Literatur als Ressource? Der kommende Frankoromanistikkongress und Patrice Jean

Patrice Jean, Kafka au candy-shop: la littérature face au militantisme, Editions Léo Scheer, 2024.

Literatur am Scheideweg: eine nötige Debatte

Tout livre, tout texte vivant doit être une déclaration de guerre. (Patrice Jean)

Patrice Jeans Kafka au Candy-shop zeichnet das Bild einer Literatur, die sich unter dem süßlichen Druck politischer Moral zum gefügigen Konsumgut wandelt, während zugleich – wie bei Kafka – das Rätselhafte, die Erfahrung des Unverfügbaren, in ihr erstickt werden soll; der Titel selbst bringt diese absurde Kollision in ein Bild: Kafka, Inbegriff der existenziellen Düsternis und ästhetischen Radikalität, steht plötzlich zwischen Bonbonregalen, umgeben von wohlfeilen Empörungswaren, und soll dort seine surreale Verzweiflung in ein gefälliges Produkt verwandeln; genau in dieser grotesken Verschiebung verortet Jean die Krise der Gegenwartsliteratur, die das Dunkle, Ambivalente und Ungefügige zugunsten sofort verständlicher Haltungszuckerwaren aus dem Regal räumt – und damit die Literatur ihrer gefährlichen Kraft beraubt, dem Leser nicht Bestätigung, sondern Bewusstsein zu geben.

Wenn die Ausschreibung des kommenden Frankoromanistikkongresses das Leitmotiv res:sources entfaltet, markiert sie damit jenen Punkt, den Jean zur Problemzone erklärt: die Literatur als Rohstoff, als verwertbares Gut. Die Frage, die sich aus seiner Perspektive sofort stellt, lautet in höflicher, aber unmissverständlicher Zuspitzung: Wie soll die Literatur frei bleiben, wenn sie von vornherein als Ressource gedacht wird, als Mittel für gesellschaftliche Zielbestimmungen? Jean hätte in diesem Kontext nachgefragt, ob die dort beschworene „Quelle des Wissens“ nicht Gefahr läuft, alles Literarische auf seinen Informationsgehalt zu reduzieren, auf das, was messbar und vermittelbar ist, während das, was sich entzieht – Ambivalenz, Stil, existentielle Unschärfe – unbeachtet bleibt.

Die Leitfrage nach „Narrativen der Nachhaltigkeit“ berührt bei Jean eine tiefe Skepsis: Wie kann man verhindern, dass sich hinter dieser Erzählung eine neue Moraltheologie verbirgt, die Literatur als Werkzeug der Bewusstseinsproduktion vereinnahmt? Darf der Roman noch verletzen, zweifeln, scheitern, wenn sein Wert sich daran bemisst, ob er Verantwortung übernimmt und Lösungen anbietet? Jean würde hier wohl die feine, aber entscheidende Differenz anmahnen zwischen einer Literatur, die politisch denkbar macht, und einer Literatur, die politisch vorschreibt.

Die Ausschreibung spricht von Zugängen, Verteilungen, Kontrollmechanismen – Kategorien, die Jean notwendig machen würden, darauf hinzuweisen, dass gerade das Ungeregelte, das Unkontrollierbare zum Wesenskern der Kunst gehört. Welche Räume werden für jene Werke geöffnet, die sich durch ihre Nutzlosigkeit auszeichnen, durch ihren Eigensinn, ihre Weigerung, eine Ressource zu sein? Wer schützt die literarische Freiheit, wenn Wissenschaft und Politik sich einig sind, Literatur möge zur „Transformation“ beitragen?

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Von der Femme fatale zum Subjekt: Milady de Winter zwischen Dumas und Clermont-Tonnerre

Adélaïde de Clermont-Tonnerres „Je voulais vivre“ (2025) ist der stupende Versuch, einer ikonisch verfemten Figur der Weltliteratur ihre Geschichte zurückzugeben: Milady de Winter, dem vermeintlich „bösen Engel“ aus Dumas’ „Les Trois Mousquetaires“ (1844). Der Roman macht aus der Dämonin eine historisch und psychologisch nachvollziehbare Frau, deren Leben von männlicher Gewalt geprägt ist. Kindheitstraumata, soziale Entrechtung und die Logik eines Geschlechterverhältnisses, das Frauen nur als Besitz oder Gefahr kennt, bilden den verleugneten Hintergrund jener Taten, die der Kanon als metaphysische Verderbtheit etikettierte. „Je voulais vivre“ ist damit weit mehr als ein intertextuelles Spiel: Es erprobt einen Korrekturmodus des Erzählens, in dem literarische Mythen befragt und Figuren aus ihrer jahrhundertelangen Verurteilung befreit werden dürfen – nicht um sie reinzuwaschen, sondern um sie endlich zu verstehen. – Der Artikel verfolgt dieses Unternehmen in einer präzisen Gegenlektüre zu Dumas. Er arbeitet heraus, wie Clermont-Tonnerre die bekanntesten Milady-Episoden – Verführung, Giftmord, Rache, Brandmal und Hinrichtung – nicht negiert, sondern narrativ neu perspektiviert, sodass aus „Bosheit“ Kausalität wird und aus „Verführung“ ein Akt der Selbstbehauptung. Der Aufsatz zeigt, wie konsequent die Autorin kommunikative Machtverhältnisse, Zeitstrukturen und Figurenkonstellationen umbaut, um die Deutungshoheit vom männlichen Urteil zurück in die Innenwelt der Figur zu verlagern. Dadurch wird „Je voulais vivre“ zum literarischen Plädoyer dafür, solche fiktionale Frauenfiguren im Erzählen Gerechtigkeit erfahren zu lassen. Die Rezension begründet abschließend, weshalb Clermont-Tonnerres Roman den Prix Renaudot 2025 verdient erhalten hat.

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Der Geist von Locarno. Europa hundert Jahre nach der Friedenskonferenz: Christine de Mazières

Christine de Mazières hat mit „Locarno“ (2025) einen ebenso historischen wie gegenwärtigen Roman geschrieben – ein europäisches Zeitstück über Diplomatie, Erinnerung und die Macht der Sprache. Ausgangspunkt ist die Friedenskonferenz von 1925 im Schweizer Locarno, wo Aristide Briand, Gustav Stresemann und Austen Chamberlain nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs den Versuch einer moralischen Erneuerung Europas unternahmen. De Mazières erzählt die Ereignisse als vielstimmiges Tableau: Politiker, Journalisten und Künstler agieren auf einer Bühne, auf der politische Geste, rhetorische Form und symbolische Handlung unauflöslich ineinanderfließen. Eine Journalistin, Louise Lenfant, wird zur Zeugin dieser „Comédie humaine de la paix“, deren fragile Hoffnung sie zugleich privat wie politisch trägt. Das emblematische Bild des Romans – ein Adler, der auf die Friedenstauben herabstößt – fasst das Paradox dieser Epoche in einer einzigen Metapher zusammen. – Der Aufsatz „Der Geist von Locarno“ liest de Mazières’ Roman nicht als bloße historische Rekonstruktion, sondern als literarische Reflexion über das Verhältnis von Geist und Politik. Im Zentrum steht die Frage, ob Frieden denkbar ist, solange Europa geistig zerspalten bleibt. Der Text zeigt, wie der Roman Valérys Diagnose aus „La Crise de l’esprit“ (1919) fortschreibt: den Versuch, nach der Katastrophe eine „fédération de l’esprit“ – eine Föderation des Geistes – zu entwerfen. Die Besprechung deutet Locarno als narrative Antwort auf Valérys Frage „Et qu’est-ce que la paix?“ und als Echo auf Heinrich Manns Forderung nach einem „geistigen Locarno“. De Mazières verbindet die moralische Vision Briands mit der skeptischen Intelligenz Valérys und verwandelt die politische Bühne von 1925 in ein literarisches Labor für die Gegenwart: ein Jahrhundert später, im Jahr 2025, bleibt Locarno eine offene Frage an Europa selbst – ob es fähig ist, seine geistigen Kräfte zu erneuern, bevor der Adler wieder auf die Tauben herabstößt.

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Prix Goncourt 2025, die vier Finalisten: Emmanuel Carrère, Laurent Mauvignier, Nathacha Appanah, Caroline Lamarche

Laurent Mauvignier gewinnt den Prix Goncourt 2025 für seinen Roman La maison vide (Das leere Haus). Der 58-jährige Schriftsteller wurde am Dienstag, dem 4. November, von der Jury der Académie Goncourt ausgezeichnet.

Den Prix Renaudot 2025 erhielt Adélaïde de Clermont-Tonnerre für Je voulais vivre. Das Buch setzte sich gegen Feurat Alani (Le ciel est immense), Anne Berest (Finistère), Justine Lévy (Une drôle de peine) und Louis-Henri de La Rochefoucauld (L’Amour moderne) durch.

Alle vier Finalisten des Prix Goncourt wurden bereits hier auf Rentrée littéraire besprochen: Zu Emmanuel Carrère mit Kolkhoze, Laurent Mauvignier mit La maison vide, Nathacha Appanahs La nuit au cœur und Caroline Lamarches Le bel obscur, alle 2025.

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Jenseits der Zivilisation: Fabrice Humbert

Fabrice Humberts Roman „De l’autre côté de la vie“ (2025) entfaltet eine apokalyptische Fluchtgeschichte, in der der Ich-Erzähler – ein Pariser Anwalt – mit seinen Kindern einer in Bürgerkrieg versinkenden Hauptstadt entkommt. Die Reise in Richtung einer halbmythischen „République du Jura“ wird zur moralischen Abwärtsbewegung: Was als Schutzversuch beginnt, verwandelt sich in eine phänomenologische Studie der Verrohung. Sprache selbst wird als Trägerin des Giftes sichtbar – „die Worte bereiteten den Boden“ –, während Gewalt aus Angst und Anpassung erwächst. Der Roman verbindet dystopische Gesellschaftsanalyse mit einer existenziell aufgeladenen Poetik: Kindheit erscheint als letzter Rest des Humanen, Natur als trügerischer Trost, Utopie als fragiles Wunschbild, das im Feuer vergeht. Die Parabel zeigt nicht primär äußere Katastrophen, sondern die Erosion des Menschlichen durch den Zerfall gemeinsamer Werte und des sozialen „Flüssigen“ früherer Höflichkeit. – Die Besprechung interpretiert diesen Roman als Fortschreibung von Humberts Gesamtwerk und stellt ihn in einen systematischen, thematisch wie poetologisch kohärenten Kontext. Sie argumentiert doppelt: einerseits wird der Roman als literarische Verdichtung aller bisher entwickelten Motive gelesen – Zerfall sozialer Bindungen, mediale Vergiftung der Realität, die Illusion von Utopien –, andererseits als radikalisierte Selbstkorrektur des Autors, die frühere moralische Hoffnungen skeptisch bricht. Die Kritik macht sichtbar, wie der Erzähler als Jurist seine eigene Sprache einer „Reinigung“ unterzieht und das Werk als Gegenrede zur Gewalt formuliert, obwohl es zugleich die Grenzen solcher Rede demonstriert. Die Rezension macht deutlich, dass Humbert sein zentrales Thema – die Selbstgefährdung des zivilisierten Menschen – in diesem Roman zu einer kompromisslosen literarischen Konsequenz führt.

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Jordan Bardellas Wunschfrankreich: Schönheit und Größe des Ersatzkandidaten

Jordan Bardellas beide Bücher – „Ce que je cherche“ (2024) und „Ce que veulent les Français“ (2025) – bilden eine strategische Doppelfigur aus Selbstmythos und Selbstlegitimierung. Das erste Werk stilisiert Bardellas Aufstieg vom Banlieue-Kind zum „republikanischen Erfolgsmodell“ im Rassemblement National und verbindet dies mit einer Pathetik nationaler Größe, die an Bonaparte und De Gaulle anknüpft. Die Suche nach „Grandeur“ wird zum Selbstrechtfertigungsnarrativ eines Erlösers der „vergessenen Franzosen“. Das zweite Buch transformiert diesen Erlösungsanspruch in eine Galerie scheinbar authentischer Bürgerporträts, die freilich nur die Stimmen eines homogenen, arbeitsethisch moralisierten „Volkes“ repräsentieren, das er selbst verkörpert. Bardella verschmilzt so Erzähljournalismus, politische Mythologie und Wahlkampfrhetorik zu einer ästhetischen Form des populistischen Pathos, in der „Empathie“ zur Bühne ideologischer Vereinfachung wird. Die Nation erscheint als Sakralgemeinschaft gegen Eliten, Migration und Europa; Differenz wird moralisch entwertet. – Der Artikel liest diese Werke als Zwillingsakte politischer Selbstvermarktung: Literatur als Kandidatur. Er zeigt, wie beide Bände den Bolloré-Medienkomplex und dessen rechtspopulistische Agenda stützen: das erste als Biographie eines „designierten Ersatzkandidaten“ für Marine Le Pen, das zweite als emotionalisierter Wahlkampf unter dem Deckmantel volksnaher Authentizität. Die Analyse deutet Bardellas Pathos vom „wahren Frankreich“ als projektive Selbstvergöttlichung und macht sichtbar, dass sein Wunschfrankreich nicht auf Pluralität, sondern auf Symbolmacht zielt: Schönheit und Größe eines Kandidaten – ästhetisch präzise, politisch gefährlich.

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Endlichkeit und Neubeginn: Hélène Cixous

Hélène Cixous’ neues Buch „Ce qui n’était jamais arrivé“ (Gallimard, 2025) ist eine späte, erschütternde Meditation über Leben, Sprache und Tod – und zugleich ein poetisches Testament. „Ce qui n’était jamais arrivé“ ist ein Journal de la fin, aber zugleich ein Buch der Auferstehung. Während der Körper zerfällt, lebt die Sprache fort – unermüdlich, widerspenstig und zärtlich. Cixous lässt ihre Figuren – die Mutter Ève, den Vater Georges, den Bruder Pierre, die Katzen Haya und Isha – in einem lebendigen Totengespräch wiederkehren. Sie alle bewohnen den Zwischenraum von Traum und Erinnerung, sind „revenants“ in einem Theater aus Stimmen.

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Im Kreis der Schuldigen: ein Frankreich in Spiegeln bei Philippe Brunel

Philippe Brunels „Le cercle des obligés“ (Grasset, 2025) ist eine hybride Form aus roman vrai, journalistischer Recherche und autobiographischer Rückschau. Ausgangspunkt ist die berüchtigte affaire Markovic: 1968 wird Stefan Markovic, Serbe, Schattenmann und „doublure lumière“ Alain Delons, ermordet aufgefunden – eine Episode, in der sich Kino, Politik und Unterwelt auf beklemmende Weise überkreuzen. Fünfundzwanzig Jahre später nimmt ein namenloser Ich-Erzähler, ehemals Reporter, die Spuren seines Mentors Pierre Salberg wieder auf. Er kehrt an die Schauplätze der Vergangenheit zurück, um ein unvollendetes Manuskript fortzuschreiben und zugleich sich selbst zu rekonstruieren. Das Frankreich des Romans ist das Land nach 1968 – ein Land zwischen politischer Dekadenz und kulturellem Glanz. Brunel schildert die Zeit als spectacle permanent, als Schau- und Trugbild. Die Wirtschaftswunderjahre sind vorbei, und hinter der Fassade des Gaullismus breiten sich Müdigkeit, Korruption und moralische Entleerung aus. Brunel zeigt die Entstehung einer neuen Popkultur, in der sich Politik, Showbusiness und Kriminalität mischen. Alain Delon verkörpert „le héros absolu“, aber zugleich das Symbol einer Generation, die Schönheit mit Verdacht belegt. Der Roman zitiert ganze Passagen aus Interviews, Zeitungsartikeln, Polizeiberichten – eine Collage der medialen Oberfläche. Populäre Figuren (Melville, Bardot, Fallaci, Visconti, Aznavour) erscheinen nicht als bloße Namen, sondern als Zeichen einer Ästhetik, die das Reale in das Kinematographische überführt.

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Der verwaiste Künstlereingang: Patrick Modiano und Christian Mazzalai

„70 bis, entrée des artistes“ (Gallimard, 2025), entstanden in einer unerwarteten Zusammenarbeit zwischen dem Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano und dem Musiker Christian Mazzalai, präsentiert sich als akribische Untersuchung, die die verborgene Geschichte einer einzelnen Pariser Adresse im Herzen des Montparnasse enthüllt: der 70 bis rue Notre-Dame-des-Champs. Basierend auf einem Schatz an Archiven, Fotografien und Kleinanzeigen, rekonstituiert das Werk die Periode vom Zweiten Kaiserreich (ab 1850) bis in die 1960er Jahre. Dieser Ort fungierte jahrzehntelang als ein vibrierendes und äußerst kosmopolitisches Zentrum für über zweihundert Künstlerinnen und Künstler, Musiker, Schriftsteller und Poeten. Die Erzählung beginnt mit der Künstlerkneipe „La Boîte à Thé“ (gegründet um 1850), deren ausschweifendes Treiben – komplettiert durch das Maskottchen, den Affen Jacques – die spätere, nächtliche und internationale Animation Montparnasses vorwegnahm. Illustre und ungleiche Namen, wie der offiziöse Maler Jean-Léon Gérôme, Robert Louis Stevenson (der die dortigen Feste beschrieb), der Dichter Ezra Pound (der von 1921 bis 1924 dort lebte) sowie Pablo Picasso, kreuzten sich in den Ateliers des Gebäudes. Ebenso beleuchtet das Buch das Leben weniger bekannter Künstler und die Kolonien amerikanischer, skandinavischer und japanischer Immigranten, die in den für Frauen geöffneten Akademien der Umgebung malen lernten. In seiner melancholischen Gedächtnisarbeit knüpft „70 bis“ unmittelbar an Patrick Modianos literarisches Oeuvre an, indem es präzise Adressen und die flüchtigen Spuren der Vergangenheit nutzt, um die Geschichte der verschwundenen Existenzen freizulegen. Die detektivische Suche (die Modiano und Mazzalai als „chasse au trésor“ bezeichnen) erweckt Figuren zum Leben, die in den Schatten der offiziellen Geschichte verblieben. Dazu gehören die rebellische und surrealistisch orientierte Künstlerin Claude Cahun oder der mysteriöse Georges Ivanovitch Gurdjieff, ein Guru, dessen Auftritte in Modianos Werk („Souvenirs dormants“) nachhallen. Besonders pointiert ist die Erzählung über den ukrainischen Maler Samuel Granowsky, den „Cow-boy de Montparnasse“, der 1942 bei der Razzia des Vél’d’Hiv verhaftet und in Auschwitz ermordet wurde. Die Gedächtnisarbeit reicht bis in die dunklen Jahre der Besatzung (Années noires), in denen im 70 bis eine amerikanische Bildhauerin Masken für entstellte Soldaten fertigte, und die das Viertel seiner einstigen Brillanz beraubten. Der Text schließt mit der Feststellung, dass das Viertel Montparnasse seine künstlerische Seele weitgehend verloren hat, was sich in der existentiellen Frage am Ende des Buches kristallisiert: „Où sont les artistes?“

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Frankreichs Glasvitrine und Algeriens Schädel: Clara Breteau

Clara Breteaus Roman „L’Avenue de verre“ (2025) unternimmt durch die Figur der Dozentin Anna eine dichte Untersuchung kolonialer Nachwirkungen und familiärer Schweigeverhältnisse. Ausgangspunkt ist das rätselhafte Doppelleben des Vaters, eines algerischen Einwanderers aus den Aurès-Bergen, der als Fensterputzer in Frankreich arbeitete und seine Herkunft hinter einer „Glashaut“ der Assimilation verbarg. Die titelgebende Avenue de verre wird zur Chiffre einer Nation, die sich selbst in spiegelnden Oberflächen betrachtet und ihre koloniale Schuld überblendet. Annas Nachforschungen führen sie von den eigenen familiären Leerstellen – dem verweigerten Namen, der Verstoßung durch den Vater, dem administrativen „NÉANT“ auf der Heiratsurkunde der Großeltern – bis in die Archive der kolonialen Gewalt, wo sie auf die enthaupteten algerischen Widerstandskämpfer stößt, deren Schädel im Musée de l’Homme lagern. Breteau verbindet hier intime Erinnerung mit politischer Archäologie: Die gläserne Transparenz des Vaters steht für das Schweigen der Geschichte, das Anna durchbrechen will. Doch die Erkenntnis, dass Sichtbarkeit selbst ein Akt der Verschleierung ist, prägt ihre Suche – jede Klärung erzeugt neuen Nebel, jedes Wort gebiert Schweigen. In diesem Zusammenhang greift der Roman auch Kamel Daouds Motiv des „verschwundenen Körpers“ auf, um die Erfahrung einer postkolonialen Entkörperlichung zu beschreiben, in der die Nachgeborenen nur noch Schatten und Spiegelbilder ihrer Geschichte sehen. – Die Rezension liest Breteaus Roman als eine Poetik der Auslöschung, in der Glas, Spiegel und Transparenz zu zentralen semantischen Feldern des postkolonialen Bewusstseins werden. Sie hebt hervor, dass Breteau das familiäre Schweigen nicht psychologisch, sondern politisch deutet: als koloniale Disziplinierung der Erinnerung, die in den Körpern und Biographien weiterwirkt. Der Vater, der sich in „Johnny“ umbenennt und Spuren löscht, problematisiert ein System, das koloniale Gewalt in Sauberkeit und Ordnung verwandelt. Die Besprechung betont die Doppeldeutigkeit von Reinigung und Verschmutzung, Sichtbarkeit und Verschwinden – eine Dialektik, die Annas Forschung ebenso strukturiert wie ihre eigene Identität. Durch den Rückgriff auf Abdelmalek Sayads Konzept der „double absence“ und Kateb Yacines Idee des „néant“ zeigt der Roman, dass das Schweigen kein Fehlen, sondern ein sedimentierter Widerstand ist. Der abschließende Akt – die Weitergabe des Namens Hadj und das Singen eines kabylischen Liedes – wird in der Rezension als Geste der Heilung gelesen, die das Trauma nicht tilgt, sondern es in eine poetische Kraft der Rückverwandlung überführt: aus der gläsernen Leere entsteht ein durchlässiges, atmendes Gedächtnis.

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Chronik der Macht von Versailles nach Silicon Valley: Marc Dugain

Marc Dugains „Légitime violence“ (2025) erscheint als fulminante Rückkehr des Autors zur historischen Erzählung, die zugleich das gesamte politische Denken seines Werks bündelt. Im Frankreich Ludwigs XIV. verknüpft Dugain die „Affaire des poisons“ mit einer Anatomie der Macht, deren Strukturen vom höfischen Zeremoniell bis in die intimsten Beziehungen reichen. Der Roman zeichnet den Hof als mikropolitisches System permanenter Kontrolle: Rituale, Sprache und Architektur verwandeln Unterwerfung in Bewunderung, Gewalt in Ordnung. In der Figur der Marquise de Brinvilliers, die sich aus der patriarchalen Enge befreien will, verdichtet Dugain das Spannungsverhältnis von Geschlecht, Körper und Herrschaft – ihre „Verbrechen“ sind Akte der Revolte gegen eine göttlich legitimierte Gesellschaftsordnung. Die höfische Welt erscheint dabei als Laboratorium der modernen Macht, in dem Schönheit und Disziplin ununterscheidbar werden. Dugain dekonstruiert die Ästhetik des Barock als politische Technik: Versailles selbst wird zum Symbol einer „alchimie du pouvoir“, die Unterdrückung in Glanz verwandelt. – Der Aufsatz liest den Roman als den historischen Endpunkt einer dreißigjährigen „Chronik der Macht“, die von den gueules cassées des Ersten Weltkriegs (in „La Chambre des officiers“) über die geheimdienstliche Manipulation in „L’Emprise“ bis zur digitalen Überwachung in „Transparence“ reicht. „Légitime violence“ führt diese Linie genealogisch zurück zum Ursprung: zur Erfindung der „legitimen“ Gewalt im Absolutismus. Dugain zeigt, dass sich der Zwang zur Ordnung und die Legitimation von Herrschaft – ob durch Krone, Staat oder Algorithmus – nur in ihren Formen verändern. Der König, der seine Macht durch Glanz stabilisiert, ist der Vorläufer des modernen Technokraten, der Transparenz zur Tugend erklärt. Damit wird das 17. Jahrhundert bei Dugain zum Spiegel des 21.: Die sichtbare Gewalt des Schwerts ist durch die unsichtbare Gewalt des Systems ersetzt. „Légitime violence“ ist weniger historische Fiktion als politische Archäologie – der Roman legt die Tiefenschicht frei, in der sich Macht, Ästhetik und Legitimation bis heute gegenseitig hervorbringen.

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Ersticken des Naturalismus: Émile Zola und Jean-Louis Milesi

Jean-Louis Milesis „Flamboyante Zola“ (2025) erzählt die Geschichte von Alexandrine Zola, der Ehefrau des berühmten Schriftstellers, als intime Tragödie und als Revision eines nationalen Mythos. Ausgangspunkt ist eine anonyme Denunziation: Alexandrine erfährt, dass ihr Mann seit Jahren eine Geliebte hat und mit ihr zwei Kinder. Was folgt, ist ein Kammerspiel aus Schmerz, Wut und Erinnerung, das den großen Naturalisten Émile Zola nicht als moralischen Helden, sondern als widersprüchlichen, verletzlichen, feigen Mann zeigt. In dichten, filmisch montierten Szenen verfolgt Milesi, wie Alexandrine zwischen hysterischer Raserei und stillem Stolz schwankt, wie das Private in die Öffentlichkeit dringt, und wie die Lüge einer Ehe zur Metapher einer Gesellschaft wird, die sich selbst betrügt. Der Roman greift naturalistische Verfahren – genaue Beobachtung, materielle Sprache, soziale Diagnose – auf, aber wendet sie nach innen: in das Innere einer Frau, deren Atemnot, deren Küche, deren Kleider und deren Schrei zum Ort der Wahrheit werden. Der Artikel zeigt, dass Milesi den Naturalismus poetologisch weiterführt, indem er seine empirische Kälte psychologisch auflädt. „Flamboyante Zola“ erzählt nicht nur eine Ehe, sondern die Krise einer Epoche: Die Dritte Republik erscheint als von Skandalen und moralischer Heuchelei durchzogene Bühne, auf der der „Schriftsteller der Wahrheit“ selbst zum Opfer seiner eigenen Ideale wird. Das semantische Netz aus Luft, Licht, Nahrung und Stoff spiegelt Atem, Körper, Wahrheit und Verstellung, während narrative Techniken wie innere Monologe, mise en abyme und theatralische Szenenführung das Geflecht von Öffentlichkeit und Intimität verdichten. Am Ende steht kein Triumph, sondern ein Ersticken – Zolas Tod im Gas ist die Allegorie einer erstickten Republik, Alexandrines Überleben ihre bittere Läuterung.

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Die Brüder Goncourt und die Poetik der Verdopplung: Alain Claude Sulzer

Alain Claude Sulzers Roman „Doppelleben“ (2022) ist nun auf Französisch erschienen, mit dem Titel „Les Vieux Garçons“ (2025), er zeichnet mit präziser, kunstvoll distanzierter Sprache das Leben der Brüder Edmond und Jules de Goncourt nach – zwei Schriftstellern, die im Paris des 19. Jahrhunderts untrennbar miteinander leben, denken und schreiben. Sulzer verwebt historische Fakten mit poetischer Imagination: Von den alltäglichen Ritualen und Gesprächen über Kunst und Stil bis zu den leisen Katastrophen ihres Privatlebens entfaltet sich ein Kammerspiel über Abhängigkeit, Krankheit und schöpferische Obsession. Der Roman begleitet die Brüder von ihrem literarischen Aufstieg bis zu Jules’ körperlichem und geistigem Verfall, den Edmond mit verzweifelter Fürsorge, aber auch mit ästhetischer Kälte beobachtet.

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Uchronie des Ukrainekriegs: Antoine Rault

Der chorale Roman „L’Angle Mort du Destin“ von Antoine Rault (2025) präsentiert in seiner uchronischen Struktur zwei alternative Szenarien für die Schicksale seiner Figuren, die in Kiew oder Moskau leben und mit ihren Karrieren und persönlichen Ambitionen beschäftigt sind. Szenario A („Ce qui n’arriva pas“) beleuchtet eine Welt des Friedens, in der die russische Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 ausbleibt, wodurch die Protagonisten sich mit den moralischen Kompromissen, dem Opportunismus und der Korruption des postsowjetischen Alltags auseinandersetzen müssen. Im drastischen Kontrast dazu steht Szenario B („Ce qui arriva“), welches die tatsächliche Invasion nachzeichnet und zeigt, wie dieser historische Bruch die Leben der Charaktere radikal verändert, sie zur Flucht, zum Widerstand und zu existentiellen Entscheidungen zwingt. Die Konfrontation dieser zwei Szenarien erzeugt einen wahrhaftigen Schwindel, indem sie das Ausmaß misst, mit dem Entscheidungen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, die Existenz der Individuen bestimmen. Durch die Gegenüberstellung von Fiktion und Realität wirft das Buch ein hartes, aber enthüllendes Licht auf unsere menschliche Verfassung und untersucht die Freiheit und Determination im Angesicht der Geschichte.

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Cortés und die Zukunft des Mestizaje: Christian Duverger

Die „Mémoires de Cortés“ (2025) des Experten für die Anthropologie Mesoamerikas Christian Duverger präsentieren sich als eine fiktive, aber auf historischen Quellen basierende Autobiografie, geschrieben in Form eines langen Briefes von Hernán Cortés an seinen ältesten Sohn Martín im Jahr 1543. Cortés reflektiert am Ende seines Lebens und möchte seinem Sohn erklären, woher er kommt. Der Text ist eine introspektive Analyse des Lebens und der Entscheidungen von Cortés. Abschließend beleuchten die „Mémoires“ Cortés‘ innere Zerrissenheit und seine literarische Selbsterfindung. Er versuchte, seine doppelte Lebensführung – politisches Kalkül (Heirat mit Juana de Zúñiga) versus Liebe zu Marina und dem Mestizaje-Projekt – zu vereinen.

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Zolas Erbe Bourdieu: Lars Thorben Henk

Lars Thorben Henk, Zola vor Bourdieu: eine Studie zur Protosoziologie in Émile Zolas «Les Rougon-Macquart» (1871–1893), Mimesis 125 (Berlin; Boston: de Gruyter, 2025).

Die Rekonstruktion einer impliziten Soziologie

Die Dissertation Zola vor Bourdieu von Lars Thorben Henk, erschienen in der Reihe Mimesis: romanische Literaturen der Welt, liefert eine literaturwissenschaftliche Neulektüre von Émile Zolas Arbeiterroman-Trilogie, indem sie dessen implizite Soziologie durch die Brille der Ethnosoziologie Pierre Bourdieus entschlüsselt. Die Studie setzt bei der historischen Feststellung an, dass Émile Zola zeitlebens mit seinen Romanen, insbesondere durch die kompromisslose Darstellung des französischen Volks (le peuple), Anstoß erregte. Basierend auf der Einsicht Jacques Dubois’, dass Zolas Erklärung sozialen Handelns mittels der Kategorien hérédité und milieu Parallelen zu Bourdieus Habitus- und Feldkonzept aufweist, formuliert Henk die zentrale Forschungsfrage: die systematische Rekonstruktion von Zolas impliziter Soziologie, fokussiert auf das französische Volk, aus der Perspektive von Bourdieus ökonomischer Ethnosoziologie. Die Notwendigkeit dieser Perspektivierung ergibt sich aus der Beobachtung, dass Zolas Kategorien hérédité und milieu Ähnlichkeiten mit Bourdieus Konzepten von Habitus und Feld aufweisen, eine systematische Verhältnisbestimmung zwischen Zolas Romanen und Bourdieus Soziologie jedoch bislang eine Forschungslücke darstellt. Zola wird dabei als Pionier innerhalb des sich konstituierenden Forschungsfelds der Sozialwissenschaften verstanden, dessen literarische Werke protosoziologische Erkenntnisse enthalten.

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Frauenmord als Denkstruktur: Ivan Jablonka

Ivan Jablonka, La culture du féminicide: histoire d’une structure de pensée (Traverse, 2025).

Systemisches Phänomen: sexuelle Gewalt, Verstümmelung und Tötung

Ivan Jablonkas La culture du féminicide: histoire d’une structure de pensée (2025) präsentiert eine literaturwissenschaftliche und soziohistorische Analyse, die die kulturelle Zentralität des sexualisierten Frauenmordes in der westlichen Zivilisation freilegt. Jablonka, bekannt für seine Werke über Gewalt und soziale Strukturen, stellt die gynozidale Kultur oder Feminizid-Kultur („culture du féminicide“) 1 als eine universelle Denkstruktur dar, die die Gesellschaft durchdringt und das Vergnügen am weiblichen Terror vorbereitet. Die grundlegende Problemstellung ist das Ambivalente der gesellschaftlichen Obsession: Wir sind kulturell nach sexualisierten Morden „süchtig“, während wir diese Taten als abscheulich verurteilen. Jablonka definiert den Feminizid als „meurtre d’une femme en tant que femme“ (Mord an einer Frau als Frau), ein vorsätzliches und systemisches Verbrechen, das in sozialen Ungleichheiten wurzelt. Er segmentiert diesen Akt theoretisch in drei „items gynocidaires“: (1) sexualisierte Gewalt (Vergewaltigung, Prostitution), (2) Verstümmelung (Folter, Zerstückelung) und (3) die eigentliche Tötung. Die zentrale These ist, dass diese gynozidale Kultur durch die „idéologie gynocidaire“ – die Rechtfertigung dieser Darstellung – den Feminizid von der Mythologie bis zur Gegenwart als „logique qui traverse la société tout entière“ legitimiert und normalisiert.

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    Anmerkungen
  1. „Der Begriff ‚Femizid‘ wurde in den 1990er Jahren von Feministinnen in den USA geprägt, um die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu bezeichnen. Feministinnen in Mexiko entwickelten den Begriff weiter und fügten die Silbe „ni” an Feminizid an, um auszudrücken, dass es sich nicht um die Ermordung von Frauen als individualisierte Fälle, sondern um ein Massenverbrechen handelt.“ https://contre-les-feminicides.ch/femizid-oder-feminizid/, 21. Dezember 2023.>>>

Die zerlegte Republik und ein Wal-Skelett: Aurélien Bellanger

Im Jahr 2023 verbringt der Erzähler seine Zeit damit, Höhlen in der französischen Provinz zu erforschen, die Knochen eines an der Normandieküste verendeten Wals zu sammeln und an den Pariser Protesten gegen die Rentenreform teilzunehmen. Aurélien Bellangers „Grottes, baleine, révolution“ (2025) entwirft ein poetologisch-politisches Triptychon der Moderne, in dem Höhlen, Walfischknochen und Revolutionsversuche zu Denkfiguren einer historischen Reflexion werden. Das Buch verwandelt das kartographische Projekt früherer Werke in eine Topographie des Unterirdischen: „Grottes“ stehen für das Bewusstsein als geologischen Raum, „baleine“ für den Tod als Naturprozess, „révolution“ für die erschöpfte Idee kollektiver Erneuerung. Aus der Vermischung von autobiographischer Erfahrung, geologischer Empirie und mythischer Symbolik entsteht eine Poetik des Grabens – das Denken als Sedimentation, das Schreiben als Erdarbeit. Bellanger macht aus dem Erzählen eine Form des Wissens, in der Materie, Erinnerung und Geschichte ineinandergreifen, und formuliert so eine Moderne, in der Erkenntnis nicht Erleuchtung, sondern Verdunkelung bedeutet. – Im Verhältnis zu Bellangers „Le vingtième siècle“ und „Les Derniers Jours du Parti socialiste“ erscheint das neue Buch als Umkehrung und Verkörperung ihres intellektuellen Systems. Während die Revolution dort als ideologische oder archivische Spur behandelt wurde – einmal als technokratischer Verdachtsbegriff des Staates, einmal als rhetorische Hülse der erlahmten Linken –, wird sie hier zum tektonischen, fast tellurischen Ereignis, zur Naturkraft der Geschichte. Bellanger führt die benjaminische Idee des „Eingedenkens“ aus der Bibliothek ins Erdreich zurück: Das Denken steigt hinab in das Dunkel der Materie, um das Vergessene zu retten. Die Revolution und der tote Wal werden zu Relikten des Realen, zu Fossilien des Politischen, die nur noch im Schreiben bewegt werden können.

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Rückkehr in die École normale supérieure: Éliette Abécassis

Éliette Abécassis, selbst normalienne und agrégée der Philosophie, kehrt in 45 rue d’Ulm (Flammarion, 2025) im Rahmen der intimen literarischen Buchreihe „Retour chez soi“ in ihre ehemalige Studentenbude (thurne) der École normale supérieure (ENS) zurück. Das Buch ist ihr erstes autobiografisches Werk in der ersten Person und verdichtet die Erfahrung einer Nacht und eines Tages zu einer zugespitzten Bilanz ihrer intellektuellen Generation. Ausgelöst wird die Zeitreise durch einen Karton alter Korrespondenz und insbesondere durch einen seit dreißig Jahren ungeöffneten Brief, dessen Enthüllung den narrativen Rahmen bildet und die Erzählung über Freundschaft, Scheitern und intellektuelle Freiheit befeuert.

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Geschlecht, Macht und Computerspiel: Pauline Gonthier

Polis, Maskulinismus und politischer Opportunismus

Pauline Gonthiers Parthenia ist ein seltenes Beispiel zeitgenössischer Literatur, das Soziologie des Digitalen, Geschlechtersemiotik und politische Psychologie in eine ästhetische Form bringt, die zugleich analytisch und poetisch ist. Der Roman beschreibt parabelartig eine Zeit, in der Sprache selbst zu Code wird und Geschlecht zu Interface. In diesem Sinn ist Parthenia nicht nur ein Ort, sondern ein Verfahren – eine Simulation des Mythos in der Syntax des Digitalen.

Gonthiers Parthenia (2025) ist ein Roman über die gefährliche Schönheit der Ordnung: Zwischen den leeren Bildschirmen eines arbeitslosen Gamers und den makellos beleuchteten Büros einer politischen Beraterin entfaltet sich das Doppelporträt einer Gesellschaft, die sich selbst in Mythen und Algorithmen spiegelt. Baptiste, gefangen in den toxischen Foren der maskulinistischen „redpill“-Kultur, und Léa, Attachée eines nationalistischen Politikers, bewegen sich in unterschiedlichen, aber gleichförmig codierten Welten: seine digitale Misogynie und ihr professioneller Zynismus sind zwei Seiten derselben Kommunikationslogik – kühl, effizient und körperlos. Zwischen ihnen entsteht Parthenia, eine virtuelle Stadt im Stil der Antike, die den Traum von Disziplin, Reinheit und männlicher Macht in ein Spiel verwandelt – und so die Grenze zwischen Simulation und Wirklichkeit zum Einsturz bringt. Beide Figuren sind Spiegel desselben ideologischen Klimas: der eine introvertiert, regressiv und narzisstisch; die andere extravertiert, funktionalistisch und opportunistisch – zwei Gesichter eines posthumanen Projekts, das Körper, Sprache und Moral virtualisiert. Der Roman konfrontiert Baptiste, den entwurzelten jungen Mann, der seine Affekte und seine Sexualität in Foren und Gamingwelten kanalisiert, mit Léa, der jungen Politikverwalterin, die sich zwischen Anpassung, Machtfaszination und moralischem Ekel bewegt.

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