Von der Fußnote zur Gegengeschichte: Olivier Rolin zu Victor Hugo
Olivier Rolin entwickelt in „Jusqu’à ce que mort s’ensuive“ (Gallimard, 2025) aus einer randständigen Passage der „Misérables“ eine konsequente Gegengeschichte. Bei Hugo erscheinen Emmanuel Barthélemy und Frédéric Cournet nur als exemplarische Figuren innerhalb der Barrikadenmythologie von 1848, deren Schicksal in wenigen Sätzen moralisch geschlossen wird. Rolin löst sie aus dieser symbolischen Funktion und rekonstruiert ihre Lebenswege von den Junikämpfen über das Londoner Exil bis zu Duell und Galgen. Aus Hugos Miniatur entsteht eine materialreiche Chronik, in der Barthélemy als Produkt des Bagno und Cournet als widersprüchlicher Republikaner erscheinen – nicht als Typen, sondern als historische Existenzen ohne Erlösungslogik. Die Rezension liest Rolins Buch als Entmythologisierung durch Präzision. Rolin widerspricht Hugo nicht offen, sondern setzt dort an, wo dessen epische Ordnung brüchig wird. Gegen Hugos Verdichtung stellt er Chronologie, Archivmaterial und erzählerische Nüchternheit. So verschiebt sich der Maßstab von Sinnstiftung zu Beschreibung: Jean Valjeans Erlösung steht Barthélemys Verhärtung gegenüber, der emphatische Titel „Les Misérables“ der administrativen Kälte von „Jusqu’à ce que mort s’ensuive“. Der nüchterne Schluss am Galgen wird als methodische Setzung gelesen: Geschichte erzeugt keinen Sinn von selbst. Literatur kann sie sichtbar machen – aber nicht erlösen.
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