte ästhetische und philosophische Argumente für die post-autobiographischen Strömungen der Gegenwart. Barthes revolutionierte nicht nur die Kritik und Theorie in Frankreich, sondern stellte der „auf Leistung und das fertige Produkt ausgerichtete[n] Gesellschaft“ (Resch, Eintrag Nr. 29) ein Credo des Scheiterns und des Begehrens entgegen, das bis heute nachwirkt.

Roland Barthes erfand sich als Autor unentwegt neu und wurde als Literatur- und Kulturwissenschaftler, Philosoph, Semiologe, (Post-)Strukturalist, Soziologe und Ideologiekritiker bezeichnet. Sein Schreiben bedient sich ganz selbstverständlich literarischer Verfahren und muss als solche sprachliche, literarische Form ernst genommen werden muss. Das von Angela Oster herausgegebene Barthes Handbuch: Leben – Werk – Wirkung (Metzler, 2025) ist nicht nur Kompendium, sondern selbst ein literaturtheoretisches Zeugnis, das Barthes’ Werk in seiner ganzen, oft widersprüchlichen, Fülle zugänglich macht.

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Vom Prix Goncourt zur Bibliothèque de Babel: Mohamed Mbougar Sarr

Sarah Burnautzki, Abdoulaye Imorou und Cornelia Ruhe, Hrsg. Le Labyrinthe littéraire de Mohamed Mbougar Sarr. Francopolyphonies 36. Leiden; Boston: Brill, 2024.

Eine zirkuläre Route

Mohamed Mbougar Sarr gilt als literarische Sensation. Bereits als junger Autor greift er mit intellektueller Reife und stilistischer Brillanz Themen von weltliterarischem Rang auf. Sein Schreiben verbindet die Erfahrung senegalesischer Herkunft mit einer souveränen Aneignung europäischer Bildungstraditionen. Daraus entsteht eine Stimme, die zugleich afrikanisch verwurzelt und universell anschlussfähig ist – voller intertextueller Anspielungen, philosophischer Tiefenschärfe und spielerischer Lust an Sprache. Mbougar Sarr bringt hochkomplexe Fragestellungen – von Identität über Erinnerung bis zur Macht des Erzählens selbst – in eine Form, die nicht akademisch wirkt, sondern lebendig, ironisch und sinnlich. Seine Romane sind packende, manchmal wilde Erzählungen, die poetische Kraft mit intellektuellem Witz verbinden. Er spielt afrikanische und westliche Diskurse nicht gegeneinander aus, sondern bringt sie auf Augenhöhe in produktive Reibung. Der Autor schreibt so selbstverständlich transnational und transkulturell, dass die Kategorien von „Zentrum“ und „Peripherie“ außer Kraft gesetzt scheinen.

Der Sammelband Le Labyrinthe littéraire de Mohamed Mbougar Sarr wurde herausgegeben von Sarah Burnautzki, Abdoulaye Imorou und Cornelia Ruhe. Die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, wurden anlässlich eines Kolloquiums vorgestellt, das im Mai 2023 an der Universität Mannheim abgehalten wurde. Das Kolloquium vereinte eine Vielzahl von internationalen Beitragenden aus Ländern wie Südafrika, Eswatini, Ghana, Senegal, Kanada, den USA und mehreren europäischen Ländern (Frankreich, Belgien, England, Niederlande). Zusätzlich zu den akademischen Vorträgen umfasste die Veranstaltung einen Dialogabend, der dem Verlagsgeschäft afrikanischer Literaturen in französischer Sprache gewidmet war. Mohamed Mbougar Sarr selbst nahm ebenfalls an einem Abschlussabend teil.

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1968 – das Ende der Utopie und der Beginn des Selbst: Bernard Pellegrin und Maren Sell

Bernard Pellegrins Roman „Printemps fragile“ (2025) und Maren Sells memoirenartige Erzählung „Tout est là“ (2025) inszenieren je eine persönliche Geschichtsschreibung von 1968, die grundlegend unterschiedliche Interpretationen des „Mai 68“ zutage fördert: Pellegrins „Printemps fragile“ ist ein fiktionales Werk, das die Lebenswege mehrerer Charaktere über ein halbes Jahrhundert hinweg verfolgt und 1968 als einen kollektiven, aber schließlich desillusionierenden Aufbruch zeichnet. Demgegenüber interpretiert Maren Sell, deutsche Journalistin, Schriftstellerin und Verlegerin, die seit den 1960er Jahren in Paris lebt, die Zeit nach 1968 als eine persönliche Befreiung von der Last des deutschen Schweigens über den Holocaust und eine Abkehr von der „revolutionären Hysterie“ des Terrorismus.

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Schreibweisen des Realen: Ivan Jablonka

Ivan Jablonka, Le Troisième Continent ou la littérature du réel, Seuil, 2024.

Einleitung: Interpretieren und Verändern

In Le Troisième Continent unternimmt Ivan Jablonka, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Sorbonne Paris Nord und Mitglied des Institut Universitaire de France (IUF), eine Neukartierung der intellektuellen Welt und der Schreibformen. Die traditionelle intellektuelle Landkarte wird demnach seit dem 19. Jahrhundert von zwei „Kontinenten“ dominiert: der Belletristik und der wissenschaftlichen Forschung. Der erste Kontinent, die „Fiktions-Literatur“, wird als Reich des Vergnügens und der Freiheit betrachtet, während der zweite, die „graue Literatur“, als Sphäre der Wahrheit und Strenge verstanden wird, wobei Romane den Sozialwissenschaften gegenübergestellt werden. Diese binäre Aufteilung, so Jablonka, sei überholt.

Die eigentliche Problemstellung liegt in der Nicht-Anerkennung oder Marginalisierung jener Schreibweisen des Realen („écrits du réel“), die weder vollständig zur Fiktion noch zur reinen akademischen Forschung gehören. Diese „umherirrenden Texte“ („textes errants“), wie Jablonka sie nennt, umfassen Berichte, Zeugenaussagen, Biografien, Reportagen, Tagebücher und Reiseberichte. Sie werden weder zur Würde des ersten Kontinents zugelassen noch vom zweiten Kontinent vollständig willkommen geheißen, der sie bestenfalls als „Quellen“ betrachtet. Jablonka fragt, wie diese Texte, die eine andere Art des Weltverständnisses und eine andere Literatur darstellen, ihren rechtmäßigen Platz finden können.

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Apologie einer Wiederentdeckung: Célines verschollene Manuskripte und Véronique Chovin

Lucettes Erbe

Die literaturwissenschaftliche Forschung zum Werk Louis-Ferdinand Célines erfuhr jüngst eine signifikante Erweiterung durch eine Reihe unerwarteter Entdeckungen. Im Zentrum dieser „wundersamen Wiederauferstehung“ steht die Gestalt Véronique Chovins, deren persönliche Erzählung sich auf untrennbare Weise mit der des „verfluchten“ Schriftstellers und seiner Witwe, Lucette Almansor, verbindet. Chovin, die in den 1970er Jahren als Siebzehnjährige begann, Tanzunterricht bei Lucette in Meudon zu nehmen, entwickelte über Jahrzehnte hinweg eine „amitié indéfectible“ zu ihr. Diese Beziehung bildet den Rahmen für ein bemerkenswertes Kapitel der französischen Literaturgeschichte, das mit Lucettes Tod im Jahr 2019 seinen Ausgang nahm. Die darauffolgende „réapparition ‚miraculeuse‘ de manuscrits inédits de Céline, supposés perdus jusque-là“, die in der sensationellen Veröffentlichung von Guerre, Londres und La volonté du roi Krogold durch die Éditions Gallimard mündete, markiert nicht nur einen Wendepunkt in der Céline-Forschung, sondern auch einen Moment der Selbstreflexion über die Natur des literarischen Erbes und dessen Bewahrung. Eine Besprechung dieser Geschichte einer Wiederentdeckung aus der Perspektive Véronique Chovins hat ihre vielschichtige Rolle als Erbin und Hüterin dieses komplexen Vermächtnisses zu analysieren und dabei die Verflechtung von persönlichem Schicksal und literarischer Rezeption herauszuarbeiten. Inwiefern das Buch eine Rechtfertigungsschrift ist, die angemessen auf Kritik eingeht und die eigenen Maßstäbe nachvollziehbar macht oder ob es die Eigeninteressen von Chovin verschleiert, wird von den Lesern aufmerksam geprüft werden.

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Von der Idealisierung zur Problematisierung: Mutterbilder in der französischen Gegenwartsliteratur

Transformationen und Dekonstruktionen

Der Band Mater Genetrix: les images de la mère dans la littérature contemporaine d’expression française, herausgegeben von Marina Hertrampf, bietet eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit der Darstellung von Müttern in der aktuellen französisch- und frankophonen Literatur. Das Werk beleuchtet die Transformation und Dekonstruktion überkommener Mutterbilder und zeigt, wie literarische Texte als Seismographen gesellschaftlicher Veränderungen fungieren.

Die Mutter wird von der Herausgeberin als Ursprung allen Lebens und der literarischen Kreation hervorgehoben, wobei der Umgang mit diesen „uralten und archetypischen“ literarischen Topoi von der Mythologisierung und Verherrlichung bis zur Dekonstruktion reicht. Die Definition von Mutterschaft umfasst biologische und soziale Aspekte, wobei literarische Darstellungen oft eine imaginierte Mutterschaft widerspiegeln. Historische Umbrüche wie die industrielle Revolution, die beiden Weltkriege und die feministischen Bewegungen haben das Frauen- und Mutterbild verändert, doch traditionelle Rollen hielten sich lange in der Literatur. Erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden Mütter zunehmend autonom und stehen im Zentrum der Werke, wobei das Schreiben über Mutterschaft sich zusehends „feminisiert“. Besonders in der frankophonen Literatur des Maghreb und Quebec zeigt sich eine Verschiebung von passiven, idealisierten Müttern zu aktiveren, kritisch hinterfragten Figuren. Das Schreiben über die Mutter wird zu einer neuen literarischen Tendenz, oft autobiografisch, als Suche nach dem verlorenen Selbst und der Identität, und erfüllt eine therapeutische Funktion. Das Spektrum der Darstellungsweisen reicht dabei von nostalgischem Lob bis hin zu extrem problematisierten Mutterfiguren und der Thematisierung von Tabus wie toxischen Müttern, Kindstötung, Post-Partum-Pathologien, dem Tod des Kindes, alternativen Mutterschaftsformen oder der Nicht-Mutterschaft.

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Das vergessene Drama von 1940: Aurélien d’Avout

Aurélien d’Avout, La France en éclats: écrire la débâcle de 1940, d’Aragon à Claude Simon (Brüssel: Les Impressions nouvelles, 2023), 390 S. Zäsur und Riss im französischen Selbstbild Aurélien d’Avouts Studie La France en éclats beleuchtet, warum das Jahr 1940, insbesondere der Juni, in Frankreich oft von einem „Schleier des Schweigens“ umgeben ist. Obwohl die …

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Frankreich als griechische Polis: François Hartog

François Hartogs so gewichtiger wie schmaler Band von gerade mal 54 Seiten, Das antike Griechenland ist die schönste Erfindung der Neuzeit (2021), der als dritter Teil der Gunnar Hering Lectures erschienen ist, lädt dazu ein, die gewohnte Rolle Griechenlands in der westlichen Kultur kritisch zu überdenken. Die Arbeit, die sich explizit an Paul Valérys berühmten …

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Sarah Kofman und die französisch-jüdische Literatur: Esra Akkaya

Esra Akkaya, Sarah Kofmans literarisches Werk: Frankreichs verdrängte Gedächtnisse. Berlin: De Gruyter, 2025.  Leben und Werk Sarah Kofman (1934–1994) war eine der französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts – Philosophin, Literaturwissenschaftlerin, Nietzsche-Interpretin und Shoah-Überlebende. Geboren in Paris in eine jüdisch-orthodoxe Familie, erlebte sie als Kind die Verhaftung ihres Vaters durch die französische Polizei während der Razzia im Juli …

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Boualem Sansals Werk heute: Rebecca Hohnhaus

Zum Sachstand: Ausschluss aus den nationalen Begnadigungen Die Situation des algerisch-französischen Schriftstellers Boualem Sansal bleibt weiterhin kritisch. Am 1. Juli 2025 bestätigte ein algerisches Berufungsgericht das Urteil der ersten Instanz und verurteilte den 80-jährigen, schwer kranken Autor erneut zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung. Ihm wird vorgeworfen, die „nationale Einheit“ Algeriens verletzt zu haben. Diese …

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Die Welt vervollständigen: Alice Zeniter

Alice Zeniters Werk „Toute une moitié du monde“ (Flammarion, 2022, deutsch: „Eine ganze Hälfte der Welt“, aus dem Französischen von Yvonne Eglinger, Berlin-Verlag, 2025) ist eine stimulierende Reflexion über die Fiktion, die sich aus ihren persönlichen Erfahrungen als Leserin und Autorin speist und eine umfassende Revision unserer Art, Geschichten zu lesen und zu erzählen, anregt. Das vorliegende Buch versteht sich explizit nicht als streng wissenschaftlicher Essay, sondern vielmehr als eine gedankliche Exkursion oder eine meditative Reflexion, die persönliche Reflexionen, literaturtheoretische Überlegungen und gesellschaftliche Kritik frei miteinander verknüpft.

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Erbe der Wunden: Traumata und ihre literarische Vermittlung

Zum Handbuch Traumatisme et mémoire culturelle von Silke Segler-Meßner und Isabella von Treskow Das französischsprachige Sammelwerk Traumatisme et mémoire culturelle: France et espaces francophones (herausgegeben von Silke Segler-Meßner und Isabella von Treskow, De Gruyter, 2024, 558 Seiten) widmet sich der Darstellung kollektiver Traumata in der französischsprachigen Literatur und Kultur des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, …

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François Truffaut und die Literatur

Der Sammelband Correspondance avec des écrivains (1948-1984) (Gallimard, 2022) bietet einen gebündelten Einblick in die Gedankenwelt François Truffauts und seine tief verwurzelte Beziehung zur Literatur, die sein gesamtes filmisches Schaffen durchdrungen hat. Herausgegeben von Bernard Bastide, versammelt dieses Werk eine Fülle von Briefen, die Truffaut von 1948 (er war 16 Jahre alt) bis 1984 (er …

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Gegen die Empathiemode: Dominique Rabaté

Der Pariser Literaturwissenschaftler Dominique Rabaté, durch zahlreiche Arbeiten zur französischen Gegenwartsliteratur ausgewiesen, bietet mit Limites de l’empathie eine kritische Auseinandersetzung mit der heutigen, oft unreflektierten Verherrlichung von Empathie und Identifikation. Rabaté, selbst als Professor auch Lehrender an der Universität, stellte fest, dass seine Studenten Identifikation häufig als die primäre Qualität eines Textes ansehen und sogar …

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Theorie im kolonialen Dilemma: Onur Erdur

Eine Tugendlehre des Geistes aus dem Maghreb Onur Erdurs Monografie Schule des Südens: die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie widmet sich einem bisher im Großen erstaunlich vernachlässigten Aspekt der französischen Geistesgeschichte: den tiefgreifenden biografischen und intellektuellen Prägungen, die führende Denkerinnen und Denker der Nachkriegszeit durch ihre Erfahrungen in den französischen Kolonien Nordafrikas erfuhren. Das Buch …

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rentrée littéraire
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