Boualem Sansals Festnahme und ein Raumschiff

Boualem Sansals jüngster Roman „Vivre: le compte à rebours“ („Leben: der Countdown“, Gallimard, 2024) erzählt eine dystopische Geschichte in einer apokalyptischen Welt. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass der Text voller Anspielungen auf die politischen, sozialen und kulturellen Realitäten Algeriens ist. Durch seine metaphorische Erzählweise übt Sansal nicht nur Kritik an globalen Phänomenen wie Totalitarismus und Umweltzerstörung, sondern auch an spezifischen Missständen in seinem Heimatland. Angesichts der Verhaftung des Schriftstellers Boualem Sansal lesen wir den Roman „Vivre“ anders: Hier werden indirekt Themen wie Festnahmen und staatliche Repression angesprochen, jedoch oft in einem metaphorischen oder dystopischen Kontext.

Du, ja. Du, nicht. Laurent Gaudé über den 13. November 2015

Laurent Gaudé wählt für sein Buch über die Attentate des 13. November 2015 eine literarische Form, die sich zwischen Drama, Lyrik und dem Erzählerischen des Romans bewegt. „Terrasses“ ist kein Dokumentarstück, das die Fakten der Attentate auflistet. Stattdessen greift Gaudé auf die Mittel der literarischen Verfremdung und die Kraft der Sprache zurück, um einen tiefen menschlichen Zugang zu einem kollektiven Trauma zu finden.

Ich vertraue dem Tod, er ist ein alter Freund: Grégory Cingal

Unter den letzten drei Büchern der Shortlist für den französischen Grand prix du roman de l’Académie Française findet sich neben Abel Quentins Erzählung über den Club of Rome und Miguel Bonnefoys Familiengeschichte aus Venezuela auch ein Roman über eine Flucht aus dem Konzentrationslager Buchenwald, der auf wahren Ereignissen beruht. In „Les derniers sur la liste“ verbindet Grégory Cingal historische Genauigkeit mit emotionaler Tiefe und wirft Fragen nach Schuld, Mut und der Unauslöschlichkeit des Traumas bei den Überlebenden auf.

Vorbereitung auf das Nichts: das zweite Leben von Philippe Sollers

Auf dem Höhepunkt der Explosion der französischen Revolution im 18. Jahrhundert ließ der Marquis de Sade seine kriminelle Lieblingsfigur Juliette sagen: „Die Vergangenheit ermutigt mich, die Gegenwart elektrisiert mich, ich fürchte die Zukunft wenig.“ Das 21. Jahrhundert hört eine neue postromantische Juliette jeden Tag wiederholen: „Die Vergangenheit deprimiert mich, die Gegenwart belastet mich, ich habe Angst vor der Zukunft.“

Aurélien Bellanger als Lorenzaccio: Les derniers jours du Parti socialiste

Aurélien Bellanger bewegt sich mit dem jüngsten Roman „Les derniers jours du Parti socialiste“ in diesem Herbst 2024 zwischen politischer Fiktion, Schlüsselroman und gesellschaftlicher Satire, mit Elementen der Utopie, aber auch der Dystopie einer zunehmend autoritären Republik, in der die laizistischen Ideale instrumentalisiert werden, um eine islamophobe Politik durchzusetzen. Der Roman zeichnet ein Gesellschaftsbild, in dem die traditionellen politischen Lager der Republik bzw. die Grenzen zwischen links und rechts verschwimmen und in der nationalistische und identitäre Bewegungen das politische Spektrum dominieren.

Gespenster der Avantgarde: Wolfgang Asholt

Nach eigenem Verständnis des Avantgardeforschers und Romanisten Wolfgang Asholt ist „Das lange Leben der Avantgarde: eine Theorie-Geschichte“ als erster Versuch zu werten, nach Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“ (1974) und Paul Manns „Theory-Death of the Avant-Garde“ (1991) eine neuere Untersuchung der Avantgarde-Theorie vorzulegen, die ihre Entwicklung in historischen wie aktuellen Konstellationen und Artikulationen untersucht.

Laure Gouraige und eine nicht komische Komödie

„Ich schreibe eine Komödie. Eine nicht komische Komödie. Einen leichten und heiteren Text, aber ohne Humor.“ Laure Gouraiges dritter Roman über den Versuch, heute einen Roman mit Leichtigkeit zu schreiben: „Le livre que je n’ai pas écrit“ (2024).

Die Jungfrau im lebendigen Diesseits: Kamel Daouds Doppelroman

„Am Verhältnis zur Frau zeichnet sich das Verhältnis zur Fantasie, zum Begehren, zum Körper, zum Leben ab.“ Kamel Daouds Roman „Houris“ (2024) lässt sich als Gegengeschichte zu seinem Museumsdialog „Le peintre dévorant la femme“ (2018) lesen: Während hier ein fiktiver körperfeindlicher Djihadist mit der erotischen westlichen Malerei von Pablo Picasso konfrontiert ist, lässt in „Houris“ Daoud eine schwangere Überlebende des algerischen Bürgerkriegs über die Stummheit der Frauen nachdenken, als Geschichte einer einzelnen und kollektiven Wiederauferstehung.

Wenn man sagt, dass man nichts mehr sagen kann

Alain Robbe-Grillet bei Emmanuelle Lambert

Eine junge Frau kommt nach Paris und entdeckt ein intellektuelles Milieu, eine Männerkaste: den Papst des Nouveau Roman, Alain Robbe-Grillet, und seine Ehefrau Catherine, die eine radikale Freiheit von Sexualität und von Literatur vertreten. Lambert hatte schon das Nachwort zu Catherines Buch Alain geschrieben, 2009 eine Erzählung über ihre Zusammenarbeit mit Robbe-Grillet ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht, Mon grand écrivain. Raphaëlle Leyris interpretiert in Le Monde dieses neuerliche Buch nach 15 Jahren so, dass sich Lambert nicht mehr versteckt, es wird ein Bildungsroman in weiblicher Perspektive, etwa im Kapitel „Heldinnen“. Claire Devarrieux in Libération lobt die Schwebe zwischen Komik und Zuneigung, Empathie und Distanzierung. So wagt Lambert Widerspruch, als Robbe-Grillets letztes Buch Pädophilie und Inzest feiert: Fantasie ist keine Ausrede. Lambert konzediert im Nouvel Observateur aber auch: „Es gibt immer eine Kluft zwischen der Erinnerung an einen Schriftsteller und der Realität seiner Bücher.“ Die Autorin erzählt u.a. vom Bewusstsein des „Rock-Stars der Avantgarde“ für Besitz, Hierarchie und Macht, von den Strukturen der Mitarbeiter am Institut und den feinen akademischen Unterschieden, von den unangemessenen sexuellen Fragen Robbe-Grillets bei ihrer ersten Begegnung im normannischen Schloss, die 36 Kapitel enden mit einem ambivalenten Fest.

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Unheil der Reisenden: Jérôme Ferrari

Der Goncourt-Preisträger Jérôme Ferrari eröffnet 2024 mit „Nord Sentinelle“ eine Trilogie über die Begegnung mit dem Anderssein. Der Korsikaroman der Sippe Romani nimmt einen Mord zum Gegenstand, erweist sich aber zugleich als Gegenüberstellung einer traditional-archaischen Inselwelt mit einer vom Overtourism ruinierten Landschaft und Gesellschaft.

Woher kommt also die Freude?

Tanguy Viel publiziert 2024 bei Minuit ein Vivarium, also eine Anlage für Lebewesen. Der Verlag kündigt diese Fragmente an als „verglaste Schutzräume für das sich bewegende Denken“, eine Lebensumgebung also, in der wir uns aufhalten können, „im unaufhörlichen Austausch des Lebendigen und des Benannten, wo man manchmal am Rande aller Dinge flüchtige Entschlüsse und Sprachausfälle entdeckt“. Tiphaine Samoyault schreibt in Le Monde: „Das Ergebnis ist ein Buch, das sich sehr von seinen üblichen Büchern unterscheidet, weit entfernt vom Roman, wie er ihn überwiegend geschrieben hat, von Cinéma bis La Fille qu’on appelle (Minuit, 1999 und 2021), und der Vertrauen in die Fiktion, ihre Figuren und ihre Szenerien hat.“ Im Gespräche mit Nathalie Crom in Télérama bekennt Viel: „Der Roman scheint mir nicht mehr die Fähigkeit zu besitzen, die neuen Komplexitäten der Welt zu absorbieren – wie er es im 19. und 20. Jahrhundert getan hatte.“

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Vergil und der Geruch des Großen Brandes

C’est le 16 Juillet je scrute le Journal du Ciel. Je note le nom de ce jour, ce matin il vit encore. Dans quelques jours, une semaine, au plus tard, il ne sera plus, j’aurai oublié son nom, je ne saurai plus son âge. En hâte prudente je l’inscris dans sa fraîcheur de 16 Juillet, il est 5 h 30, je vois une étoile, seule, nue, pure, un infime trou de lumière dans les ténèbres. Scintille comme le clin d’œil de l’actualité, un pétillement d’En-Haut. Seule mon imagination peut croire entendre l’Ukraine agoniser à l’Ouest. Je ne l’exerce pas. L’étoile et moi nous nous parlons. Je suis dans l’état de la disciple d’un Virgile du tout premier siècle des apocalypses, qui reçoit une lettre céleste.

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Sprache von Phrasen und leeren Wörtern befreien

Paul eût préféré rester allongé jusqu’à ce que la faim l’emportât, plutôt que s’arracher à la torpeur, cette pleine conscience de lui-même qu’il goûtait enfin. Il n’était pas seul ; il était habité par l’univers ; chaque grain de poussière avait un sens ; les vers de terre étaient à leur place (les vers de terre étaient superbes, tout comme les scarabées, les fourmis, les champignons molletonneux) ; les oiseaux chantaient des psaumes ; les étoiles révélaient son destin : tout semblait parfait – sitôt qu’il eut fait abstraction des hommes. Peut-être était-ce vrai, les hommes étaient les gardiens de l’enfer des autres hommes qui leur servaient eux-mêmes de geôliers.

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Diese kaum entworfenen Geschöpfe der Maler

On les distingue à peine tant ils sont petits, au fond de cette majestueuse allée bordée d’immenses cyprès. Sont-ils vraiment là, si infimes dans ce décor qui les écrase ? Et pourquoi le dessinateur a-t-il voulu leur donner cette vie, pour minuscule qu’elle soit ? Entendait-il, de ces silhouettes tout juste identifiables, faire des créatures humaines, des personnages ?

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Proust selbst auf einem alten, knisternden Grammophon

Les mondes mettent longtemps à mourir, plus encore à disparaître tout à fait. Ils cohabitent plutôt, se superposent et traînent dans le temps. Ils se prolongent et s’éternisent, par la voix des témoins qui, de récits en conversations, de souvenirs en affabulations, passent le relais, dans un chant en canon qui se perd en échos interminables. Dès l’adolescence, j’ai aimé me trouver dans l’orbe de gens âgés, très âgés parfois, dont la façon de parler, les expressions, les intonations venaient d’une autre époque. Il me semblait que, par eux, je pouvais entendre le passé, seule façon de lui donner corps et, partant, de l’imaginer. Le fétichisme de ma quête s’accommodait d’approximations. Je me souviens d’un ami de mon père, le critique de cinéma Jean Domarchi, imitant Baudelaire, ou plutôt reproduisant l’imitation entendue de quelqu’un qui avait connu le poète… Baudelaire réincarné dans l’embrasure du salon ! Je vérifie sur Internet : Jean Domarchi est mort en janvier 1981. J’avais, au mieux, treize ans lorsque je l’ai entendu déclamer, mais je jure me souvenir comme hier de sa diction un peu sinueuse, sévère, comme retenue, corsetée, filtrant de lèvres quasi closes. La bouche de Baudelaire, sur la photographie de Carjat.

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Die Zeit mit den Materialien der Zeit reparieren

Alice Guy, Les Résultats du féminisme (1906)

Au fil de ses recherches, Constance a découvert que le destin des films d’Alice Guy n’est pas une exception. On estime que les deux tiers des pellicules des quinze premières années du cinéma ont disparu. En nitrate de cellulose, elles sont hautement inflammables et le gaz qu’elles dégagent les rend explosives. Plus une pellicule vieillit et s’endommage, plus sa température d’autocombustion baisse. « Films flammes », des désastres en puissance. Leur conservation est délicate mais qu’importe, il n’était pas question de les épargner à l’époque. Les films étaient avant tout des produits de consommation ; le public veut de la nouveauté, on recycle les sels d’argent et la cellulose pour en faire d’autres films, on détruit les pellicules pour libérer de la place.

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Warten auf Yoann: Laurent Mauvignier, Proches

Im Jahr 2023 erscheinen gleich zwei Romane von Laurent Mauvignier auf Deutsch: sein 500 Seiten starker Roman „Histoires de la nuit“ (2020), außerdem „Des hommes“ (2009). In beiden Fällen problematische Familienarrangements, ebenfalls 2023 kommt Mauvigniers Theaterstück „Proches“ auf die Bühne: ein Sohn, dessen erwartete Rückkehr die Familie zerstören oder enthüllen könnte, wie bei Aischylos, Pasolini, Molière oder Lagarce. Ein Stück aber auch über das Schreiben und die Sprache für die Bühne.

Cultiver mon jardin

« Ver de terre, d’abord, ce n’est pas très gentil comme nom, c’est fait pour blesser. Il vaut mieux parler de lombrics pour leur redonner un peu de dignité scientifique. Famille : lombricidae. Espèce : lombricus terrestris. Et ces lombrics représentent la première biomasse animale terrestre. Autrement dit, si on les met tous sur une balance, ils pèseront plus lourd, et de loin, que les Homo sapiens, les éléphants et les fourmis réunis. Pour donner un ordre de grandeur, il y en a entre une et trois tonnes à l’hectare, en tout cas dans les sols où l’homme n’a pas posé ses sales pattes. »

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Schließlich ist das hier nicht wirklich Marokko

Elle s’est interrompue, a fait bouger lentement la pierre la plus proche d’elle dans la poussière, avant de reprendre :

— Au fond, ça veut dire quoi toujours ? Tu sais, ici tout le monde pense que la ville n’appartient à personne, que c’est différent du reste du pays. Et c’est vrai, parce que Tanger est spéciale, elle semble libre, différente, grouillante, pleine de tapages et d’arcanes. Mais si tu écoutes un peu autour de toi, tu verras qu’il y a une autre vérité qui commence à éclore.

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