Rückkehr in die École normale supérieure: Éliette Abécassis

Éliette Abécassis, selbst normalienne und agrégée der Philosophie, kehrt in 45 rue d’Ulm (Flammarion, 2025) im Rahmen der intimen literarischen Buchreihe „Retour chez soi“ in ihre ehemalige Studentenbude (thurne) der École normale supérieure (ENS) zurück. Das Buch ist ihr erstes autobiografisches Werk in der ersten Person und verdichtet die Erfahrung einer Nacht und eines Tages zu einer zugespitzten Bilanz ihrer intellektuellen Generation. Ausgelöst wird die Zeitreise durch einen Karton alter Korrespondenz und insbesondere durch einen seit dreißig Jahren ungeöffneten Brief, dessen Enthüllung den narrativen Rahmen bildet und die Erzählung über Freundschaft, Scheitern und intellektuelle Freiheit befeuert.

Weiterlesen

Geschlecht, Macht und Computerspiel: Pauline Gonthier

Polis, Maskulinismus und politischer Opportunismus

Pauline Gonthiers Parthenia ist ein seltenes Beispiel zeitgenössischer Literatur, das Soziologie des Digitalen, Geschlechtersemiotik und politische Psychologie in eine ästhetische Form bringt, die zugleich analytisch und poetisch ist. Der Roman beschreibt parabelartig eine Zeit, in der Sprache selbst zu Code wird und Geschlecht zu Interface. In diesem Sinn ist Parthenia nicht nur ein Ort, sondern ein Verfahren – eine Simulation des Mythos in der Syntax des Digitalen.

Gonthiers Parthenia (2025) ist ein Roman über die gefährliche Schönheit der Ordnung: Zwischen den leeren Bildschirmen eines arbeitslosen Gamers und den makellos beleuchteten Büros einer politischen Beraterin entfaltet sich das Doppelporträt einer Gesellschaft, die sich selbst in Mythen und Algorithmen spiegelt. Baptiste, gefangen in den toxischen Foren der maskulinistischen „redpill“-Kultur, und Léa, Attachée eines nationalistischen Politikers, bewegen sich in unterschiedlichen, aber gleichförmig codierten Welten: seine digitale Misogynie und ihr professioneller Zynismus sind zwei Seiten derselben Kommunikationslogik – kühl, effizient und körperlos. Zwischen ihnen entsteht Parthenia, eine virtuelle Stadt im Stil der Antike, die den Traum von Disziplin, Reinheit und männlicher Macht in ein Spiel verwandelt – und so die Grenze zwischen Simulation und Wirklichkeit zum Einsturz bringt. Beide Figuren sind Spiegel desselben ideologischen Klimas: der eine introvertiert, regressiv und narzisstisch; die andere extravertiert, funktionalistisch und opportunistisch – zwei Gesichter eines posthumanen Projekts, das Körper, Sprache und Moral virtualisiert. Der Roman konfrontiert Baptiste, den entwurzelten jungen Mann, der seine Affekte und seine Sexualität in Foren und Gamingwelten kanalisiert, mit Léa, der jungen Politikverwalterin, die sich zwischen Anpassung, Machtfaszination und moralischem Ekel bewegt.

Weiterlesen

Ambivalenz der jüdischen Assimilation: Philip Roth und Marc Weitzmann

Marc Weitzmann, La part sauvage: le monde de Philip Roth et le chaos américain. Retour sur vingt ans d’amitié. Grasset, 2025.

Philip Roth und die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie

Marc Weitzmanns La part sauvage ist eine Hommage an den verstorbenen Schriftsteller Philip Roth; es ist aber auch eine literarische Untersuchung, die das Werk, das Leben und die Freundschaft zu Roth nutzt, um die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie und den Wandel der literarischen Kultur im Angesicht des Chaos zu analysieren.

Weiterlesen

Das Französische als Selbst-Dekolonisierung: Kamel Daoud

Die Verleihung des Prix Goncourt im Jahr 2024 für seinen Roman Houris führte zu heftigen Angriffen gegen Kamel Daoud. Der Autor schreibt, dass dieser Preis die Wiederbelebung des Verräter-Stereotyps mit „beispielloser Gewalt“ („violence inouïe“) in der islamistisch-konservativen Presse zur Folge hatte. Die Presse verwendete sogar die unvollkommene Homonymie seines Namens (Daoud) mit dem des mythischen Verräters Colonel Bendaoud bis zur Übertreibung, um ihn zu diskreditieren. Die Attacken dienten dazu, ihm erneut das Etikett des Abtrünnigen („renégat“), Dissidenten und Deserteurs anzuheften, weil er das „Wir“ für das ewig französische „sie“ („eux“) verlassen habe. Die polemische Verteidigung der Freiheit und Pluralität in Il faut parfois trahir kann als direkte und tiefgreifende intellektuelle Reaktion auf diese erneuten Diffamierungen und die damit verbundene identitäre Orthodoxie verstanden werden.

Kamel Daouds Abhandlung Il faut parfois trahir (Gallimard, 2025) stellt eine leidenschaftliche thesenhafte Verteidigung des Universalismus und der individuellen Freiheit dar und rechnet scharf mit jenen Kräften ab, die er als Hüter der nationalen Erstarrung und des Identitätskults ansieht. Die Argumentation entwickelt sich um die paradoxe Umkehrung des Begriffes „Verrat“, der zum Vehikel der Befreiung wird.

Weiterlesen

Dominique Fourcade: Dichten nach dem 7. Oktober 2023

In „Ça va bien dans la pluie glacée ?“ (P.O.L., 2024) reagiert Dominique Fourcade literarisch auf den Nahostkonflikt, indem er die moralische Ohnmacht des Schreibenden zum ästhetischen Prinzip erhebt. Er verwandelt Scham, Fremdheit und Sprachskepsis in eine Poetik der Delikatesse und der Verantwortung. Durch fragmentierte Syntax, intertextuelle Ethik und Bildmotivik (Mauer, Javelot, Regen) wird der Konflikt nicht erklärt, sondern „durchlitten“ – als Erfahrung der Grenze, an der Sprache selbst zum Akt des Widerstands wird.

➙ Zum Artikel

Soziologie als Serienmord: Raphaël Quenard

Der namenlose Erzähler von Raphaël Quenards Roman „Clamser à Tataouine“, ein „jeune marginal“ und „joyeux sociopathe“, beschließt nach einem gescheiterten Suizidversuch in Paris, sich an der Gesellschaft zu rächen, indem er stellvertretende weibliche Figuren aller sozialen Schichten aufspürt und tötet, um ihr die Rechnung für seine Niederlage zu präsentieren. Er schreibt diese „épopée macabre“ als Memoiren in Tataouine bei der 82-jährigen Liliane nieder, wird jedoch am Ende von Liliane und Albane (Hortense, der Tochter seines ersten Opfers Marthe) durch eine perfekt inszenierte Rache getötet. Die vom Monster beschriebene französische Gesellschaft ist eine Ansammlung mehr oder weniger unvollkommener Wesen, deren Schichten durch Entfremdung gekennzeichnet sind, sei es durch die existenzielle Not der Armen oder den materiellen Überfluss und die Zwänge der Selbstinszenierung der Reichen. Die Gesellschaft wird als korrupt und verlogen dargestellt, da ihre Mitglieder unablässig Schein und Lüge (Jargon, Statistiken, „bagage culturel de façade“) benutzen, um ihren „chaos intérieur“ zu verbergen. Folglich ist diese „juxtaposition d’êtres aussi imparfaits“ aus Sicht des Erzählers zum Scheitern verurteilt, und er empfindet die symbolische Auslöschung ihrer Repräsentanten als eine notwendige und logische Konsequenz. Raphaël Quenards „Clamser à Tataouine“ erscheint als ein düsterer, postmoderner „Reigen“, in dem das erotische Spiel der Klassen, das bei Arthur Schnitzler noch soziale Masken entlarvt, in einen Kreislauf von Hass, Gewalt, moralischer Leere und schwarzem Humor umschlägt.

➙ Zum Artikel

Selbstporträt mit Sancho Panza: Lydie Salvayre

In Lydie Salvayres „Autoportrait à l’encre noire“ (2025) zieht die Autorin, obwohl sie die egozentrische Form verachtet, eine schonungslose Bilanz ihres Lebens und Schaffens. Das Werk erzählt ihren Kampf gegen die tief sitzende Scham, die aus der Armut der Kindheit und dem Sprachtrauma des „Fragnol“-Dialekts ihrer spanischen Flüchtlingseltern resultiert. Strukturell wird die Erzählung durch den satirischen Dialog mit ihrer Nachbarin Albane, einer enthusiastischen Verfechterin der marktgängigen New Romance-Literatur mit ihren Forderungen polemisch zugespitzt. Zentral für die Erzählerin ist die Verarbeitung der väterlichen Tyrannei. Salvayre legt die intellektuellen Grundlagen ihres Schreibens offen – genährt durch Quevedo, Rabelais, La Boétie und vor allem den „Don Quijote“ – und manifestiert eine Haltung der Unbeugsamkeit, indem sie sich der vollständigen Offenlegung verweigert und am Ende wünscht, als „schelmischer Wind“ in Erinnerung zu bleiben. – Der Kern von Salvayres Poetologie, der im Autoportrait umfassend dargelegt wird, ist mit Marina Zwetajewa ein radikaler Kunstanspruch: Eine Kreation, die nicht „gefährlich“ ist, verdiene in keinem Fall, Schöpfung genannt zu werden, da die Mittelmäßigkeit ungefährlicher sei als wahre Exzellenz. Sie verteidigt die Ästhetik der Kürze, des Aufblitzens und der „voltairesschen Geschwindigkeit“ gegenüber der „klebrigen Weitschweifigkeit“ und der „Aufgeblasenheit“ der Trivialliteratur. Ihr unverwechselbarer Stil entsteht dabei durch die „liebevolle Kriegsführung“ zwischen dem barocken Exzess (Quevedo) und der asketischen Reinheit der klassischen Sprache, wobei sie sich bemüht, den „klassischen Karpfen“ mit dem „barocken Kaninchen“ zu vermählen. Die Erzählerin sublimiert ihre Wut in „spekulative Wutanfälle“, die sich in beißenden, zornigen Sätzen gegen soziale Heuchelei und den Zwang zur Positivität richten. Sie betrachtet Literatur als einen „schweigenden politischen Akt“, der stets die Freiheit des Geistes verteidigt und sich jeder Form der „freiwilligen Knechtschaft“ entzieht.

➙ Zum Artikel

Autosoziobiographie als französische Gattung

Autosoziobiographie: Poetik und Politik, hrsg. von Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, Metzler, 2022.

Der Sammelband „Autosoziobiographie: Poetik und Politik“, herausgegeben von Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel, widmet sich der Untersuchung einer literarischen Textform, die seit Didier Eribons Rückkehr nach Reims (Retour à Reims, 2009/2016) eine unübersehbare Konjunktur erlebt. Die Herausgeber verfolgen die Intention, dieses „noch junge Genre“ zu sichten, zu systematisieren und zu reflektieren, um es als relevantes literaturwissenschaftliches Forschungsobjekt zu etablieren und die literarische Form (Poetik) im Kontext ihrer politischen und gesellschaftsanalytischen Ansprüche zu untersuchen. Die Beiträge diskutieren aktuelle autosoziobiographische Texte und ihre literarhistorischen Kontexte unter den drei Schwerpunkten ‚Literarische Epistemologie des Sozialen‘, ‚Zum Politischen der Form‘ und ‚Transition und Narration‘.

Weiterlesen

Fragmente eines Werks: Roland Barthes Handbuch von Angela Oster

Barthes-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Angela Oster, Metzler, 2025.

Dritte Form des Schreibens

Roland Barthes’ Position konsolidierte sich erst im Laufe der Zeit. Im 21. Jahrhundert ist dieser Rang unumstritten, aber die Universitäten der Gegenwart und ihre Geistes- und Kulturwissenschaften sind nicht mehr die der 1960er und 1970er Jahre. Durch die radikale Neukonzeption des Schreibens („écriture“) als gewählte Haltung (Am Nullpunkt der Literatur) und die programmatische Abschaffung des Autors als Sinn-Garant (Der Tod des Autors) befreite er die Literaturwissenschaft von positivistischen und essentialistischen Dogmen. Barthes’ theoretisches Werk ist selbst Literatur in Kurzform („écriture courte“), die mit Lust und Wollust affektive und körperliche Dimensionen in die Ästhetik einführte (Die Lust am Text). Sein Spätwerk, das sich der Autofiktion und Biographematik widmete (Über mich selbst, Die Vorbereitung des Romans), indem es das Subjekt nicht eliminierte, sondern in seinen fragmentarischen Widersprüchen annahm, lieferte ästhetische und philosophische Argumente für die post-autobiographischen Strömungen der Gegenwart. Barthes revolutionierte nicht nur die Kritik und Theorie in Frankreich, sondern stellte der „auf Leistung und das fertige Produkt ausgerichtete[n] Gesellschaft“ (Resch, Eintrag Nr. 29) ein Credo des Scheiterns und des Begehrens entgegen, das bis heute nachwirkt.

Roland Barthes erfand sich als Autor unentwegt neu und wurde als Literatur- und Kulturwissenschaftler, Philosoph, Semiologe, (Post-)Strukturalist, Soziologe und Ideologiekritiker bezeichnet. Sein Schreiben bedient sich ganz selbstverständlich literarischer Verfahren und muss als solche sprachliche, literarische Form ernst genommen werden muss. Das von Angela Oster herausgegebene Barthes Handbuch: Leben – Werk – Wirkung (Metzler, 2025) ist nicht nur Kompendium, sondern selbst ein literaturtheoretisches Zeugnis, das Barthes’ Werk in seiner ganzen, oft widersprüchlichen, Fülle zugänglich macht.

Weiterlesen

Vom Prix Goncourt zur Bibliothèque de Babel: Mohamed Mbougar Sarr

Sarah Burnautzki, Abdoulaye Imorou und Cornelia Ruhe, Hrsg. Le Labyrinthe littéraire de Mohamed Mbougar Sarr. Francopolyphonies 36. Leiden; Boston: Brill, 2024.

Eine zirkuläre Route

Mohamed Mbougar Sarr gilt als literarische Sensation. Bereits als junger Autor greift er mit intellektueller Reife und stilistischer Brillanz Themen von weltliterarischem Rang auf. Sein Schreiben verbindet die Erfahrung senegalesischer Herkunft mit einer souveränen Aneignung europäischer Bildungstraditionen. Daraus entsteht eine Stimme, die zugleich afrikanisch verwurzelt und universell anschlussfähig ist – voller intertextueller Anspielungen, philosophischer Tiefenschärfe und spielerischer Lust an Sprache. Mbougar Sarr bringt hochkomplexe Fragestellungen – von Identität über Erinnerung bis zur Macht des Erzählens selbst – in eine Form, die nicht akademisch wirkt, sondern lebendig, ironisch und sinnlich. Seine Romane sind packende, manchmal wilde Erzählungen, die poetische Kraft mit intellektuellem Witz verbinden. Er spielt afrikanische und westliche Diskurse nicht gegeneinander aus, sondern bringt sie auf Augenhöhe in produktive Reibung. Der Autor schreibt so selbstverständlich transnational und transkulturell, dass die Kategorien von „Zentrum“ und „Peripherie“ außer Kraft gesetzt scheinen.

Der Sammelband Le Labyrinthe littéraire de Mohamed Mbougar Sarr wurde herausgegeben von Sarah Burnautzki, Abdoulaye Imorou und Cornelia Ruhe. Die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, wurden anlässlich eines Kolloquiums vorgestellt, das im Mai 2023 an der Universität Mannheim abgehalten wurde. Das Kolloquium vereinte eine Vielzahl von internationalen Beitragenden aus Ländern wie Südafrika, Eswatini, Ghana, Senegal, Kanada, den USA und mehreren europäischen Ländern (Frankreich, Belgien, England, Niederlande). Zusätzlich zu den akademischen Vorträgen umfasste die Veranstaltung einen Dialogabend, der dem Verlagsgeschäft afrikanischer Literaturen in französischer Sprache gewidmet war. Mohamed Mbougar Sarr selbst nahm ebenfalls an einem Abschlussabend teil.

Weiterlesen

Shoalzheimer: Raphaël Sigal

Raphaël Sigals Roman „Géographie de l’oubli“ (2025, Prix Méduse) kreist um das Schweigen und Vergessen der Großmutter, die zwischen Shoah-Trauma und Alzheimer-Erkrankung doppelt entzogen ist. Der Erzähler erbt nur Bruchstücke – Satzfetzen, Gesten, Objekte – und versucht daraus ein Buch zu machen, das die Leerstelle nicht verrät, sondern sichtbar macht. Statt dokumentarischer Recherche entscheidet er sich für ein poetisches Verfahren, das auf Fragmentierung, Wiederholung und Schweigen beruht. Der Neologismus „Shoalzheimer“ bündelt das aktive, überlebensnotwendige Vergessen der Shoah mit dem passiven, zerstörerischen Vergessen der Krankheit. Das Buch versteht sich als „Ricercar à x + 1 voix“: eine musikalische Suche nach den verlorenen Stimmen der Vorfahren (x) und der eigenen Stimme des Enkels (+1), deren Polyphonie sich zu einer brüchigen, fast unlesbaren Partitur verschränkt. So entsteht ein vielstimmiger, von Leere und Erinnerung durchdrungener Text, der die Grenzen von Zeugnis, Fiktion und literarischer Form neu auslotet.

➙ Zum Artikel

Die andere Seite, ohne Ressentiment: Paul Gasnier

Paul Gasniers „La collision“ (2025, Auswahllisten für den Prix Goncourt und den Prix Roman Fnac) verwandelt eine private Tragödie – den Tod der eigenen Mutter bei einem Straßenrennen in Lyon – in eine literarische Untersuchung, die Autofiktion, Reportage und Essay verbindet. Der Unfall erscheint nicht als isoliertes Unglück, sondern als emblematische Kollision zweier Frankreich: hier die weltoffene, intellektuelle, privilegierte Mutter, dort der jugendliche Täter Saïd, geprägt von Armut, Gruppendruck und der Gewaltkultur der „Pentes“. Gasnier spürt akribisch Gerichtsakten, Zeugenaussagen und Biografien nach und zeigt, wie tief sich gesellschaftliche Bruchlinien in den Stadtraum eingeschrieben haben. Das Buch rückt so die Kollision zweier Lebensentwürfe ins Zentrum – und damit die Frage, wie eine Gesellschaft ihre eigenen Spaltungen hervorbringt. Der Aufsatz hebt hervor, dass Gasnier sich weigert, seine Wut in Ressentiment zu übersetzen oder den Fall populistisch vereinnahmen zu lassen. Statt Schuldzuweisung setzt er auf Verstehen der Hintergründe, lässt Stimmen aus Saïds Umfeld zu Wort kommen und reflektiert zugleich über Medien, Justiz und die Versuchungen politischer Instrumentalisierung. Intertextuelle Bezüge – von Valéry über Despentes bis zu den Yoga-Schriften der Mutter – rahmen eine Haltung, die Trauer nicht in Rache, sondern in Erkenntnis verwandeln will. „La collision“ wird so zur literarischen Geste gegen Vereinfachung und Ressentiment – und zum Versuch, die Gewalt unserer Gegenwart in ihrer Komplexität zu sehen.

➙ Zum Artikel

Tod der Sonne: Nathan Devers

Nathan Devers’ Roman „Surchauffe“ (2025) entfaltet ein düsteres Panorama der Überlastung: Die Protagonistin Jade Elmire-Fasquin, eine Managerin am Rande des Burnouts, gerät zwischen korrupte Machtspiele, eine toxische Ehe und ihre eigene Sehnsucht nach einem „absoluten Anderswo“. Die Handlung zieht sich spiralförmig von privater Erschöpfung über globale Machtkonflikte bis zur kosmischen Dimension, in der die Überhitzung von Körper, Gesellschaft und Universum zusammenfällt. Metaphern wie Sonne, Feuer, Spirale und Insel verweben persönliche Zerrüttung mit ökologischer, politischer und kultureller Selbstzerstörung. Am Ende kulminiert Jades Versuch, der Spirale zu entkommen, im Völkermord an den Sentinelles – eine bittere Pointe, die zeigt, dass auch das „Andere“ nicht unberührt bleibt. Der Aufsatz betont eingangs, dass Devers den „Tod der Sonne“ als kosmische Gewissheit an den Anfang setzt, um die Fragilität jeder Moral zu entlarven. Die Überhitzungsmetaphorik verschränkt intime, soziale und planetarische Krisen zu einer Poetik der Apokalypse, in der Moral und Engagement als flüchtige, oft narzisstische Gesten entlarvt werden. Besonders hervorgehoben wird das Ende: Jade profitiert von ihrer tragischen Tat, die Gewalt wird ökonomisch verwertet, und die Insel verwandelt sich in ein „neues Babylon“. Die Rezension liest „Surchauffe“ als Diagnose einer Welt, die nicht mehr abkühlt, sondern sich in ihrer eigenen Spirale der Überhitzung verzehrt.

➙ Zum Artikel

Algerienkrieg, Orestie, Film noir: Serge Raffy

Serge Raffys „L’odeur de la sardine“ (Fayard, 2025) ist ein hybrides Werk, das sich an der Schnittstelle von Kriminalroman, historiographischer Fiktion und politischer Allegorie bewegt. Der rätselhafte Mord am ehemaligen Polizeichef Charles Bayard in Paris entpuppt sich als Katalysator für eine tiefgreifende Reise in die unheilbaren Wunden des Algerienkrieges. Raffy nutzt eine Poetik des „mentir vrai“, um die verdrängten Traumata und die „dunkle Seite des Gaullismus“ freizulegen. Der titelgebende „widerliche Geruch der Sardine“ wird dabei zum durchdringenden Symbol der unentrinnbaren Kriegsschuld und des Posttraumas, das Bayard und die ganze Nation zeitlebens verfolgt. Die Figurenkonstellation – von der wahrheitssuchenden Jeanne Obadia über den Journalisten mit Schreibblockade Rochas bis zum ambivalenten Ermittler Sarda – reflektiert unterschiedliche Positionen im Diskurs über Erinnerung und Schuld. Im Kern ist „L’odeur de la sardine“ ein moderner Algerienroman und kann als Nachspiel zur antiken „Orestie“ gelesen werden, in dem die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne die „mauvaise conscience française“ offenbart. Raffy beleuchtet das transgenerationale Schweigen und die „leeren Gräber“ als Metaphern für eine systematisch verdrängte Vergangenheit. Raffy verzichtet auf eine einfache Auflösung des Kriminalfalls und der historischen Schuld. Stattdessen inszeniert er eine vielstimmige, filmisch geprägte Erzählung, die von Film-noir-Ästhetik und der Fragmentierung der Erinnerung geprägt ist. So bleibt der Algerienkrieg als „ungelöster Fall“ bestehen, dessen „Geruch“ in den Seelen und Köpfen über dem Mittelmeer schwebt und eine Versöhnung fordert, die noch aussteht.

➙ Zum Artikel

Stille nach dem Sturm: Cécile Guilbert

Cécile Guilbert hat sich in früheren Werken wie dem Roman „Les Républicains“ (2017) und der Chroniksammlung „Roue libre“ (2020) als scharfsinnige Diagnostikerin des politischen, intellektuellen und stilistischen Niedergangs Frankreichs und der Gesellschaft etabliert. Ihr jüngstes Buch „Feux sacrés“ (2025) stellt jedoch eine bemerkenswerte Verschiebung dar, indem es sich einer autobiografischen und spirituellen Selbstreflexion zuwendet, die durch persönliche Verluste und die Suche nach Sinn in indischer Philosophie ausgelöst wird. Dieser Aufsatz untersucht, wie diese Hinwendung zu einer „radikalen Innerlichkeit“ in „Feux sacrés“ nicht als Resignation, sondern als eine fortgesetzte, wenn auch andersartige Form des Widerstands gegen die diagnostizierten Dekadenzerscheinungen der modernen Welt verstanden werden kann.

➙ Zum Artikel

1968 – das Ende der Utopie und der Beginn des Selbst: Bernard Pellegrin und Maren Sell

Bernard Pellegrins Roman „Printemps fragile“ (2025) und Maren Sells memoirenartige Erzählung „Tout est là“ (2025) inszenieren je eine persönliche Geschichtsschreibung von 1968, die grundlegend unterschiedliche Interpretationen des „Mai 68“ zutage fördert: Pellegrins „Printemps fragile“ ist ein fiktionales Werk, das die Lebenswege mehrerer Charaktere über ein halbes Jahrhundert hinweg verfolgt und 1968 als einen kollektiven, aber schließlich desillusionierenden Aufbruch zeichnet. Demgegenüber interpretiert Maren Sell, deutsche Journalistin, Schriftstellerin und Verlegerin, die seit den 1960er Jahren in Paris lebt, die Zeit nach 1968 als eine persönliche Befreiung von der Last des deutschen Schweigens über den Holocaust und eine Abkehr von der „revolutionären Hysterie“ des Terrorismus.

➙ Zum Artikel

Hinter der Maske: David Thomas

David Thomas’ „Un frère“ (2025, Auswahlliste prix Goncourt) stellt sich einer doppelten Herausforderung: einerseits erzählt der Autor vom Leben und Sterben seines Bruders Édouard, der vier Jahrzehnte an Schizophrenie litt; andererseits reflektiert er zugleich die Schwierigkeit, über psychische Krankheit literarisch zu schreiben, ohne das Subjekt auf seine Diagnose zu reduzieren. Wie kann ein fiktionaler oder literarisch verarbeiteter Text der Erfahrung psychischer Krankheit gerecht werden? Wie lassen sich Leid, Fremdheit und die fragmentierte Wahrnehmung, die Schizophrenie mit sich bringt, in narrative Formen übersetzen, ohne voyeuristisch oder vereinfachend zu wirken?

➙ Zum Artikel

Brand, Meer, Sandkorn, Stein: Antoine Wauters

Antoine Wauters’ Roman „Haute-Folie“ (Gallimard, 2025) erzählt die Geschichte von Josef, der in eine bäuerliche Familie voller Brüche, Schweigen und Tragödien hineingeboren wird und sein Leben lang gegen die unsichtbaren Lasten seiner Herkunft kämpft. Ausgangspunkt ist ein verheerender Brand, der Hof und Tiere zerstört und eine Kette von Verlusten, Verrat und Tod auslöst, die schließlich in Gewalt, Selbstmord und Schuld mündet. Josef wächst im Schatten dieser Katastrophen auf, zwischen stummen Erwachsenen, zerstörerischen Wiederholungen und dem Zwang, die verdrängte Familiengeschichte mit sich zu tragen – womit sich die Frage verbindet, ob das Aufschreiben eine Form von Befreiung oder eine Wiederholung des Schmerzes darstellt. Wauters’ Prosa arbeitet dabei immer wieder mit lyrisch verdichteten Passagen, die Erinnerungen, Stimmen und Orte ineinanderfließen lassen und die Erfahrung von Verrücktheit (folie) als poetische wie existentielle Grenzerfahrung erfahrbar machen.

➙ Zum Artikel

Koloniale Schatten Indochinas und eine entzweite Familie: Adrien Genoudet

Adrien Genoudets Roman „Nancy-Saïgon“ (Seuil, 2025) beginnt mit der Entdeckung eines traditionellen indochinesischen Gewandes und eines Kartons voller Briefe, die nach der Einäscherung seiner Großmutter Simone Sanzach die Verbindung zwischen Nancy und Saïgon offenbaren. Der Erzähler taucht in die Korrespondenz seiner Großeltern, Simone und des Offiziers Paul Sanzach, ein, die ein „jeu de dupes“ voller Lügen und Ungesagtem enthüllt und durch die rätselhafte Figur Tilleul, dessen Rolle Verlangen und Verbrechen verknüpft, noch komplexer wird. Diese Suche deckt eine tief gespaltene Familiengeschichte auf, geprägt von Pauls moralischem Verfall und Simones zunehmender Einsamkeit, sowie der tragischen Marginalisierung ihrer Tochter Édithe, die als „la fille de trop“ missverstanden und abgelehnt wird. Hiermit entfaltet Genoudet eine vielschichtige Interpretation kolonialer Vergangenheit und persönlicher Traumata, im Verlauf dessen der Erzähler die verborgenen Wahrheiten seiner Familie entschlüsselt und das Gewicht des Schweigens und der Geschichte beleuchtet.

➙ Zum Artikel

Nachtgeschichten: Laurent Mauvignier

Laurent Mauvignier lässt viele seiner Bücher im fiktiven La Bassée spielen, so auch das für diesen Bücher-Herbst 2025 angekündigte und für die französischen Literaturpreise hoch gehandelte „La maison vide“ (2025). Zur Vorbereitung lesen wir seine Nachtgeschichten aus dem Jahr 2020, an dessen Tatort Mauvignier mit seinem neuen Buch zurückkehrt. Laurent Mauvigniers Roman „Histoires de la nuit“ (2020) entfaltet sich in dem isolierten Weiler „L’écart des Trois Filles Seules“, wo die Malerin Christine als Nachbarin des Bauern Patrice, seiner Frau Marion und ihrer Tochter Ida lebt, deren vermeintlich idyllisches Landleben durch die Vorbereitungen zu Marions 40. Geburtstag eine trügerische Fassade erhält. Diese Ruhe wird jäh zerstört, als Marions Ex-Partner Denis, frisch aus dem Gefängnis entlassen und von jahrelanger Rachsucht getrieben, mit seinen Brüdern Christophe und Bègue auftaucht, um Marion für ihren vermeintlichen Verrat und die vorenthaltene Tochter zu bestrafen, was in der brutalen Tötung von Christines Hund Radjah und der Geiselnahme der beiden Frauen gipfelt. Im Verlauf des Abends enthüllt sich Marions gewaltvolle Vergangenheit, während Patrice, der die Wahrheit über seine Frau lange verdrängt hat, zusammen mit Marion einen verzweifelten Kampf um das Überleben ihrer Familie und die Bewahrung ihrer Tochter in einer Nacht blutiger Konfrontationen führt, die tief sitzende Traumata und familiäre Abgründe offenbart.

➙ Zum Artikel
rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.