Parataxe und Labyrinth: Traumapoetik bei Olivia Rosenthal

Olivia Rosenthals „Une femme sur le fil“ ist eine radikale literarische Reflexion über die Sprache, in der die Fragmentierung von Erinnerung, das Wiederholungsprinzip und die Unmöglichkeit eines linearen Erzählens die Zerrissenheit traumatischer Erfahrung erfahrbar machen. Zoés Geschichte wird in nummerierten Fragmenten erzählt, die oft abrupt abbrechen und keine klare narrative Kontinuität aufweisen. Dies spiegelt nicht nur ihre innere Zerrissenheit wider, sondern thematisiert auch die Grenzen der Sprache selbst. Zoé wird in ihrer Kindheit von ihrem Onkel missbraucht, was sie in ein Leben der Unsicherheit und Angst stürzt. Ihr Alltag ist geprägt von dem Versuch, der bedrängenden Erinnerung zu entkommen, indem sie sich Strategien des Vermeidens aneignet: Während Zoé versucht, ihre Vergangenheit zu verarbeiten, reflektiert sie über die Mechanismen von Erinnerung und Erzählung. Sie erkennt, dass Sprache eine begrenzte Möglichkeit bietet, Traumata auszudrücken, und bewegt sich zwischen Fragmenten von Mythen, Literatur und persönlichen Erfahrungen. Durch Wiederholung und Variation ihrer eigenen Geschichte versucht Zoé, ihr Trauma erzählbar zu machen.

Gaslighting und Autofiktion: Camille Laurens

Camille Laurens’ Roman „Ta promesse“ greift auf ihre Erfahrung im Bereich der Autofiktion zurück, um eine packende Geschichte von Liebe, Verrat und toxischen Abhängigkeiten zu entfalten. Der Roman schildert nicht nur eine leidenschaftliche Beziehung, sondern seziert auch die Dynamiken von Macht und Manipulation und bietet schlussendlich eine Reflexion über die kreative Schaffenskraft. Im Zentrum der Handlung stehen Claire, eine gefeierte Schriftstellerin, und der charismatische Gilles. Gilles entpuppt sich zunehmend als manipulativer Narzisst, der Claire emotional isoliert und zermürbt. Die Protagonistin Claire steht im Mittelpunkt einer Geschichte, die von Manipulationen und Lügen geprägt ist, was sie schließlich vor Gericht bringt. Die Suche nach der Wahrheit wird zur Hauptmotivation ihres Schreibens und ihrer Reflexionen. Die Eskalation gipfelt in einem Gerichtsdrama, das Laurens mit der Präzision einer Thriller-Autorin entfaltet.

Simon Liberati, Dämonen in Rom

Simon Liberatis Roman „La hyène du Capitole“ aus dem Jahr 2024 (Band zwei einer Trilogie über die Auflösung der 60er Jahre) ist eine Synthese aus dekadentem Stil, literarischer Reflexion und soziokultureller Analyse. Der Roman spielt im Jahr 1970 und folgt Alexis Tcherepakine, einem jungen Mann in Rom, dessen Leben von einer Mischung aus Exzentrik, intellektueller Suche und sozialem Abstieg geprägt ist. Alexis, der sich in der dekadenten High Society der Stadt bewegt, arbeitet als Assistent eines Fotografen und gerät in die Anziehungskraft von Persönlichkeiten wie dem Schauspieler Helmut Berger und seiner eigenen Schwester Taïné. Während Alexis durch die Straßen Roms wandert, begegnet er der Schönheit und dem Verfall der Stadt gleichermaßen.

Verwerfungslinien in uns: Mathias Énard, „Mélancolie des confins. Nord“

Mathias Énard ist einer der deutschlandaffinen Autoren der französischen Gegenwartsliteratur; wir begleiten den Erzähler in ein Berlin, in dem persönliche Verluste, kollektive Traumata und die literarische Tradition in einem eindrucksvollen Narrativ miteinander verschmelzen. Sein jüngstes Werk „Mélancolie des confins. Nord“ bildet den Auftakt einer Tetralogie über die Vergänglichkeit historischer Grenzen, verwebt erneut intime und historische Ebenen und verwischt in diesen einsamen Promenaden (denn das sind die Kapitel eher als Teile eines Romans) Literatur, Geschichte und Geografie.

Kreuzigung der Popikone in Bayamack-Tams „Autopsie mondiale“

Emmanuelle Bayamack-Tams „Autopsie mondiale“ lotet die Grenzen zwischen Theater, Prosa und politischer Allegorie aus: Im Zentrum steht eine fiktive Inszenierung, in der Michael Jackson, Britney Spears, die allegorische Figur der Weltmeinung und ein Fan eine Verhandlung auf der Bühne führen. Diese dramatische Konstellation weist über die individuellen Leben hinaus, als Spiegel für universelle Themen wie Schuld, Identität, Verantwortung und die Macht der öffentlichen Meinung. Mit Sarkasmus, Pathos und Gesellschaftskritik legt Bayamack-Tam die Mechanismen moderner Kultur und ihrer Zerfallserscheinungen frei.

Boualem Sansals Festnahme und ein Raumschiff

Boualem Sansals jüngster Roman „Vivre: le compte à rebours“ („Leben: der Countdown“, Gallimard, 2024) erzählt eine dystopische Geschichte in einer apokalyptischen Welt. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass der Text voller Anspielungen auf die politischen, sozialen und kulturellen Realitäten Algeriens ist. Durch seine metaphorische Erzählweise übt Sansal nicht nur Kritik an globalen Phänomenen wie Totalitarismus und Umweltzerstörung, sondern auch an spezifischen Missständen in seinem Heimatland. Angesichts der Verhaftung des Schriftstellers Boualem Sansal lesen wir den Roman „Vivre“ anders: Hier werden indirekt Themen wie Festnahmen und staatliche Repression angesprochen, jedoch oft in einem metaphorischen oder dystopischen Kontext.

Du, ja. Du, nicht. Laurent Gaudé über den 13. November 2015

Laurent Gaudé wählt für sein Buch über die Attentate des 13. November 2015 eine literarische Form, die sich zwischen Drama, Lyrik und dem Erzählerischen des Romans bewegt. „Terrasses“ ist kein Dokumentarstück, das die Fakten der Attentate auflistet. Stattdessen greift Gaudé auf die Mittel der literarischen Verfremdung und die Kraft der Sprache zurück, um einen tiefen menschlichen Zugang zu einem kollektiven Trauma zu finden.

Ich vertraue dem Tod, er ist ein alter Freund: Grégory Cingal

Unter den letzten drei Büchern der Shortlist für den französischen Grand prix du roman de l’Académie Française findet sich neben Abel Quentins Erzählung über den Club of Rome und Miguel Bonnefoys Familiengeschichte aus Venezuela auch ein Roman über eine Flucht aus dem Konzentrationslager Buchenwald, der auf wahren Ereignissen beruht. In „Les derniers sur la liste“ verbindet Grégory Cingal historische Genauigkeit mit emotionaler Tiefe und wirft Fragen nach Schuld, Mut und der Unauslöschlichkeit des Traumas bei den Überlebenden auf.

Vorbereitung auf das Nichts: das zweite Leben von Philippe Sollers

Auf dem Höhepunkt der Explosion der französischen Revolution im 18. Jahrhundert ließ der Marquis de Sade seine kriminelle Lieblingsfigur Juliette sagen: „Die Vergangenheit ermutigt mich, die Gegenwart elektrisiert mich, ich fürchte die Zukunft wenig.“ Das 21. Jahrhundert hört eine neue postromantische Juliette jeden Tag wiederholen: „Die Vergangenheit deprimiert mich, die Gegenwart belastet mich, ich habe Angst vor der Zukunft.“

Aurélien Bellanger als Lorenzaccio: Les derniers jours du Parti socialiste

Aurélien Bellanger bewegt sich mit dem jüngsten Roman „Les derniers jours du Parti socialiste“ in diesem Herbst 2024 zwischen politischer Fiktion, Schlüsselroman und gesellschaftlicher Satire, mit Elementen der Utopie, aber auch der Dystopie einer zunehmend autoritären Republik, in der die laizistischen Ideale instrumentalisiert werden, um eine islamophobe Politik durchzusetzen. Der Roman zeichnet ein Gesellschaftsbild, in dem die traditionellen politischen Lager der Republik bzw. die Grenzen zwischen links und rechts verschwimmen und in der nationalistische und identitäre Bewegungen das politische Spektrum dominieren.

Gespenster der Avantgarde: Wolfgang Asholt

Nach eigenem Verständnis des Avantgardeforschers und Romanisten Wolfgang Asholt ist „Das lange Leben der Avantgarde: eine Theorie-Geschichte“ als erster Versuch zu werten, nach Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“ (1974) und Paul Manns „Theory-Death of the Avant-Garde“ (1991) eine neuere Untersuchung der Avantgarde-Theorie vorzulegen, die ihre Entwicklung in historischen wie aktuellen Konstellationen und Artikulationen untersucht.

Laure Gouraige und eine nicht komische Komödie

„Ich schreibe eine Komödie. Eine nicht komische Komödie. Einen leichten und heiteren Text, aber ohne Humor.“ Laure Gouraiges dritter Roman über den Versuch, heute einen Roman mit Leichtigkeit zu schreiben: „Le livre que je n’ai pas écrit“ (2024).

Die Jungfrau im lebendigen Diesseits: Kamel Daouds Doppelroman

„Am Verhältnis zur Frau zeichnet sich das Verhältnis zur Fantasie, zum Begehren, zum Körper, zum Leben ab.“ Kamel Daouds Roman „Houris“ (2024) lässt sich als Gegengeschichte zu seinem Museumsdialog „Le peintre dévorant la femme“ (2018) lesen: Während hier ein fiktiver körperfeindlicher Djihadist mit der erotischen westlichen Malerei von Pablo Picasso konfrontiert ist, lässt in „Houris“ Daoud eine schwangere Überlebende des algerischen Bürgerkriegs über die Stummheit der Frauen nachdenken, als Geschichte einer einzelnen und kollektiven Wiederauferstehung.

Wenn man sagt, dass man nichts mehr sagen kann

Alain Robbe-Grillet bei Emmanuelle Lambert

Eine junge Frau kommt nach Paris und entdeckt ein intellektuelles Milieu, eine Männerkaste: den Papst des Nouveau Roman, Alain Robbe-Grillet, und seine Ehefrau Catherine, die eine radikale Freiheit von Sexualität und von Literatur vertreten. Lambert hatte schon das Nachwort zu Catherines Buch Alain geschrieben, 2009 eine Erzählung über ihre Zusammenarbeit mit Robbe-Grillet ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht, Mon grand écrivain. Raphaëlle Leyris interpretiert in Le Monde dieses neuerliche Buch nach 15 Jahren so, dass sich Lambert nicht mehr versteckt, es wird ein Bildungsroman in weiblicher Perspektive, etwa im Kapitel „Heldinnen“. Claire Devarrieux in Libération lobt die Schwebe zwischen Komik und Zuneigung, Empathie und Distanzierung. So wagt Lambert Widerspruch, als Robbe-Grillets letztes Buch Pädophilie und Inzest feiert: Fantasie ist keine Ausrede. Lambert konzediert im Nouvel Observateur aber auch: „Es gibt immer eine Kluft zwischen der Erinnerung an einen Schriftsteller und der Realität seiner Bücher.“ Die Autorin erzählt u.a. vom Bewusstsein des „Rock-Stars der Avantgarde“ für Besitz, Hierarchie und Macht, von den Strukturen der Mitarbeiter am Institut und den feinen akademischen Unterschieden, von den unangemessenen sexuellen Fragen Robbe-Grillets bei ihrer ersten Begegnung im normannischen Schloss, die 36 Kapitel enden mit einem ambivalenten Fest.

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Unheil der Reisenden: Jérôme Ferrari

Der Goncourt-Preisträger Jérôme Ferrari eröffnet 2024 mit „Nord Sentinelle“ eine Trilogie über die Begegnung mit dem Anderssein. Der Korsikaroman der Sippe Romani nimmt einen Mord zum Gegenstand, erweist sich aber zugleich als Gegenüberstellung einer traditional-archaischen Inselwelt mit einer vom Overtourism ruinierten Landschaft und Gesellschaft.

Woher kommt also die Freude?

Tanguy Viel publiziert 2024 bei Minuit ein Vivarium, also eine Anlage für Lebewesen. Der Verlag kündigt diese Fragmente an als „verglaste Schutzräume für das sich bewegende Denken“, eine Lebensumgebung also, in der wir uns aufhalten können, „im unaufhörlichen Austausch des Lebendigen und des Benannten, wo man manchmal am Rande aller Dinge flüchtige Entschlüsse und Sprachausfälle entdeckt“. Tiphaine Samoyault schreibt in Le Monde: „Das Ergebnis ist ein Buch, das sich sehr von seinen üblichen Büchern unterscheidet, weit entfernt vom Roman, wie er ihn überwiegend geschrieben hat, von Cinéma bis La Fille qu’on appelle (Minuit, 1999 und 2021), und der Vertrauen in die Fiktion, ihre Figuren und ihre Szenerien hat.“ Im Gespräche mit Nathalie Crom in Télérama bekennt Viel: „Der Roman scheint mir nicht mehr die Fähigkeit zu besitzen, die neuen Komplexitäten der Welt zu absorbieren – wie er es im 19. und 20. Jahrhundert getan hatte.“

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Vergil und der Geruch des Großen Brandes

C’est le 16 Juillet je scrute le Journal du Ciel. Je note le nom de ce jour, ce matin il vit encore. Dans quelques jours, une semaine, au plus tard, il ne sera plus, j’aurai oublié son nom, je ne saurai plus son âge. En hâte prudente je l’inscris dans sa fraîcheur de 16 Juillet, il est 5 h 30, je vois une étoile, seule, nue, pure, un infime trou de lumière dans les ténèbres. Scintille comme le clin d’œil de l’actualité, un pétillement d’En-Haut. Seule mon imagination peut croire entendre l’Ukraine agoniser à l’Ouest. Je ne l’exerce pas. L’étoile et moi nous nous parlons. Je suis dans l’état de la disciple d’un Virgile du tout premier siècle des apocalypses, qui reçoit une lettre céleste.

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Sprache von Phrasen und leeren Wörtern befreien

Paul eût préféré rester allongé jusqu’à ce que la faim l’emportât, plutôt que s’arracher à la torpeur, cette pleine conscience de lui-même qu’il goûtait enfin. Il n’était pas seul ; il était habité par l’univers ; chaque grain de poussière avait un sens ; les vers de terre étaient à leur place (les vers de terre étaient superbes, tout comme les scarabées, les fourmis, les champignons molletonneux) ; les oiseaux chantaient des psaumes ; les étoiles révélaient son destin : tout semblait parfait – sitôt qu’il eut fait abstraction des hommes. Peut-être était-ce vrai, les hommes étaient les gardiens de l’enfer des autres hommes qui leur servaient eux-mêmes de geôliers.

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Diese kaum entworfenen Geschöpfe der Maler

On les distingue à peine tant ils sont petits, au fond de cette majestueuse allée bordée d’immenses cyprès. Sont-ils vraiment là, si infimes dans ce décor qui les écrase ? Et pourquoi le dessinateur a-t-il voulu leur donner cette vie, pour minuscule qu’elle soit ? Entendait-il, de ces silhouettes tout juste identifiables, faire des créatures humaines, des personnages ?

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