Silikonimplantat und Kriegsprothese: Arno Bertina

Arno Bertinas Roman „Des obus, des fesses et des prothèses“ („Granaten, Hintern und Prothesen“, éd. Verticales, 2025) entwirft ein ebenso groteskes wie aufschlussreiches Panorama menschlichen Leidens und Überlebens an einem unwahrscheinlichen Ort: einem luxuriösen Hotelpalast in Gammarth, unweit von Tunis, angesiedelt ein bis zwei Jahre nach dem Sturz Ben Alis und inmitten des libyschen Bürgerkriegs. Auf der einen Seite beherbergt das Hotel schwer verstümmelte Männer, Überlebende des brutalen Libyen-Krieges, deren Körper von Granaten und Kugeln gezeichnet sind. Auf der anderen Seite finden sich Frauen ein, die sich ästhetischen Operationen unterzogen haben und nun, von Verbänden und Hämatomen gezeichnet, ihre Genesung abwarten. Diese beiden Gruppen, deren Körper auf unterschiedliche Weisen „beschädigt“ oder „modifiziert“ wurden, begegnen sich am Rande eines stillgelegten Swimmingpools, was eine Atmosphäre des Unbehagens, der Absurdität und einer stillen Konfrontation schafft, die über die gesamte Erzählung hinweg schwebt.

Partnerschaft und Gewalt im Roman: Nathacha Appanah

Der Titel „La nuit au cœur“ (2025) des neuen Romans von Nathacha Appanah spiegelt die zentralen Themen: Gewalt, Angst, Isolation, Trauma, aber auch Widerstand und die Suche nach Sinn und Erinnerung. Die Struktur des Romans gliedert sich in fünf Teile, die zwischen der persönlichen, autofiktionalen Erzählung der Autorin und den rekonstruierten Schicksalen von Emma und Chahinez wechseln, wobei eine „imaginäre Kammer“ als Ort der Begegnung und Reflexion dient. Der Roman dekonstruiert Feminizide nicht als isolierte Vorfälle, sondern als Ausdruck eines tief verwurzelten patriarchalen Systems, das sich über Kulturen und Zeiten erstreckt. Der Roman kritisiert scharf die patriarchalen Gesellschaften, insbesondere in Algerien und auf Mauritius, wo Frauen mit Scheidung stigmatisiert werden und ihre Autonomie eingeschränkt ist. Die parallele Erzählung der drei Frauen – einer Überlebenden und zwei Opfern – unterstreicht die universelle Gefahr, der Frauen ausgesetzt sind, und die erschreckende Ähnlichkeit der Täterprofile und Gewaltmuster (Kontrolle, Eifersucht, Isolation, physische und psychische Misshandlung).

Was wirklich neu war in Literatur, Malerei und Musik: Jacques Rivière

Anlässlich seines hundertsten Todestages wird Jacques Rivière in die Sammlung Bouquins aufgenommen, mit einem Band, der sein Werk als Schriftsteller, Kritiker und Essayist beleuchtet, herausgegeben von Robert Kopp in Zusammenarbeit mit Ariane Charton, mit Vorwort von Jean-Yves Tadié. Jacques Rivière (1886–1925), oft als ein „Kritiker von Genie“ beschrieben, der „durch andere lebte“, war eine zentrale …

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Roman choral eines Tals im Périgord: Renaud de Chaumaray

Renaud de Chaumarays Roman „Quitter la vallée“ (Gallimard, 2025) fügt sich in eine Tradition ein, die man im Französischen „roman choral“ oder als „polyphonen Realismus“ bezeichnen könnte: ein literarisches Projekt, das mehrere Stimmen, Lebensläufe und Perspektiven miteinander verschränkt, um daraus ein überindividuelles Bild einer Region, eines Milieus oder einer Epoche zu gewinnen. Mitten im Périgord, genauer in der Vallée de la Vézère, entfaltet Chaumaray drei zunächst voneinander unabhängige Erzählstränge, die sich allmählich berühren, verschränken und überlagern. Der Roman evoziert Landschaft, Geschichte und Gewalt, Erinnerung, Liebe und Flucht, sodass er nicht allein als Ensemble von Einzelschicksalen gelesen werden kann, sondern als eine Art Fresko, in dem sich individuelle Existenz und kollektive Erfahrung untrennbar verbinden.

Jetzt werden wir Marokko machen: Gilbert Sinoué

Gilbert Sinoués „Au couchant, l’espérance“ (Gallimard, 2025) inszeniert die Entstehung nationaler Unabhängigkeit als Spiegel und Gegenfolie eines individuellen Freiheitskampfs. Der Roman koppelt die politische Befreiung Marokkos an die innere Rekonstruktion seines Protagonisten Hussein Chaoui: Was sich politisch am 16. November 1955 mit der Rückkehr des Sultans Mohammed V und am Ende mit der Unabhängigkeit erfüllt, erscheint erzählstrategisch als späte Antwort auf eine biografische Kette von Verlusten, Verwundungen und Sprachlosigkeiten. Der Roman verschränkt zwei Semantiken der Erlösung: nationale Souveränität und personale Entlastung aus Trauma und Schuld. Die Poetik des Romans besteht darin, diese beiden Linien nicht zu harmonisieren, sondern sie als spannungsvolle Parallelbewegung zu montieren, die von Diskontinuitäten, asymmetrischen Zeiterfahrungen und gebrochener Kommunikation gezeichnet ist.

Rückkehr nach Athen: Laurent Gaudé

Laurent Gaudés „Zem“ (Actes Sud, 2025), die direkte Fortsetzung zu „Chien 51“ (2022), führt in die dystopische Megalopolis Magnapole zurück, wo das globale GoldTex-Konsortium die radikale soziale Spaltung zwischen den Zonen 1, 2 und 3 verschärft, und erzählt die Wandlung des desillusionierten Ex-Polizisten Zem Sparak. Dieser Band enthüllt die Existenz einer „Zone 4“ in Kreta, die auf Ausbeutung und Sucht beruht, und verdeutlicht, wie globale Konzerne angesichts globaler Klimaprobleme ganze Nationen zur Rohstoffgewinnung und menschlichen Ressource degradieren. Diese Besprechung analysiert, wie Gaudé mit seiner analytisch kühlen und liturgisch verdichteten Sprache universelle Fragen nach Erinnerung, moralischer Integrität und individueller Handlungsmacht in einer konzern-dominierten Welt verhandelt, während Zems Rückkehr nach Athen seine persönliche Suche nach Identität und Widerstand gegen das Vergessen symbolisiert.

Ambivalenz der Sensibilität: Éric Fottorino

Éric Fottorinos Roman „Des gens sensibles“ ist ein Werk der Erinnerung, aber nicht im Sinne nostalgischer Rückschau, sondern als poetische Erforschung einer existenziellen Kategorie. Sensibilität ist im Roman doppelgesichtig: Sie bedeutet Offenheit, eine übersteigerte Empfänglichkeit für Schönheit, Wahrheit, Mitgefühl – zugleich aber macht sie verletzlich, exponiert, bedroht von der Gewalt der Geschichte, der Härte des Literaturbetriebs und der eigenen Selbstzerstörung. Fottorino stellt diese Ambivalenz im Dreiecksverhältnis zwischen Fosco, Clara und Saïd exemplarisch dar. Der Erzähler Jean Foscolani, genannt Fosco, blickt aus zeitlicher Distanz auf seine ersten Jahre in der Pariser Literaturszene der frühen 1990er zurück. Dabei, wird er von der Presseagentin Clara entdeckt und protegiert. Gleichzeitig tritt er in eine intensive Freundschaft mit Saïd, einem algerischen Schriftsteller, der in Frankreich im Exil lebt und zugleich von den Schatten des Bürgerkriegs verfolgt wird. Drei Figuren – drei Modi der Sensibilität: Clara als exzentrische Vermittlerin, die alles für die Literatur gibt; Saïd als politisch Verfolgter, der die Literatur als Zeugenschaft versteht; Fosco als junger Autor, der zwischen Faszination und Unsicherheit seine Stimme sucht.

Afrikanischer Klassizismus: alternative Geschichtlichkeit bei David Diop

David Diop gehört seit seinem preisgekrönten Roman „Frère d’âme“ (2018) zu den wichtigsten Stimmen der franko-senegalesischen Literatur. In „Où s’adosse le ciel“ (2025) führt er eine poetische und zugleich historiographische Suche fort, die bereits in seinen früheren Büchern sichtbar wurde: das Bestreben, afrikanische Geschichte jenseits kolonialer Narrative zu rekonstruieren. Das Neue an diesem Roman ist, dass er die Verbindungslinien nicht nur zwischen Kolonialzeit und Gegenwart zieht, sondern zwischen einer mythischen Vergangenheit – dem Ägypten der Ptolemäer – und dem Senegal des 19. Jahrhunderts. Der Roman entwirft eine alternative Geschichtlichkeit, die nicht auf Schrift, Monument oder Archiv basiert, sondern auf mündlicher Überlieferung und Erinnerung.

Apologie einer Wiederentdeckung: Célines verschollene Manuskripte und Véronique Chovin

Lucettes Erbe Die literaturwissenschaftliche Forschung zum Werk Louis-Ferdinand Célines erfuhr jüngst eine signifikante Erweiterung durch eine Reihe unerwarteter Entdeckungen. Im Zentrum dieser „wundersamen Wiederauferstehung“ steht die Gestalt Véronique Chovins, deren persönliche Erzählung sich auf untrennbare Weise mit der des „verfluchten“ Schriftstellers und seiner Witwe, Lucette Almansor, verbindet. Chovin, die in den 1970er Jahren als Siebzehnjährige …

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Kunst als Pharmakon: Schmerzpoetik bei Rose Vidal

Rose Vidals Roman „Drama doll“ (2025) eröffnet die neue Buchreihe „Aventures“ von Yannick Haenel bei Gallimard und stellt Schmerz ins Zentrum einer Erzählung, die nicht als linearer Bericht funktioniert, sondern als vielstimmige Montage: Gespräche, medizinische Details, Erinnerungen, mythische Analogien, kunsthistorische Referenzen. Schmerz erscheint hier nicht nur als Thema, sondern als formbestimmendes Prinzip. Die Erzählbewegung ist durchzogen von Pausen, Abschweifungen, Wiederholungen – Strukturen, die dem Rhythmus chronischer Schmerzen ähneln: sie kehren wieder, sie lassen sich nicht abschließen, sie modulieren Intensität und Wahrnehmung. Im Zentrum der Handlung stehen Emmanuelles jahrelange chronische Schmerzen, verursacht durch eine fehlgeschlagene Epiduralanästhesie während der Geburt ihrer Zwillingssöhne in Kalifornien, bei der einer der Zwillinge, Clément, verstarb. Diese traumatische Erfahrung führt Emmanuelle in eine Morphiumabhängigkeit, die sie über zwei Jahrzehnte begleitet. Die Erzählerin verbindet Emmanuelles Geschichte mit eigenen Erfahrungen, insbesondere ihrer chronischen Kälteempfindlichkeit, die sie als eine Form des Leidens begreift.

Sarah Kofman und die französisch-jüdische Literatur: Esra Akkaya

Esra Akkaya, Sarah Kofmans literarisches Werk: Frankreichs verdrängte Gedächtnisse. Berlin: De Gruyter, 2025.  Leben und Werk Sarah Kofman (1934–1994) war eine der französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts – Philosophin, Literaturwissenschaftlerin, Nietzsche-Interpretin und Shoah-Überlebende. Geboren in Paris in eine jüdisch-orthodoxe Familie, erlebte sie als Kind die Verhaftung ihres Vaters durch die französische Polizei während der Razzia im Juli …

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Schöne Lüge: Philippe Mezescaze

Philippe Mezescazes scheinbar autofiktionaler Roman „Mercurio“ (Mercure de France, 2025) ist eine Meditation über Erinnerung, Begehren, Freundschaft und die Unmöglichkeit, die Wahrheit eines Menschen festzuhalten, als mentir vrai, als bella menzogna. Erzählt wird die Geschichte einer langjährigen Dreierbeziehung zwischen dem Ich-Erzähler, seinem Lebenspartner Almano und dem titelgebenden Mercurio, einer ebenso charismatischen wie widersprüchlichen Figur. Der Roman beginnt mit Mercurios plötzlicher Wiederkehr nach Jahren der Abwesenheit, gefolgt von einer vagen Andeutung einer schweren Krankheit. Doch was als dokumentarischer Erzählbericht beginnt, entfaltet sich rasch zu einem vielschichtigen poetischen Text, der mit Fiktion und Erinnerung, Mythos und Lüge spielt.

Kindheit als Bühne, Theater als Heilung: Axel Auriant

Axel Auriants Roman „Rue de la Gaîté“ (2025) verfolgt die Entwicklung eines jungen Mannes namens Baptiste, der in der Welt des Theaters nicht nur eine berufliche Bestimmung, sondern vor allem ein Vehikel zur Bewältigung seiner Kindheitstraumata und zur Neubewertung seines Ichs findet. Der Roman verwebt die inneren Kämpfe des Protagonisten mit den äußeren Erfahrungen im Cours Florent und im Théâtre Montparnasse.

Aus Lügen sprudelt die Wahrheit hervor: Adrien Bosc

Adrien Boscs Roman „L’invention de Tristan“ (2025) ist eine Erkundung der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion in der literarischen Biografik, verpackt in die Form eines modernen Detektivromans. Der Roman erzählt die Geschichte des fiktiven amerikanischen Journalisten Zachary Crane, der nach Paris fliegt, um ein Porträt des rätselhaften und tragisch verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Tristan Egolf zu verfassen. Was als journalistische Recherche beginnt, entwickelt sich zu einer metatextuellen Reise, auf der Zachary Egolfs Leben – von seiner Ablehnung durch amerikanische Verleger über seine wundersame Entdeckung in Paris bis zu seinem frühen Tod – rekonstruiert.

Schuld, Scham, Freiheit: Marie-Ève Lacasse

Marie-Ève Lacasses Roman „La vie des gens libres“ (Seuil, 2025) ist ein so stilles wie hochkomplexes Erzählwerk über das Nachleben der Schuld, die Erfahrung von Stigmatisierung und das Ringen um ein neues Selbstbild. Im Zentrum stehen zwei Frauen, Clémence Thévenin – vormals Clémence Robert, Ärztin, Straftäterin, Häftling – und Laura Rolin, alleinerziehende Mutter, Medizinerin im prekären Übergang. Beide verbindet weder biografisch noch sozial ein direkter Kontakt, und doch legt Lacasse durch subtile narrative Parallelführung und symbolische Spiegelungen eine Art doppelter Frauenbiografie vor, die sich zu einer kollektiven Reflexion über die Möglichkeit weiblicher Freiheit verdichtet. Der Roman ist vieles zugleich: ein gesellschaftskritischer Text über Klassenverhältnisse, ein psychologisches Kammerspiel über Schuld und Einsamkeit, ein poetisches Mosaik aus inneren Monologen und konkreten Beobachtungen. In seiner politischen Tiefenstruktur lässt sich „La vie des gens libres“ auch als kritische Untersuchung des französischen Justiz- und Gesundheitssystems lesen. Dabei treten Fragen nach sozialer Teilhabe, nach Solidarität unter Frauen und nach der symbolischen Ordnung von Reinheit und Makel ins Zentrum. Was bedeutet es, „frei“ zu sein – und wer gehört zur „vie des gens libres“?

Vergil und der erste Mäzen zwischen Politik und Poesie: Pascale Roze

Pascale Rozes Roman „Le roman de Mécène“ (2025) ist eine Auseinandersetzung mit der Antike als lebendiger Quelle, der Rolle der Kunst in der Gesellschaft und der komplexen Persönlichkeit Mécènes. Der Text bricht bewusst mit konventionellen Erzählstrukturen und verwebt Gelehrsamkeit mit persönlicher Reflexion, um ein Bild des Mäzenatentums und seiner Zeit zu zeichnen. Als Freund Kaiser Augusts und Förderer von Dichtern wie Vergil, Horaz und Properz wurde Maecenas zum Namensgeber des Mäzenatentums. Mécène wird als komplexer Charakter dargestellt: ein etruskischer Ritter, Dichter, Dandy und zugleich ein von Ängsten geplagter Mann, der in einer Zeit gewaltsamer Umbrüche lebt und dennoch die Liebe zur Kunst und den Wunsch nach Frieden in sich trägt.

Hommage erweisen: Julien Perez

Julien Perez’ Roman „Hommages“ (P.O.L, 2025) ist ein auf den ersten Blick fragmentarisches, in Wahrheit aber äußerst konsistentes Werk, das aus einer Vielzahl von Stimmen besteht – Briefe, Reden, Erinnerungen, Innenschauen –, die sich allesamt auf die in den Bergen verschwundene (mutmaßlich verstorbene) Künstlerfigur Gobain Machín beziehen. Der Leser erfährt nichts direkt aus dessen Perspektive, sondern erhält Informationen ausschließlich über die Erinnerungen von Angehörigen, Freunden, Mitstreitern, Kritikerinnen und Familienmitgliedern. Die literarische Konstruktion bedient sich der rhetorischen Form des Nachrufs – daher der Titel Hommages –, um über das Leben, die Persönlichkeit und das Werk eines fiktiven Künstlers zu sprechen, der offenbar nicht zuletzt durch seine Ambivalenzen so stark nachwirkt. – Was wie ein kollektives Erinnerungsprojekt erscheint, ist zugleich ein poetologisch raffiniertes Vexierspiel über Wahrheit und Fiktion, Nähe und Distanz, über das Ich und den Anderen. Die Vielzahl der Stimmen verschmilzt zu einem Chor, der sich weniger durch faktische Konsistenz als vielmehr durch emotionale und metaphorische Verdichtungen auszeichnet. Die Erzählung entsteht dabei durch Differenz: Aus dem Nebeneinander von Widersprüchen, sich überlagernden Perspektiven, Leerstellen und Brüchen ergibt sich ein Bild von Gobain – und zugleich ein poetologisches Selbstporträt des Romans.

Gegen die Empathiemode: Dominique Rabaté

Der Pariser Literaturwissenschaftler Dominique Rabaté, durch zahlreiche Arbeiten zur französischen Gegenwartsliteratur ausgewiesen, bietet mit Limites de l’empathie eine kritische Auseinandersetzung mit der heutigen, oft unreflektierten Verherrlichung von Empathie und Identifikation. Rabaté, selbst als Professor auch Lehrender an der Universität, stellte fest, dass seine Studenten Identifikation häufig als die primäre Qualität eines Textes ansehen und sogar …

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Poetiken der Kindheit: Clothilde Salelles, Nos insomnies (2025)

Der Roman „Nos insomnies“ (2025) erzählt die Geschichte einer namenlosen Ich-Erzählerin, die Ende der 1990er Jahre in einem ländlichen Vorort aufwächst. Das zentrale und streng gehütete Familiengeheimnis ist die chronische Schlaflosigkeit, die „wie ein böser Zauber“ von einem Familienmitglied zum nächsten gleitet. Die Protagonistin ist eine aufmerksame Beobachterin, die ihren Vater, seine mysteriöse Arbeit im Labor und seine Reaktionen auf die Außenwelt (insbesondere Lärm und die Bedrohung durch die sich ausbreitende „Lotissement“-Bebauung) mit Argwohn und Misstrauen betrachtet. Sie führt „sehr ernsthafte Ermittlungen“ durch, um die unausgesprochenen Wahrheiten zu entschlüsseln, empfindet dabei aber Neid auf die „Probleme“ ihrer Freundin Julie, die benennbar sind und ihrer Existenz eine „Konsistenz“ verleihen. Sommerurlaube auf einem Campingplatz bieten eine temporäre Auszeit von der heimischen Beklemmung; hier scheint der Vater aufzublühen, und die Insomnie tritt in den Hintergrund, auch wenn der Sommer schließlich selbst von ihr „kontaminiert“ wird.

Sohn der Toten: Asya Djoulaït

Der Roman „Ibn“ erzählt die erschütternde Geschichte des fünfzehnjährigen Issa, dessen Welt zusammenbricht, als seine Mutter Leïla während des Nachmittagsgebets stirbt. Die fünf täglichen Gebete – Fajr, Dhuhr, ’Asr, Maghrib und ’Icha – strukturieren dabei nicht nur die Zeit, sondern spiegeln auch Issas emotionale Odyssee wider und markieren die zunehmende Verzweiflung und Entschlossenheit des Protagonisten. Getrieben von seiner Trauer und der Ablehnung, seine Mutter (nach dem Tod seines Vaters) erneut in die Hände fremder Bestattungsrituale zu geben, unternimmt Issa den mutigen, aber aussichtslosen Versuch, die Bestattungsrituale selbst zu inszenieren. Er plant, für seine Mutter ein persönliches Mausoleum zu bauen und die rituelle Waschung sowie die Totengebete eigenhändig durchzuführen, selbst wenn er dabei gegen traditionelle Normen verstößt. Diese eigenmächtigen Handlungen stehen im starken Kontrast zu den Erwartungen und der Sorge seiner Mutter Leïla, die sich stets bemüht hatte, ihm ein Ankommen und eine stabile Position in Frankreich zu ermöglichen, sei es durch Bildung, die bewusste Wahl des Wohnorts in Montreuil, um Ghettobildung zu vermeiden, oder die Teilnahme an der Koran-Schule, um ihn in der muslimischen Gemeinschaft zu verankern und zu verhindern, dass er sich „verloren“ fühlt. Issa navigiert dabei zwischen religiösen Regeln, persönlichen Überzeugungen und der harten Realität des Todes, der ihn mit seiner eigenen Identität als „Sohn der Toten“ konfrontiert.

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