Soziologie als Serienmord: Raphaël Quenard

Der namenlose Erzähler von Raphaël Quenards Roman „Clamser à Tataouine“, ein „jeune marginal“ und „joyeux sociopathe“, beschließt nach einem gescheiterten Suizidversuch in Paris, sich an der Gesellschaft zu rächen, indem er stellvertretende weibliche Figuren aller sozialen Schichten aufspürt und tötet, um ihr die Rechnung für seine Niederlage zu präsentieren. Er schreibt diese „épopée macabre“ als Memoiren in Tataouine bei der 82-jährigen Liliane nieder, wird jedoch am Ende von Liliane und Albane (Hortense, der Tochter seines ersten Opfers Marthe) durch eine perfekt inszenierte Rache getötet. Die vom Monster beschriebene französische Gesellschaft ist eine Ansammlung mehr oder weniger unvollkommener Wesen, deren Schichten durch Entfremdung gekennzeichnet sind, sei es durch die existenzielle Not der Armen oder den materiellen Überfluss und die Zwänge der Selbstinszenierung der Reichen. Die Gesellschaft wird als korrupt und verlogen dargestellt, da ihre Mitglieder unablässig Schein und Lüge (Jargon, Statistiken, „bagage culturel de façade“) benutzen, um ihren „chaos intérieur“ zu verbergen. Folglich ist diese „juxtaposition d’êtres aussi imparfaits“ aus Sicht des Erzählers zum Scheitern verurteilt, und er empfindet die symbolische Auslöschung ihrer Repräsentanten als eine notwendige und logische Konsequenz. Raphaël Quenards „Clamser à Tataouine“ erscheint als ein düsterer, postmoderner „Reigen“, in dem das erotische Spiel der Klassen, das bei Arthur Schnitzler noch soziale Masken entlarvt, in einen Kreislauf von Hass, Gewalt, moralischer Leere und schwarzem Humor umschlägt.

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