Mutterverlust als Metamorphose bei Constance Joly und als Dokument bei Annie Ernaux
Der Romanvergleich stellt Constance Jolys Roman „Reverdir“ (Flammarion, 2025) und Annie Ernaux’ „Je ne suis pas sortie de ma nuit“ (Gallimard, 1997) als zwei radikal unterschiedliche literarische Bearbeitungen der Alzheimer-Erkrankung der Mutter gegenüber und entfaltet ihre Argumentation konsequent entlang der Pole Metamorphose versus Dokumentation. Während Jolys Roman den geistigen Verfall der Mutter in eine dichte Metaphorik aus Botanik, Carrolls Alice im Wunderland und zyklischer Zeitstruktur einbettet und die Krankheit als Katalysator einer existentiellen Neuerfindung der Tochter deutet, beschreibt Ernaux in ihrem fragmentarischen Tagebuch den körperlichen und sprachlichen Zerfall der Mutter ohne jede tröstende Sinnstiftung als ausweglose Bewegung in eine zeitlose „Nacht“. Die Rezension arbeitet diese Differenz systematisch aus, indem sie Erzählhaltung, Zeitstruktur, Kommunikationsformen und Metaphorik kontrastiert: Jolys poetische Einhegung des Schmerzes zielt auf Resilienz, „Spätblühen“ und Selbstwerdung, während Ernaux’ Schreiben sich der „Gewalt der Empfindungen“ aussetzt und den Text bewusst als bloßen „Überrest eines Schmerzes“ versteht. Argumentativ folgt die Rezension dabei einer komparatistischen Logik, die nicht wertend, sondern typologisch verfährt: Sie zeigt, wie beide Texte unterschiedliche ethische und ästhetische Antworten auf denselben Erfahrungskern geben. Der Schluss pointiert diese Gegenüberstellung, indem er die divergierenden Romanenden als Ausdruck zweier unvereinbarer Zeit- und Sinnmodelle liest – hier das symbolische Wiederergrünen nach der Katastrophe, dort das endgültige Versinken in der Nacht –, und macht so deutlich, dass literarische Alzheimer-Narrative weniger über die Krankheit selbst als über die Möglichkeiten und Grenzen narrativer Bewältigung Auskunft geben.
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