Brandungsgischt und Resonanz: Maylis de Kerangal
Maylis de Kerangals jüngster Roman „Jour de ressac“ (2024) wird im vorliegenden Artikel primär durch das übergreifende Werkprinzip ihrer Bücher (u.a. „Naissance d’un pont“ 2010, „Réparer les vivants“ 2014, „À ce stade de la nuit“ 2014, „Un monde à portée de main“ 2018, „Kiruna“ 2019, „Canoës“ 2021, „Seyvoz“ 2022 mit Joy Sorman, „Un archipel“ 2022) der Analogie, Korrespondenz und Resonanz erschlossen, die als strukturelle Basis des Œuvres der Autorin dienen. – Die Handlung setzt mit einem Anruf der Kriminalpolizei aus Le Havre ein, der die Protagonistin mit dem Fund eines „nicht identifizierten Mannes“ konfrontiert und sie tief in ihre eigene Vergangenheit sowie die Historie ihrer Heimatstadt eintauchen lässt. Le Havre selbst erscheint dabei als „geisterhafte Stadt“, deren zerstörte und wiederaufgebaute Schichten, insbesondere die der alliierten Bombardierungen von 1944, eine palimpsestische Erinnerungslandschaft bilden, in der die Gegenwart von den Echos des Vergangenen durchdrungen ist. Die zentrale Metapher des Romans, der „ressac“ – die Rückbrandung oder das Brechen der Wellen am Ufer – symbolisiert, wie die Erinnerung in mächtigen Wellen heranrollt, sich bricht und dabei ein flirrendes Bild hinterlässt, das die Erzählerin passiv trifft und doch den Impuls zum Schreiben liefert. Der Text wird somit weniger zu einem konventionellen Kriminalroman, sondern durch eine ausgeprägte introspektive Dimension der Ich-Erzählerin zu einer poetologischen Reflexion über die Funktionsweise von Erinnerung und die Art und Weise, wie die Vergangenheit im Präsens nachhallt. – Die Faszination des Romans liegt in seiner tiefgehenden Untersuchung von Identität und Unbeständigkeit. Der unbekannte Tote am Strand avanciert dabei zu einem zentralen, leeren „Zeichen“, das für die Protagonistin als Katalysator zur Sinnstiftung dient. Sie wird nicht zur klassischen Ermittlerin, sondern zu einem „Medium“, das die Spuren des Toten als Projektionsfläche für existentielle Fragen nach Verlust und Identität nutzt. Ihre Profession als Synchronsprecherin, die das Einfühlen in „fremde Stimmen“ und das Verschmelzen mit anderen Identitäten erfordert, wird durch die existenzielle Bedrohung der Künstlichen Intelligenz und die Möglichkeit des Stimmklonens bedroht. – Das Schreiben selbst wird zu einer „Schreibweise des Kontakts“, die darauf abzielt, die Erfahrung der Realität und des tieferen Zusammenhänge in ihren Analogien sinnlich greifbar zu machen. Der Sinn wird nicht krimigemäß in einer finalen Identifizierung des Toten gefunden, sondern in der narrativen Reise selbst. Die Erzählerin findet Halt und Identität in der Bewegung des Erzählens, wodurch das Erzählen selbst zum „Überlebensmechanismus und zur Quelle des Sinns“ in einer von Verlust und Unsicherheit geprägten Welt wird.