Frankreichs Glasvitrine und Algeriens Schädel: Clara Breteau

Clara Breteaus Roman „L’Avenue de verre“ (2025) unternimmt durch die Figur der Dozentin Anna eine dichte Untersuchung kolonialer Nachwirkungen und familiärer Schweigeverhältnisse. Ausgangspunkt ist das rätselhafte Doppelleben des Vaters, eines algerischen Einwanderers aus den Aurès-Bergen, der als Fensterputzer in Frankreich arbeitete und seine Herkunft hinter einer „Glashaut“ der Assimilation verbarg. Die titelgebende Avenue de verre wird zur Chiffre einer Nation, die sich selbst in spiegelnden Oberflächen betrachtet und ihre koloniale Schuld überblendet. Annas Nachforschungen führen sie von den eigenen familiären Leerstellen – dem verweigerten Namen, der Verstoßung durch den Vater, dem administrativen „NÉANT“ auf der Heiratsurkunde der Großeltern – bis in die Archive der kolonialen Gewalt, wo sie auf die enthaupteten algerischen Widerstandskämpfer stößt, deren Schädel im Musée de l’Homme lagern. Breteau verbindet hier intime Erinnerung mit politischer Archäologie: Die gläserne Transparenz des Vaters steht für das Schweigen der Geschichte, das Anna durchbrechen will. Doch die Erkenntnis, dass Sichtbarkeit selbst ein Akt der Verschleierung ist, prägt ihre Suche – jede Klärung erzeugt neuen Nebel, jedes Wort gebiert Schweigen. In diesem Zusammenhang greift der Roman auch Kamel Daouds Motiv des „verschwundenen Körpers“ auf, um die Erfahrung einer postkolonialen Entkörperlichung zu beschreiben, in der die Nachgeborenen nur noch Schatten und Spiegelbilder ihrer Geschichte sehen. – Die Rezension liest Breteaus Roman als eine Poetik der Auslöschung, in der Glas, Spiegel und Transparenz zu zentralen semantischen Feldern des postkolonialen Bewusstseins werden. Sie hebt hervor, dass Breteau das familiäre Schweigen nicht psychologisch, sondern politisch deutet: als koloniale Disziplinierung der Erinnerung, die in den Körpern und Biographien weiterwirkt. Der Vater, der sich in „Johnny“ umbenennt und Spuren löscht, problematisiert ein System, das koloniale Gewalt in Sauberkeit und Ordnung verwandelt. Die Besprechung betont die Doppeldeutigkeit von Reinigung und Verschmutzung, Sichtbarkeit und Verschwinden – eine Dialektik, die Annas Forschung ebenso strukturiert wie ihre eigene Identität. Durch den Rückgriff auf Abdelmalek Sayads Konzept der „double absence“ und Kateb Yacines Idee des „néant“ zeigt der Roman, dass das Schweigen kein Fehlen, sondern ein sedimentierter Widerstand ist. Der abschließende Akt – die Weitergabe des Namens Hadj und das Singen eines kabylischen Liedes – wird in der Rezension als Geste der Heilung gelesen, die das Trauma nicht tilgt, sondern es in eine poetische Kraft der Rückverwandlung überführt: aus der gläsernen Leere entsteht ein durchlässiges, atmendes Gedächtnis.

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