Ich will alles geschrieben haben und alles zerstören: Pierre Michon
Der Artikel verfolgt exemplarische Interpretationslinien von Pierre Michons „J’écris l’Iliade“, das Homers „Ilias“ nicht nur nacherzählt, sondern mit wuchtiger, bildgewaltiger Sprache neu erschafft, indem es epische Gewalt, mythisches Begehren und Fragmente des antiken Epos in die Zerrissenheit der Moderne überführt. In 14 relativ autonomen Episoden verdichten sich poetische Halluzination und historische Reflexion zu einer fiebrigen Auseinandersetzung mit dem Erbe des blinden Homer, während Figuren wie Achilles, Helena oder Alexander nicht als starre Mythen, sondern als lebendige Obsessionen erscheinen. Michon verbindet anthropologische Perspektiven – etwa Descolas Analogismus oder Heideggers Idee des Tempels als Wahrheitsraum – mit einer archaisch-modernen Spannung, die Schönheit und Schrecken gleichermaßen beschwört und entgrenzt. Besonders provokant sind Szenen, in denen Erotik und Gewalt, Kunst und Zerstörung in eine fiebrige Spannung geraten, etwa bei Persephones Entführung, oder wenn die abschließende Bücherverbrennung den Mythos gleichzeitig tilgt und fortschreibt. Die besondere Leistung des Buchs liegt darin, die „Ilias“ nicht als literarisches Monument zu feiern, sondern als ein unablässiges Ringen mit Sprache und Geschichte zu zeigen – eine atemlose, schmerzhafte, hypnotische Beschwörung, die das Epos neu erfindet und zugleich radikal infrage stellt.