Leïla Slimani: die Wahrheit den fantasielosen Familien

J’ai ordonné à Tibari de mettre le feu à tous les cartons. Je déteste les romans où l’on retrouve un manuscrit perdu, des cassettes contenant des confessions, les vestiges d’une vie qu’on n’a pas vécue. C’est trop facile, ça n’existe pas et avec le temps, il n’y a plus de secrets mais seulement des mystères. « Moins tu en sauras, mieux ça vaudra », disait mon père et j’ai fini par penser qu’il avait raison. Il faut laisser la vérité aux familles sans imagination.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Ich befahl Tibari, alle Kartons in Brand zu setzen. Ich hasse Romane, in denen man ein verlorenes Manuskript findet, Kassetten mit Geständnissen, die Überbleibsel eines Lebens, das man nicht gelebt hat. Das ist zu einfach, so etwas gibt es ja nicht, und mit der Zeit gibt es keine Geheimnisse mehr, sondern nur noch Mysterien. „Je weniger du weißt, desto besser“, sagte mein Vater immer, und ich fand schließlich, er hat Recht. Man sollte die Wahrheit den fantasielosen Familien überlassen.

Leïla Slimanis nun abgeschlossene Romantrilogie Le pays des autres mit dem gleichnamigen ersten Band (2020), mit Regardez-nous danser (2022) und J’emporterai le feu (2024) zeichnet die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen hinweg nach und spiegelt zugleich die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche Marokkos wider. Im Zentrum stehen die Mitglieder der Familie Belhaj, deren Schicksale eng mit der wechselvollen Geschichte des Landes verbunden sind. Der erste Band, Le pays des autres, beginnt in der Zeit der französischen Kolonialherrschaft und endet mit der Unabhängigkeit Marokkos. Der zweite Band, Regardez-nous danser, setzt die Geschichte in den 1960er und 1970er Jahren fort, einer Periode der Modernisierung, aber auch politischer Repression. J’emporterai le feu, der abschließende dritte Teil, spielt in den 1980er bis 2000er Jahren und thematisiert die Herausforderungen einer neuen Generation, die zwischen Tradition und Globalisierung steht. Der Roman stellt die Fallhöhe von Mehdi, Mias Vater, ins Zentrum – von seinem Aufstieg als angesehener Banker bis zu seiner Inhaftierung. Trotz Mehdis tragischer Geschichte bleibt die Erzählung polyphon: Seine Frau Aïcha kämpft darum, die Familie zusammenzuhalten, während Mia und Inès ihren eigenen Weg suchen. Auch ältere Figuren wie Mathilde und Amine haben ihren Platz in der Geschichte. Slimani gelingt mit diesem Band ein eindrucksvolles Finale ihrer Trilogie, das die enge Verbindung zwischen Marokko und Frankreich reflektiert.

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Kolonialismus und Unabhängigkeit: Der erste Band Le pays des autres (wörtlich: „Das Land der anderen“) spielt in den 1940er und 1950er Jahren, einer Zeit, in der Marokko unter französischer Kolonialherrschaft steht. Die Hauptfigur Mathilde, eine Elsässerin, folgt ihrem marokkanischen Ehemann Amine nach Meknès, wo sie eine Farm bewirtschaften. Doch Mathilde fühlt sich als Fremde, sowohl in der französischen Kolonialgesellschaft als auch in der marokkanischen Gemeinschaft. Der Titel des Romans weist bereits auf das zentrale Thema hin: Identität und Zugehörigkeit. Mathilde ist eine Europäerin im „Land der anderen“, aber ihr Mann Amine ist ebenfalls ein Fremder, gefangen zwischen den Erwartungen der Kolonialherren und seiner marokkanischen Herkunft. Die Spannungen zwischen Franzosen und Marokkanern eskalieren schließlich im Unabhängigkeitskampf, der mit der Erlangung der Souveränität Marokkos 1956 endet.

Modernisierung und politische Repression: Der zweite Band, Regardez-nous danser („Schaut, wie wir tanzen“, vgl. meinen Artikel „Hippies in Marokko“ in Rentrée littéraire), spielt in den 1960er und 1970er Jahren, einer Zeit der politischen Instabilität, wirtschaftlichen Veränderungen und Modernisierungsversuche in Marokko. Die Unabhängigkeit hat nicht das erhoffte Ende der sozialen Ungerechtigkeiten gebracht. Mathildes Tochter Aïcha steht im Mittelpunkt dieses Romans. Sie verlässt Marokko, um in Frankreich Medizin zu studieren, kehrt jedoch zurück und versucht, als Ärztin in einer Gesellschaft Fuß zu fassen, die sich nur langsam verändert. Ihr Bruder Selim flieht hingegen nach Amerika und taucht in die Hippiekultur ein. Der Titel des Bandes verweist auf eine Generation, die sich zwischen neuen Freiheiten und alten Zwängen bewegt. Die Figuren tanzen im übertragenen Sinne zwischen Tradition und Moderne, zwischen Rebellion und Anpassung.

Der dritte Band nun, J’emporterai le feu („Ich werde das Feuer mitnehmen“), führt die Geschichte in die 1980er bis frühen 2000er Jahre fort. Marokko hat sich wirtschaftlich geöffnet, doch soziale Ungleichheiten, religiöser Konservatismus und eine wachsende Kluft zwischen Tradition und Moderne prägen die Gesellschaft. Leïla Slimani begleitet die dritte Generation der Familie Belhaj-Daoud, insbesondere Mia, die zwischen Marokko und Frankreich nach ihrer Identität sucht. Während ihr Vater Mehdi durch einen politischen Skandal stürzt und ihre Mutter Aïcha um den Erhalt der Familie kämpft, erlebt Mia in Paris Exil, Ausgrenzung und den inneren Konflikt zwischen familiärer Loyalität und persönlicher Freiheit. Der Roman thematisiert gesellschaftliche Zwänge, die Bürde der Vergangenheit und die Schwierigkeit, in einem „Land der anderen“ ganz man selbst zu sein.

Ils décidèrent de rejoindre les Champs-Élysées et descendirent dans le métro. Partout, autour d’eux, des familles, des couples, des groupes d’amis sautaient sur place en répétant « Et un et deux et trois zéro ». Le chauffeur de la rame hurla dans son micro : « On est les champions, on est les champions ! » Ils sortirent en bas de la plus belle avenue du monde et se retrouvèrent projetés au milieu d’une foule compacte. Les gens se bousculaient et Mia prit Inès par la main. « Reste à côté de moi. » Mais Inès n’entendait rien. Sa voix était couverte par le son des darboukas et des trompettes, par les cris et les chants. Inès n’aurait jamais pu imaginer autant de monde dans un même endroit. Ils étaient des milliers, des centaines de milliers et elle était là, au milieu de cette marée de perruques, de maillots, de drapeaux bleu, blanc, rouge. Il y avait surtout des hommes, des dizaines de milliers d’hommes, des Blancs, des Noirs, des Arabes, et juste en face d’elle, un garçon qui ressemblait à l’épicier berbère de l’Agdal et portait un bonnet phrygien. Certains arboraient un maquillage tricolore et les enfants réclamaient qu’on les porte sur les épaules. Les gens qu’elle croisait lui souriaient. Dans une rue adjacente, elle aperçut des jeunes qui grimpaient sur le toit des voitures. Elle n’aurait pas su dire si c’étaient des racailles ou des bourgeois, mais ils couraient sur les véhicules que des imbéciles avaient eu la mauvaise idée de garer là. Des jeunes étaient juchés sur des lampadaires ou des arrêts de bus pour mieux voir le visage de Zidane apparaître sur l’Arc de triomphe. « Zidane président ! » et la foule entonna La Marseillaise. Des drapeaux algériens et palestiniens s’agitaient sur les Champs-Élysées et une voix, celle de la multitude, chanta « Aux armes citoyens ». Mia lui hurla dans l’oreille : « La magie du football ! » Inès se rendit compte que c’était la première fois de sa vie qu’elle participait à un événement collectif, qu’elle était une parmi la foule. À Rabat, sa mère évitait les rassemblements et fuyait les manifestations. Quand les diplômés chômeurs se réunissaient devant le Parlement, Aïcha s’inquiétait : « Ça va encore dégénérer et je vais être en retard au travail. » Du coup, Inès n’avait jamais compris ce que les chômeurs réclamaient.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Sie beschlossen, zu den Champs-Élysées zu gehen, und stiegen in die U-Bahn. Überall um sie herum sprangen Familien, Paare und Gruppen von Freunden auf der Stelle und wiederholten „Und eins und zwei und drei zu null“. Der Zugführer schrie in sein Mikrofon: „Wir sind die Champions, wir sind die Champions!“. Sie stiegen unten auf der schönsten Straße der Welt aus und wurden mitten in eine kompakte Menschenmenge geschleudert. Die Leute drängten sich, und Mia nahm Inès bei der Hand. „Bleib an meiner Seite.“ Aber Inès konnte nichts hören. Ihre Stimme wurde vom Klang der Darboukas und Trompeten, von den Schreien und Gesängen übertönt. Inès hätte sich nie vorstellen können, dass so viele Menschen an einem Ort zusammenkommen würden. Es waren Tausende, Hunderttausende und sie war da, inmitten dieser Flut von Perücken, Trikots und blau-weiß-roten Fahnen. Es waren vor allem Männer, Zehntausende von Männern, Weiße, Schwarze, Araber, und direkt vor ihr saß ein Junge, der aussah wie der Berber-Lebensmittelhändler im Agdal und eine phrygische Mütze trug. Einige trugen dreifarbige Schminke und die Kinder verlangten, dass man sie auf den Schultern trug. Die Menschen, denen sie begegnete, lächelten sie an. In einer Seitenstraße sah sie einige Jugendliche, die auf die Dächer von Autos kletterten. Sie hätte nicht sagen können, ob sie Abschaum oder Spießer waren, aber sie rannten auf die Autos zu, die irgendwelche Idioten dort geparkt hatten. Jugendliche waren auf Laternenmasten oder Bushaltestellen geklettert, um besser sehen zu können, wie Zidanes Gesicht auf dem Triumphbogen erschien. „Zidane Präsident!“ und die Menge stimmte die Marseillaise an. Algerische und palästinensische Flaggen wehten auf den Champs-Élysées und eine Stimme, die Stimme der Menge, sang „Aux armes citoyens“ („Zu den Waffen, Bürger“). Mia schrie ihr ins Ohr: „Die Magie des Fußballs!“. Inès wurde klar, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einem kollektiven Ereignis teilnahm, dass sie eine in der Menge war. In Rabat hatte ihre Mutter Versammlungen gemieden und war vor Demonstrationen geflohen. Wenn sich arbeitslose Akademiker vor dem Parlament versammelten, machte sich Aïcha Sorgen: „Das wird wieder eskalieren, und ich werde zu spät zur Arbeit kommen.“ Infolgedessen hatte Inès nie verstehen können, was die Arbeitslosen forderten.

Der Titel des Romans stammt aus dem einleitenden Motto von Jean Cocteau: „Wenn dein Haus brennt, was würdest du mitnehmen? Ich würde das Feuer mitnehmen.“ Dies verweist auf das zentrale Thema des Romans: das Erbe, das jede Generation weiterträgt – sei es Schmerz, Hoffnung oder Widerstand. Der Buchtitel des abschließenden Bandes lässt sich als Bild für die Weitergabe von Identität, Geschichte und Widerstand interpretieren: Das Feuer steht für Leidenschaft, Revolution, aber auch für Zerstörung und Erneuerung. Alle Figuren des Romans kämpfen auf ihre Weise darum, das „Feuer“ ihrer Überzeugungen und Träume zu bewahren, auch wenn die Welt um sie herum im Wandel ist. Slimanis Roman erzählt, wie moderne Gesellschaften mit den Zumutungen der Moderne ringen. Die Figuren sind in einem Netz aus Vergangenheit und Zukunft gefangen, suchen nach Zugehörigkeit und müssen sich ständig neu erfinden. Zugleich setzt sich der Abschlussband von Slimanis Trilogie mit dem postkolonialen Erbe Marokkos sowie mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen des 20. und 21. Jahrhunderts auseinander; besonders die 1980er und 1990er Jahre werden von Slimani als Zeiten wirtschaftlicher Krise und wachsender religiöser Radikalisierung beschrieben:

Dans les années 1980 et 1990, les pays arabes souffrent. Beaucoup sont des dictatures. Le Maroc subit des ajustements structurels terribles. Et le conflit israélo-palestinien est très présent : on parle de la Palestine tout le temps, y compris dans le milieu francophone où j’ai grandi. En parallèle, on a fait venir des professeurs d’Egypte et d’Arabie saoudite. Une espèce de wahhabisation des esprits s’est faite, soutenue par l’arrivée des antennes paraboliques et des chaînes du Golfe qui ont éloigné la société marocaine de son islam traditionnel. Je me rappelle ainsi des choses ambiguës sur le 11-Septembre : des Marocains étaient contents, certains croyaient que des Palestiniens avaient commis l’attentat. Mais ça a été traumatisant pour la majorité, parce que le rapport à la vie reste sacré au Maroc. Et puis on a tous compris que nous allions le payer très cher…

Leïla Slimani im Interview mit Grégoire Leménager, Le Nouvel Observateur, 23. Januar 2025.

In den 1980er und 90er Jahren leiden die arabischen Länder. Viele sind Diktaturen. Marokko wird schrecklichen Strukturanpassungen unterzogen. Und der israelisch-palästinensische Konflikt ist sehr präsent: Man spricht ständig von Palästina, auch in dem französischsprachigen Milieu, in dem ich aufgewachsen bin. Parallel dazu wurden Lehrer aus Ägypten und Saudi-Arabien geholt. Es fand eine Art Wahhabisierung der Köpfe statt, unterstützt durch die Einführung von Satellitenschüsseln und Sendern aus den Golfstaaten, die die marokkanische Gesellschaft von ihrem traditionellen Islam entfremdeten. So erinnere ich mich an zweideutige Dinge über den 11. September 2001: Marokkaner waren glücklich, einige glaubten, dass Palästinenser das Attentat verübt hatten. Aber für die Mehrheit war es traumatisch, weil das Verhältnis zum Leben in Marokko immer noch heilig ist. Außerdem war uns allen klar, dass wir dafür sehr teuer bezahlen würden …

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Mia ist Teil einer Gruppe zeitspezifischer Charaktere und ihrer Blicke auf den Fortschritt: Inès, Mias jüngere Schwester, ist eine der Figuren, die ebenfalls die neue Generation verkörpern; sie wächst in einer wohlhabenden und gebildeten Familie auf, hat Zugang zu westlicher Kultur und Bildung, bleibt aber stärker mit den traditionellen Strukturen verbunden als Mia. Inès versucht, ihren eigenen Weg zu gehen, ist aber weniger rebellisch als Mia. Sie steht für jene jungen Frauen in Marokko, die sich innerhalb des Systems bewegen, anstatt es radikal zu hinterfragen. – Hakim ist ein enger Freund von Mia und repräsentiert die jungen Männer Marokkos, die sich mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten ihres Landes intellektuell kritisch auseinandersetzen. Er ist reflektiert, politisch interessiert und oft in Konflikt mit den Erwartungen der älteren Generationen. Während Mehdi, Mias Vater, sich mit politischen Kompromissen arrangiert, will Hakim das System hinterfragen. – Andere Freunde ihrer Jugend werden durchaus ambivalent gezeichnet: Abla ist eine Mitschülerin, zu der sich Mia hingezogen fühlt, aber gleichzeitig empfindet sie ihre Welt als fremd​. Adil ist ein Mitschüler, der mit sexistischer Sprache und problematischem Verhalten auffällt. Er repräsentiert eine bestimmte toxische Männlichkeit in der Jugendkultur​. Auch Badr ist ein Freund aus Mias Schulzeit, mit dem sie Erfahrungen in einer von männlicher Dominanz geprägten Jugendkultur macht. – Selma, eine Freundin Mias, steht für junge Frauen, die zwischen dem Wunsch nach Freiheit und den Erwartungen der Familie gefangen sind. Sie erlebt, wie schwierig es ist, ein selbstbestimmtes Leben in einer Gesellschaft zu führen, in der konservative Normen weiterhin vorherrschen. Ihre Geschichte verdeutlicht, dass die Herausforderungen für Frauen auch in der jüngeren Generation nicht verschwunden sind, sondern sich lediglich verändert haben. – Diese Figuren teilen mit Mia viele zentrale Themen der jüngsten Generation: Wie auch Mia kämpfen sie mit der Frage, was es bedeutet, marokkanisch zu sein in einer Welt, die immer stärker von globalen Einflüssen geprägt ist. Sie stehen zwischen den modernen Idealen von Freiheit und Selbstbestimmung und den Erwartungen von Familie und Gesellschaft. Viele von ihnen ringen mit der Frage, ob sie sich an das bestehende System anpassen oder es verändern wollen. Wenn auch Mia die zentrale Figur dieser Generation im Roman ist, bieten die anderen Charaktere unterschiedliche Perspektiven auf die Herausforderungen, mit denen junge Marokkaner konfrontiert sind. Selma Belhaj, die Tante von Mia und Inès und zugleich Schwester von Amine, Omar und Jalil, wird zwar als eine unabhängige, leidenschaftliche Frau dargestellt, die sich gegen gesellschaftliche Konventionen auflehnt. Ihre Schönheit und ihr Charisma machten sie einst zu einer bewunderten Frau, doch ihr Leben ist von enttäuschten Hoffnungen und gescheiterten Beziehungen geprägt. Selma hatte eine Affäre mit dem französischen Piloten Alain Crozières, aus der ihre Tochter Sabah hervorging. Um einen Skandal zu vermeiden, wurde sie mit Mourad, einem ehemaligen Soldaten, verheiratet. Nach dessen Tod entschied sie sich, in Rabat zu bleiben, anstatt auszuwandern​; ihr Leben ist gezeichnet von gescheiterten Träumen – insbesondere dem nie realisierten Wunsch, in New York zu leben. – Ihre Tochter Sabah ist von der schwierigen Vergangenheit ihrer Mutter geprägt und wird als zerrissener Charakter beschrieben, sie führt in Frankreich ein unstetes Leben und hat mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Selma denkt darüber nach, ihr die Wahrheit über ihren Vater zu sagen und sie zu den Crozières zu schicken, um ihr Erbe einzufordern, ist aber gleichzeitig von ihrer Instabilität enttäuscht, denn Sabah hat Probleme mit Alkohol, ist übergewichtig und lebt mit einem erfolglosen Mann in Amiens, den sie nicht einmal heiraten will​..

Leïla Slimanis J’emporterai le feu setzt sich mit verschiedenen Vorstellungen von Fortschritt auseinander: mit ökonomischer und technologischer Entwicklung, sozialer Modernisierung sowie individueller Selbstverwirklichung. Doch Fortschritt ist in diesem Roman kein linearer Prozess, sondern ein komplexes Wechselspiel aus Ambitionen, Abhängigkeiten und Illusionen. Während einige Figuren – etwa Mehdi und Mia – von einer Zukunft träumen, die durch Wachstum und Modernisierung geprägt ist, offenbaren andere, wie Amine und Aïcha, die Grenzen und Widersprüche dieser Visionen. Der Roman zeigt, dass Fortschritt nicht nur Wohlstand und Mobilität bedeutet, sondern auch Verwerfungen, Einsamkeit und soziale Ungleichheit mit sich bringt.

Mehdi ist eine der zentralen Figuren, die mit Fortschritt (und einer Illusion der Kontrolle) in Verbindung gebracht werden. Als Banker glaubt er, dass wirtschaftliches Wachstum und technologische Innovation Marokko modernisieren können. Sein Scheitern als Banker und seine spätere Verhaftung entlarven diesen Fortschrittsglauben als trügerisch. Marokko bleibt abhängig von ausländischen Investoren, und Mehdis Karriere zerbricht an politischen Intrigen und wirtschaftlichen Illusionen. Casablanca wird im Roman als Symbol der wirtschaftlichen Modernisierung inszeniert: Luxushotels, westliche Markennamen und Hochhäuser vermitteln ein Bild von Fortschritt und Urbanität. Doch Slimani zeigt auch die Schattenseiten: Während die Elite in Banken und Luxusrestaurants verkehrt, bleibt die Armut in der Stadt allgegenwärtig. Die marokkanische Gesellschaft ist tief gespalten zwischen denen, die am Fortschritt teilhaben, und denen, die zurückgelassen werden.

Mia steht für eine neue Generation von Frauen, die durch Bildung und ökonomische Unabhängigkeit soziale Barrieren durchbrechen. Sie arbeitet als erfolgreiche Bankerin und hat ein Leben, das von Konsum, Macht und Hedonismus geprägt ist. Gleichzeitig zeigt der Roman, dass diese Art von Fortschritt oberflächlich bleibt. Mias Erfolg führt nicht zu einem erfüllten Leben, sondern zu einer inneren Leere. Die kapitalistische Logik ermöglicht Frauen zwar mehr individuelle Freiheit, ersetzt aber nicht die tieferen gesellschaftlichen Strukturen von Diskriminierung und Einsamkeit.

Aïcha, Mehdis Frau, gehört zur ersten Generation marokkanischer Frauen, die eine höhere Bildung genießen. Als Ärztin hat sie es geschafft, sich in einer männerdominierten Welt zu behaupten. Doch der Roman zeigt, dass ihre Bildung nicht automatisch zu persönlicher Zufriedenheit führt. Aïcha fühlt sich zwischen Familie und Karriere zerrissen, und ihre Ehe mit Mehdi wird zunehmend entfremdet. Ihre Geschichte verdeutlicht, dass sozialer Fortschritt auch neue Herausforderungen mit sich bringt – insbesondere für Frauen, die zwischen traditionellen und modernen Rollenbildern gefangen sind.

Ein wiederkehrendes Motiv im Roman ist der geplante Tunnel zwischen Marokko und Spanien. Mehdi sieht darin ein Zeichen des Fortschritts und der Integration Marokkos in die globale Weltwirtschaft. Doch Mia sieht den Tunnel als eine Illusion. Statt Verbindungen zu schaffen, bleiben die realen Barrieren bestehen. Hier zeigt sich eine zentrale These des Romans: Fortschritt bedeutet nicht automatisch Überwindung von Grenzen, sondern kann neue Formen von Exklusion schaffen. Ein weiteres Beispiel für den ambivalenten Fortschritt ist die Digitalisierung in der Finanzwelt. Mehdi erkennt, dass technologische Veränderungen seine Position bedrohen. Seine Firma setzt zunehmend auf computergesteuerte Risikobewertungen – eine Entwicklung, die ihn als traditionellen Banker überflüssig macht. Slimani zeigt hier die Grenzen des Fortschritts: Technologie schafft Effizienz, kann aber auch menschliche Existenzen zerstören. Während Mehdi und Mia nach vorne blicken, bleibt Amine, der Patriarch der Familie, in der Vergangenheit verhaftet. Er empfindet den Fortschritt nicht als Gewinn, sondern als Verlust. Für ihn war die Zeit des Widerstands gegen die Kolonialmacht ein Moment der Sinnstiftung. Der moderne, friedliche Kapitalismus bietet ihm keine vergleichbare Identität. Diese Perspektive zeigt, dass Fortschritt oft auch mit Entwurzelung und Nostalgie einhergeht.

J’emporterai le feu stellt den Fortschritt demnach nicht als eindeutigen Weg in eine bessere Zukunft dar, sondern als ambivalente Entwicklung mit vielen Schattenseiten. Wirtschaftliches Wachstum führt zu sozialer Ungleichheit, technologische Innovation verdrängt Menschen, und soziale Emanzipation bleibt unvollständig. Der Roman zeigt, dass Fortschritt immer auch Verlust bedeutet – sei es die verlorene Vergangenheit Amines, die gebrochene Karriere Mehdis oder die emotionale Entfremdung Mias. Slimani fordert damit eine kritische Reflexion über die Bedingungen von Modernisierung und über die Frage, wer wirklich von ihr profitiert.

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Der Citrange – eine Kreuzung aus Orange und Zitrone – ist eines der zentralen Symbole in Leïla Slimanis Trilogie. Er taucht bereits im ersten Band auf und zieht sich als Leitmotiv durch die Erzählung. Auch mit seinen Wurzeln steht dieser Baum für Vermischung, Identitätskonflikte und Anpassungsfähigkeit, spiegelt aber auch die Spannungen zwischen den Figuren und den Kulturen wider. Der Citrange ist das botanische Pendant zur Familie, die Slimani beschreibt: eine Mischung aus marokkanischer und europäischer Herkunft, die sowohl Reichtum als auch Konflikt birgt. In Le Pays des autres ist es Amine, der den Citrange pflanzt, in der Hoffnung, dass er gedeiht. Doch der Baum ist anfänglich schwach und kämpft mit den klimatischen Bedingungen – ein klares Bild für die Herausforderungen, mit denen sich die Familie konfrontiert sieht. Die Mischung aus zwei genetischen Linien macht den Citrange widerstandsfähig, aber auch instabil – genau wie die Nachkommen von Mathilde und Amine, die zwischen zwei Welten aufwachsen. Mia ist nicht nur eine Enkelin der ursprünglichen „Mischung“, sondern auch eine Figur, die noch stärker zwischen den Kulturen steht: als marokkanischstämmige Französin, als Exilantin, als lesbische Frau in einer heteronormativen Gesellschaft. Während der Citrange im ersten Band noch ein Zeichen für Hoffnung war – die Möglichkeit, aus zwei Kulturen etwas Neues entstehen zu lassen –, wird er in J’emporterai le feu ambivalenter: Er ist ein Symbol für das Zerrissensein zwischen Herkunft und Wahlheimat, für die Unmöglichkeit, einer einzigen Wurzel zu folgen. Mia erkennt, dass sie, genau wie der Citrange, zwar zwei Ursprünge in sich vereint, aber niemals ganz zu einer Seite gehören wird. Das Motiv verdeutlicht Hybridität als Stärke, aber auch als Last. Mia kann sich nicht einfach für eine Wurzel entscheiden, sondern muss mit der Tatsache leben, dass sie von Natur aus „gemischt“ ist – kulturell, familiär, identitär.

Il attrapa doucement les oreilles de sa fille pour approcher son visage du sien et déposer sur sa joue un baiser. Il ferma la porte délicatement et dans le couloir il songea que les fruits du citrange étaient immangeables. Leur pulpe était sèche et leur goût si amer que cela faisait monter les larmes aux yeux. Il pensa qu’il en allait du monde des hommes comme de la botanique. À la fin, une espèce prenait le pas sur l’autre et un jour l’orange aurait raison du citron ou l’inverse et l’arbre redonnerait enfin des fruits comestibles.

Leïla Slimani, Le pays des autres.

Er griff sanft nach den Ohren seiner Tochter, um ihr Gesicht dem seinen zu nähern und einen Kuss auf ihre Wange zu drücken. Er schloss sanft die Tür, und auf dem Flur dachte er darüber nach, dass die Früchte der Zitrusfrucht ungenießbar waren. Ihr Fruchtfleisch war trocken und ihr Geschmack so bitter, dass es einem die Tränen in die Augen trieb. Er dachte, dass es in der Welt der Menschen wie in der Botanik war. Am Ende würde eine Art die andere überholen und eines Tages würde die Orange die Zitrone besiegen oder umgekehrt und der Baum würde endlich wieder essbare Früchte hervorbringen.

Die Erzählung von Mias ersten Jahren in Paris verdeutlichen die Erfahrung der Migration und die Konfrontation mit kulturellen Codes. J’emporterai le feu wird in Le Monde 1 als besonders gewagt in Stil und Struktur gelobt. Leïla Slimanis stellt nun ihre eigene Generation ins Zentrum, verkörpert durch Mia und Inès, zwei junge Frauen, die zwischen familiären Erwartungen, gesellschaftlichen Zwängen und ihrem Streben nach Selbstbestimmung stehen. Ihr Romanabschluss der Trilogie Le pays des autres ist mit Nelly Kaprièlian 2 Slimanis bislang stärkstes Werk, es verfolgt nicht nur die Geschichte einer Familie über Generationen hinweg, sondern auch eine vielschichtige Auseinandersetzung mit den großen Fragen der modernen Welt: Identität, Migration, Geschlechterrollen, Religion und kulturelle Hybridität. Der Roman bietet seinen Figuren nicht nur einen geografischen, sondern auch einen literarischen Zufluchtsort.

Alors, il se remit au livre qu’il avait abandonné trente ans plus tôt. Il se persuada que tout cela n’était pas arrivé pour rien. Ses rêves lui revenaient en pleine figure comme un boomerang et il pourrait enfin s’accomplir. Cette déconvenue était en fait un cadeau du destin et la gloire, bientôt, lui sourirait. Les bonnes rangèrent les toiles et le chevalet et dans l’atelier on installa une planche et des tréteaux. Il acheta un ordinateur et en voulut à Aïcha qui avait eu l’air de trouver que c’était une dépense inutile. Il s’enferma des jours et des semaines. Personne n’avait le droit d’entrer dans son atelier et Fatima désespérait de voir s’accumuler la poussière sur les étagères. Elle le sermonnait : « Laissez-moi seulement vider les cendriers et ouvrir la fenêtre. » Le bureau était encombré de feuilles sur lesquelles il avait griffonné, de son écriture d’aigle, des notes incompréhensibles. Il écrivait en fumant des dizaines de cigarettes et à la fin de la journée il était dégoûté de son style et avait mal aux poumons. Il voulait écrire comme on se venge et jeter sa vérité à la face du monde. Devant son ordinateur allumé, il rêvassait à sa renommée prochaine. Il volait dans les livres des autres des bouts de phrases, des morceaux de métaphores, il se hissait sur les épaules d’auteurs qu’il aimait en priant pour y trouver la force d’en devenir un lui-même. Il commençait un roman puis se rêvait poète. Il rougissait des larmes qui lui montaient aux yeux. Il se découvrait fragile, sentimental, il mesurait à quel point une vie de courtisan avait abîmé les mots en lui. Il lui aurait fallu parcourir tout un chemin vers sa jeunesse, vers son enfance, un chemin impossible pour raviver dans son cœur ce qui s’y cachait de pur. Il s’enfonçait dans son fauteuil, rejetait la tête en arrière et repensait à des lectures d’autrefois, à Martin Eden, au Hussard sur le toit. À ces héros qui l’avaient inspiré et qu’il avait trahis. Il remuait les lèvres. La rencontre d’Angelo et Pauline. Avait-il rêvé ou était-il question, alors, d’un petit chat qui passait entre eux ? Les notes s’accumulaient. Il débordait d’idées mais se montrait incapable de les relier entre elles et certains jours, quand il se relisait, lui venait l’envie de faire valser la planche, de briser les tréteaux, d’allumer un brasier.

Also nahm er sich wieder das Buch vor, das er vor dreißig Jahren aufgegeben hatte. Er redete sich ein, dass das alles nicht umsonst passiert war. Seine Träume kamen wie ein Bumerang auf ihn zurück und er konnte sich endlich selbst verwirklichen. Der Rückschlag war ein Geschenk des Schicksals und der Ruhm würde ihm bald zuteil werden. Die Dienstmädchen räumten die Leinwände und die Staffelei weg und im Atelier wurden ein Brett und Böcke aufgestellt. Er kaufte sich einen Computer und ärgerte sich über Aischa, die anscheinend der Meinung war, dass es eine unnötige Ausgabe sei. Er schloss sich tage- und wochenlang ein. Niemand durfte sein Atelier betreten und Fatima verzweifelte daran, dass sich der Staub auf den Regalen sammelte. Sie belehrte ihn: „Lass mich nur die Aschenbecher leeren und das Fenster öffnen“. Der Schreibtisch war vollgestopft mit Blättern, auf die er mit seiner Adlerschrift unverständliche Notizen gekritzelt hatte. Er schrieb, während er Dutzende von Zigaretten rauchte, und am Ende des Tages war er von seinem Stil angewidert und hatte Schmerzen in der Lunge. Er wollte schreiben, wie man sich rächt, und der Welt seine Wahrheit ins Gesicht schleudern. Vor seinem eingeschalteten Computer träumte er von seinem baldigen Ruhm. Er stahl aus den Büchern anderer Leute Satzfetzen und Metaphern, kletterte auf die Schultern von Autoren, die er liebte, und betete, dass er dort die Kraft finden würde, selbst einer zu werden. Er begann einen Roman und träumte dann von sich selbst als Dichter. Er wurde rot von den Tränen, die ihm in die Augen stiegen. Er entdeckte sich selbst als zerbrechlich, sentimental, und er erkannte, wie sehr das Leben als Höfling die Worte in ihm beschädigt hatte. Er hätte einen ganzen Weg zurück in seine Jugend, in seine Kindheit gehen müssen, einen unmöglichen Weg, um in seinem Herzen das wiederzubeleben, was dort an Reinem verborgen war. Er versank in seinem Sessel, warf den Kopf zurück und dachte an die Lektüre von damals, an Martin Eden, Husar auf dem Dach. An die Helden, die ihn inspiriert und die er verraten hatte. Er bewegte die Lippen. Die Begegnung von Angelo und Pauline. Hatte er geträumt oder war damals von einer kleinen Katze die Rede gewesen, die zwischen ihnen hindurchlief? Die Notizen häuften sich. An manchen Tagen, wenn er sich wieder las, hatte er das Bedürfnis, das Brett umzuwerfen, die Böcke zu zerschlagen und ein Feuer zu entfachen.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

In einem postkolonialen und globalisierten Kontext stellt der Roman die Figuren immer wieder vor existenzielle Entscheidungen, die weit über ihr individuelles Schicksal hinausgehen. Raphaëlle Leyris 3 analysiert J’emporterai le feu als einen literarisch wie emotional beeindruckenden Abschluss der Trilogie: Ursprünglich von einem Wunsch nach „Rache“ für die Ungerechtigkeiten gegenüber ihrem Vater motiviert, erkennt Slimani während des Schreibprozesses, dass ihr wahres Anliegen eine Hommage an ihre Familie und insbesondere an ihren Vater ist. Besonders die tragische Figur von Mehdi – inspiriert von Slimanis eigenem Vater, der zu Unrecht inhaftiert wurde – steht im Zentrum der Erzählung. Ein wesentliches Merkmal von J’emporterai le feu ist laut Leyris die größere Freiheit im Stil. Slimani erlaubt sich mehr Brüche in Ton und Erzählweise, was dem Roman eine größere Dynamik verleiht. Zudem hebt sie hervor, dass Slimani während des Schreibens gezielt viele Seiten gestrichen hat, um die Essenz der Geschichte zu bewahren — dennoch bleibt der Roman episch.

Leïla Slimani in La Grande Librairie, 23. Januar 2025

Was bleibt, wenn man alles verliert? Das titelgebende Motto zum Feuer über das was bleibt, wenn das eigene Heim abbrennt, setzt hier den Ton. Auffällig ist die Rahmung der beiden Romanteile durch einen Prolog, ein Intermezzo und einen Epilog. Die drei Kapitel rahmen die Handlung und strukturieren sie in einer Bewegung von Verlust (Prologue), Rückkehr (Intermède) und endgültigem Abschied (Épilogue). Denn Vergangenheit kann nicht nur bewahrt werden, sondern auch losgelassen werden, um Platz für neue Erzählungen zu schaffen. Besonders betont wird die Bedeutung des Körpers – als krankes, eingesperrtes oder freies Wesen –, was den physischen und politischen Kontext der Zeit widerspiegelt. Im Prologue verliert die Erzählerin im November 2021 ihren Geruchs- und Geschmackssinn. Diese Erfahrung löst eine tiefe existenzielle Verstörung aus, die sich mit körperlichem Leiden – Fieber, Erschöpfung, Isolation – verbindet. Sie liegt mit einer Frau im Bett, kann aber weder ihren Geruch wahrnehmen noch ihre Haut schmecken. Sie zieht sich vollkommen zurück, vernachlässigt ihren Alltag und verfällt in einen Zustand der Apathie. Ihr Versuch, sich wieder dem Schreiben zuzuwenden, scheitert an Konzentrationsproblemen und einem kreativen Stillstand. Die Welt um sie herum verliert ihre Struktur, und selbst Routinen wie das Erstellen von Listen oder der Gang zum Supermarkt überfordern sie. Soziale Kontakte meidet sie weitgehend, doch beim Weihnachtsessen mit ihrer Familie erlebt sie das Gefühl, von der Welt abgekoppelt zu sein. Ihre Wahrnehmung ist verzerrt, und sie vergleicht sich mit einer alten, hilflosen Person. Schließlich fasst sie den Entschluss, ärztliche Hilfe zu suchen. Der Termin beim Arzt verstärkt jedoch ihr Gefühl des Unverstandenseins: Ihr Zustand wird auf Erschöpfung reduziert, ihre psychische Verfassung kaum ernst genommen. Der Prolog schildert eindringlich eine Krise der Wahrnehmung, Identität und Sprache. Die Sinnesverluste – Geruch, Geschmack, Orientierung – symbolisieren einen umfassenderen Zerfall von Selbstbild und Wirklichkeit, während das Unvermögen zu schreiben die existenzielle Verlorenheit der Erzählerin unterstreicht, was ein Gefühl von Angst, Entfremdung und Schwäche in ihr auslöst: Die sensorische Leere und das Gefühl des Kontrollverlusts kündigen größere Themen an wie den Verlust der Vergangenheit, das Exil und die Suche nach Identität. Das Zwischenspiel aus dem August 2022 zeigt die Erzählerin, die in Fès landet, um zum Sitz der Familie, Domaine Belhaij zu fahren und dabei ihre Situation zu reflektieren, etwa ihre Unsicherheiten im Arabischen und die nun folgende Auseinandersetzung mit dem Erbe der Familie. Der Epilog markiert einen endgültigen Abschied von der Familiengeschichte, eine Abreise, ohne Erinnerungsstücke mitzunehmen, da sie sich davor fürchtet, alte Geheimnisse oder beunruhigende Wahrheiten zu entdecken. Sie lässt alle Dokumente verbrennen, da sie keine literarische Inszenierung verlorener Manuskripte oder Familiengeheimnisse akzeptieren will. Sie erkennt, dass ihre Eltern, insbesondere ihr Vater, sich selbst als Romanfiguren sahen, doch während Mathilde ihre Lebensgeschichte für erzählenswert hielt, blieb Mehdi ein Rätsel. Die Erzählerin fühlt sich gezwungen, die Geschichte zu erzählen, erkennt aber gleichzeitig, dass jede Behauptung über Mehdi auch ihr Gegenteil beinhalten könnte. Eine Metapher über die Wanderung der Distelfalter illustriert das Weitertragen von Geschichten über Generationen hinweg. Der Epilog schließt mit einer existenziellen Unsicherheit: Die Erzählerin erkennt, dass sie sich zwischen Schreiben und Leben entscheiden muss. Sie stellt sich vor, eines Tages ohne Literatur auszukommen, aber zugleich verliert sie ihre Erinnerung und fühlt sich heimatlos. Sie schließt mit einer Metapher über die Migration der belles-dames (Distelfalter), die nie an ihren Ursprungsort zurückkehren, sondern ihre Reise erst in späteren Generationen vollenden. Sie bricht mit der Vergangenheit, erkennt aber gleichzeitig, dass die Migration und das Weitertragen von Geschichten in anderen Formen fortbestehen.

Mehdi se sécha, enfila un tee-shirt propre et un pantalon de toile, et il chercha au fond de sa sacoche le livre qu’il avait acheté pour sa fille. Il caressa la couverture et s’assit sur le lit. Oui, il devait être ferme, ne pas flancher. Il proposerait à Mia d’aller marcher, il poserait la main sur son épaule, il lui sourirait et de sa voix la plus douce, il lui expliquerait que c’était un grand départ, de ceux qui déterminent toute une vie et, sans pleurer, oui, sans pleurer, il lui ordonnerait de ne jamais se retourner. « Mia, va-t’en et ne rentre pas. » Il lui parlerait de Cortés, le conquistador qui, arrivé dans la baie de San Juan, décida de brûler ses vaisseaux pour résister à la tentation de rebrousser chemin. « Ne garde pas de force pour le retour et nage aussi loin que tu peux. J’ai tout compris tu sais et j’ai tout vu. Ce qu’ils te font subir et ce qu’ils diront de toi. Ma fille, tu devras penser comme une femme en cavale, car c’est la nostalgie, toujours, qui perd les criminels en fuite. Un anniversaire, un enterrement ou juste le mal du pays. La nostalgie les fait revenir et ils s’en mordent les doigts. Il faudrait, non pas retourner à Ithaque, mais te trouver une île comme celle des Lotophages, une île pour oublier de revenir, pour ne même pas en éprouver l’envie. » Il l’avait bien fait, lui. Il lui proposait le même destin, le destin d’un homme sans passé. « Bien sûr, des gens essaieront de te convaincre. Tu penseras que tu as quelque chose à faire ici, que tu peux te rendre utile. Mais n’y crois pas. Mets-toi de la cire dans les oreilles, accroche-toi au mât, souviens-toi de ce que je t’ai dit. Ne reviens pas. Ces histoires de racines, ce n’est rien d’autre qu’une manière de te clouer au sol, alors peu importent le passé, la maison, les objets, les souvenirs. Allume un grand incendie et emporte le feu. Je ne te dis pas au revoir, ma chérie, je te dis adieu. Je te pousse de la falaise, je lâche la corde et je te regarde nager. Mon amour, ne transige pas avec la liberté, méfie-toi de la chaleur de ta propre maison. »

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Mehdi trocknete sich ab, zog ein sauberes T-Shirt und eine Leinenhose an und suchte in den Tiefen seiner Tasche nach dem Buch, das er für seine Tochter gekauft hatte. Er streichelte die Decke und setzte sich auf das Bett. Ja, er musste standhaft sein, durfte nicht nachgeben. Er würde Mia vorschlagen, spazieren zu gehen, er würde seine Hand auf ihre Schulter legen, er würde sie anlächeln und mit seiner sanftesten Stimme würde er ihr erklären, dass dies ein großer Abschied sei, einer von denen, die das ganze Leben bestimmen, und ohne zu weinen, ja, ohne zu weinen, würde er ihr befehlen, sich niemals umzudrehen. „Mia, geh von hier weg, und komm nicht zurück.“ Er würde ihr von Cortés erzählen, dem Konquistador, der, als er in der Bucht von San Juan ankam, beschloss, seine Schiffe zu verbrennen, um der Versuchung zu widerstehen, umzukehren. „Spar dir die Kraft nicht für den Rückweg auf, und schwimm so weit du kannst. Ich habe alles verstanden, weißt du, und ich habe alles gesehen. Was sie dir antun und was sie über dich sagen werden. Meine Tochter, du musst wie eine Frau auf der Flucht denken, denn es ist immer die Sehnsucht, die flüchtige Kriminelle verliert. Ein Geburtstag, eine Beerdigung oder einfach nur Heimweh. Die Nostalgie lässt sie zurückkehren, und sie beißen sich daran die Zähne aus. Du solltest nicht nach Ithaka zurückkehren, sondern dir eine Insel wie die der den Lotusessern suchen, eine Insel, auf der du vergessen kannst, zurückzukehren, auf der du nicht einmal den Wunsch danach verspürst.“ Das hatte er gut gemacht. Er hatte ihr das gleiche Schicksal vorgeschlagen, das Schicksal eines Mannes ohne Vergangenheit. „Natürlich wird es Menschen geben, die versuchen, dich zu überzeugen. Du wirst denken, dass du hier etwas zu tun hast, dass du dich nützlich machen kannst. Aber glaube nicht daran. Steck dir Wachs in die Ohren, halte dich am Mast fest und denk daran, was ich dir gesagt habe. Komm nicht zurück. Diese Geschichten über Wurzeln sind nichts anderes als eine Möglichkeit, dich an den Boden zu nageln, also ist es egal, was die Vergangenheit, das Haus, die Gegenstände, die Erinnerungen sind. Zünde ein großes Feuer an und nimm das Feuer mit. Ich sage dir nicht auf Wiedersehen, mein Schatz, ich sage dir Lebewohl. Ich stoße dich von der Klippe, lasse das Seil los und sehe dir beim Schwimmen zu. Meine Liebe, mach keine Kompromisse mit der Freiheit, hüte dich vor der Hitze deines eigenen Hauses“.

Ein zentrales Motiv des Buchs ist das Leben mit Geheimnissen: Die Figuren müssen ihre wahre Identität und Überzeugungen oft verbergen, um sich vor gesellschaftlicher Repression zu schützen. Besonders Mehdi, der Vater, wird als tragische Figur gezeichnet – ein aufrechter Mann, der durch politische Willkür zerstört wird. Bücher werden in diesem Zusammenhang zu einem Vermächtnis, das Wissen und Werte an die nächste Generation weitergibt. Kaprièlian lobt die literarische Feinfühligkeit Slimanis, insbesondere ihre Fähigkeit, die Spannung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichem Druck darzustellen. Die Trilogie zeige eindrücklich, so die Kritikerin, wie tief patriarchale Strukturen und politische Willkür das Leben von Frauen und Familien in Marokko prägen. Die Exilerfahrung der Protagonistinnen in Frankreich verstärke diese Zerrissenheit, da sie dort erneut als „Andere“ wahrgenommen werden.

Der Roman zeigt die Auswirkungen der Globalisierung auf verschiedene Weisen. Die Figuren bewegen sich zwischen Kontinenten, erleben soziale Mobilität und sehen sich mit dem Einfluss westlicher Lebensstile konfrontiert. Mehdi, ein Ökonom mit politischen Ambitionen, glaubt an die Modernisierung Marokkos durch wirtschaftliche Entwicklung. Doch der Roman zeigt, dass wirtschaftlicher Fortschritt oft mit sozialer Ungleichheit einhergeht und dass Globalisierung nicht nur Chancen, sondern auch Abhängigkeiten schafft. Besonders Mia, die Tochter von Mehdi und Aïcha, wächst in einer Welt auf, in der nationale Grenzen an Bedeutung verlieren. Sie entwickelt eine kritische Perspektive auf die ökonomischen und sozialen Mechanismen der Globalisierung und erkennt, dass westliche Ideale nicht einfach importiert werden können, ohne bestehende Traditionen und soziale Strukturen zu destabilisieren.

Figuren wie Selim, der Bruder von Aïcha, verlassen Marokko, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. Doch diese Migration ist nicht nur ein physischer Akt, sondern auch eine symbolische Entwurzelung. Selim wird in New York zu „Sam“, passt sich der westlichen Kultur an, verliert aber seine Verbindung zur Herkunftsfamilie. Auch Mehdis berufliche Laufbahn ist von Migration geprägt – nicht geografisch, sondern sozial. Er bewegt sich in die Elite Marokkos hinein, entfernt sich aber dabei von seinen Wurzeln und verliert die Verbindung zu den Menschen, für die er einst kämpfen wollte. Der Roman stellt Migration als ambivalentes Phänomen dar: Sie bietet neue Möglichkeiten, bedeutet aber auch den Verlust von Zugehörigkeit. Besonders für die Frauen im Roman ist Migration mit der Frage verbunden, ob sie durch das Verlassen ihres Landes oder durch die Veränderung der Gesellschaft, in der sie leben, mehr Freiheit erlangen können.

Die Familie Belhaj bildet ein Paradebeispiel für kulturelle und ethnische Hybridität. Aïcha ist das Kind einer französischen Mutter und eines marokkanischen Vaters. Diese Mischung bringt einerseits eine kosmopolitische Identität mit sich, führt aber auch zu Konflikten. Ihr Vater, Amine, kritisiert die westliche Prägung seiner Kinder und befürchtet, dass sie ihre marokkanischen Wurzeln verlieren. Diese Thematik wird besonders deutlich in der Namensgebung: Während traditionelle Namen wie Hind oder Latifa als Zeichen der Verwurzelung in der marokkanischen Kultur gelten, stehen die Namen Mia und Inès für eine Globalisierung der Identität.

Alle zentralen Figuren im Roman kämpfen mit Identitätsfragen. Mehdi, der sich als moderner Wirtschaftsstratege sieht, ist innerlich zerrissen zwischen der Loyalität zu seinem Land und der Versuchung des individuellen Aufstiegs. Aïcha sucht nach einem Weg, ihre verschiedenen Identitäten als Ärztin, Mutter und moderne Frau zu vereinen. Besonders stark zeigt sich die Identitätskrise bei Mia: Sie ist nicht nur zwischen zwei Kulturen aufgewachsen, sondern auch zwischen verschiedenen Idealen; einerseits bewundert sie ihre Mutter für ihre Unabhängigkeit, andererseits spürt sie die tiefen emotionalen Bindungen innerhalb ihrer Familie. Ihre Identität bleibt fragmentiert, da sie sich weder vollständig als Marokkanerin noch als Französin oder Bürgerin einer globalisierten Welt definieren kann.

Si Fatna était discrète et n’évoquait jamais sa famille ou ses origines, Mia, elle, parlait toujours de la même chose : le Maroc. Dans n’importe quelle conversation, elle réussissait à placer le fait qu’elle n’était pas d’ici. Elle venait d’ailleurs, elle était différente, rien à voir avec les Beurs. Et une fille, qui s’appelait Castille et vivait rue du Cardinal-Lemoine, lui répondit un jour avec agacement : « Marocaine, mais marocaine française ? » Mia décrivait sa maison, le jardin luxuriant, la piscine où elle nageait parfois à l’heure du déjeuner, le chauffeur qui venait la chercher à l’école. Fatna la regardait bizarrement. Elle avait l’air de la trouver pathétique. Elle détestait la façon qu’avait son amie de vendre son pays comme si c’était un havre de paix, de justice et de tolérance. Et puis que croyait-elle ? Parce qu’elle était une Arabe bourgeoise, ils allaient la respecter ? Mia voulait battre un ennemi beaucoup plus fort qu’elle et rétablir, à elle toute seule, l’image des Arabes en France. Oh non, ce n’était pas Mia qui s’abaisserait, comme les comiques maghrébins de service, à faire des blagues sur le fait que les Arabes étaient des voleurs et qu’ils croupissaient tous en prison. Quoique, il lui arriva une ou deux fois, en surprenant les rires que cela provoquait, d’imiter l’accent marocain ou, mieux encore, l’accent alsacien de sa grand-mère quand elle parlait l’arabe. Mia parlait d’Hassan II comme d’un homme politique brillant, capable de s’exprimer dans un français plus raffiné que les Français eux-mêmes. Elle se mettait très en colère quand ses camarades lui faisaient des remarques sur les inégalités criantes, le harcèlement de rue dans la médina de Marrakech ou l’obscurantisme des musulmans. Quand ils citaient les propos que le roi du Maroc avait tenus à Anne Sinclair – « Les Marocains en France ne feront jamais de bons Français » – et qui avaient réjoui Jean-Marie Le Pen. « Vous n’y connaissez rien », s’énervait-elle.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Während Fatna diskret war und nie ihre Familie oder ihre Herkunft erwähnte, sprach Mia immer über das gleiche Thema: Marokko. In jedem Gespräch schaffte sie es, die Tatsache zu platzieren, dass sie nicht von hier war. Sie kam von woanders her, sie war anders, hatte nichts mit den Beurs zu tun. Und ein Mädchen, das Castille hieß und in der Rue du Cardinal-Lemoine wohnte, antwortete ihr einmal ärgerlich: „Marokkanerin, aber marokkanische Französin?“ Mia beschrieb ihr Haus, den üppigen Garten, den Pool, in dem sie manchmal zur Mittagszeit schwamm, den Fahrer, der sie von der Schule abholte. Fatna sah sie seltsam an. Sie schien sie erbärmlich zu finden. Sie hasste die Art ihrer Freundin, ihr Land so zu verkaufen, als sei es ein Hort des Friedens, der Gerechtigkeit und der Toleranz. Und was glaubte sie überhaupt? Nur weil sie eine spießige Araberin war, würden sie sie respektieren? Mia wollte einen Feind besiegen, der viel stärker war als sie, und im Alleingang das Bild der Araber in Frankreich wiederherstellen. Oh nein, es war nicht Mia, die sich wie die nordafrikanischen Komiker vom Dienst dazu herablassen würde, Witze darüber zu reißen, dass Araber Diebe sind und alle im Gefängnis sitzen. Obwohl sie ein- oder zweimal den marokkanischen Akzent oder, noch besser, den elsässischen Akzent ihrer Großmutter imitierte, wenn diese Arabisch sprach, und dabei das Gelächter mitbekam, das sie damit auslöste. Mia sprach von Hassan II. als einem brillanten Politiker, der in der Lage war, sich in einem raffinierteren Französisch auszudrücken als die Franzosen selbst. Sie wurde sehr wütend, wenn ihre Mitschüler sie auf die schreiende Ungleichheit, die Straßenbelästigung in der Medina von Marrakesch oder den Obskurantismus der Muslime ansprachen. Wenn sie die Worte zitierten, die der marokkanische König Anne Sinclair gegenüber geäußert hatte – „Die Marokkaner in Frankreich werden nie gute Franzosen sein“ – und die Jean-Marie Le Pen erfreut hatten. „Sie haben keine Ahnung davon“, ärgerte sie sich.

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Ein wiederkehrendes Thema des Romans ist der Islamismus als eine der möglichen Reaktionen auf die Widersprüche der Globalisierung. Während einige Figuren für eine weltoffene, tolerante Gesellschaft eintreten, radikalisieren sich andere als Reaktion auf soziale und wirtschaftliche Unsicherheiten. Mehdis Karriere im Finanzwesen bringt ihn in Kontakt mit der politischen Elite Marokkos, aber auch mit radikalen Strömungen, die das Land destabilisieren. In den ärmeren Vierteln, die Mehdi besucht, trifft er auf Jugendliche, die zwischen Kriminalität und religiösem Fundamentalismus schwanken. Islamismus wird nicht nur als religiöse Bewegung gezeichnet, sondern auch als soziale und politische Antwort auf wirtschaftliche Ausgrenzung und Kolonialgeschichte. Für Mia bedeutet diese religiöse Radikalisierung eine Bedrohung ihres Lebensmodells. Als Frau, die sich als global denkend und feministisch versteht, wird sie mit Erwartungen konfrontiert, die ihre persönliche Freiheit einschränken wollen.

Die Trilogie wirft auch ein kritisches Licht auf die Rolle von Tradition und Religion in Marokko. Während im ersten Band die koloniale Vergangenheit und der Einfluss französischer Werte auf das traditionelle marokkanische Leben im Mittelpunkt stehen, zeigt der zweite Band die Konflikte zwischen Modernisierung und gesellschaftlichen Zwängen. Der dritte Band führt schließlich vor Augen, wie Traditionalismus und Religion in der Spätmoderne neue Formen annehmen und insbesondere Frauen in einem Spannungsfeld zwischen Freiheit und normativen Vorgaben gefangen bleiben.

In Le pays des autres wird Tradition als ein System der Kontrolle dargestellt, das insbesondere Frauen in feste Rollen zwingt. Religion ist hier zudem ein allgegenwärtiges Element, das das Leben der Menschen strukturiert. Sie dient als moralischer Kompass, aber auch als Mittel zur Legitimation von Geschlechterrollen. Religiöse Traditionen bestimmen den Alltag, sei es in Form von Gebeten, islamischen Festen oder den Erwartungen an Frauen, bescheiden und gehorsam zu sein, sie stabilisieren soziale Hierarchien, doch mit der Unabhängigkeit Marokkos beginnt eine neue Ära – und mit ihr ein Wandel in der Bedeutung von Religion und Tradition.

Der zweite Band setzt in einer Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche ein, aber während die politische Elite versucht, Marokko zu modernisieren, bleiben religiöse und traditionelle Werte tief verankert. Die Ehe von Aïcha und Mehdi verdeutlicht, dass die Modernisierung Marokkos nicht automatisch mit einem Wandel der sozialen Strukturen einhergeht. Vielmehr besteht ein ständiger Konflikt zwischen Fortschritt und traditionellen Geschlechterrollen. Während Religion im ersten Band noch als strenge moralische Instanz dargestellt wird, beginnt sie in Regardez-nous danser, sich an die gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen: Die politische Elite nutzt den Islam gezielt, um ihre Macht zu stabilisieren. Religion wird nicht mehr nur als persönlicher Glaube dargestellt, sondern als politisches Instrument. Für viele Marokkaner bleibt der Islam ein identitätsstiftendes Element, auch wenn sie westliche Werte übernehmen. Die Spannung zwischen Religion und Moderne ist allgegenwärtig. Slimani zeigt, dass sich Tradition und Religion nicht einfach auflösen, sondern in neue Formen übergehen. Während einige Figuren sich von ihnen emanzipieren, versuchen andere, sie in veränderter Weise beizubehalten.

Der dritte Band spielt in einer Zeit, in der der religiöse Konservatismus in vielen muslimischen Ländern wieder erstarkt. Slimani zeigt, dass sich die Hoffnungen auf eine liberalere Gesellschaft nicht vollständig erfüllt haben. Mia, die Enkelin von Mathilde und Tochter von Aïcha, erlebt ein Marokko, das zwischen Globalisierung und religiöser Rückbesinnung steht. Während Frauen in den 1970er Jahren noch vorsichtige Freiheiten genossen, wächst Mia in einer Gesellschaft auf, in der konservative Werte wieder an Einfluss gewinnen. Der Islam wird zunehmend strenger ausgelegt, und das soziale Klima wird repressiver. Slimani zeigt damit, dass Modernisierung kein linearer Prozess ist: Während es in den 1960er und 1970er Jahren Fortschritte gab, erleben die 1980er und 1990er eine Rückkehr zu konservativen Werten.

Während Religion im ersten Band eine eher traditionelle Rolle spielt und im zweiten Band als anpassungsfähig erscheint, wird sie im dritten Band zu einem Kampfplatz für verschiedene gesellschaftliche Gruppen: Für die ältere Generation bleibt Religion eine moralische Instanz. Für viele junge Männer wird sie zum Ausdruck eines neuen politischen und sozialen Konservatismus. Für Mia und andere Frauen ist sie oft eine Einschränkung ihrer Freiheiten. Doch Mia zeigt auch, dass Religion nicht nur als Zwang erlebt wird: Einige Figuren nutzen sie als Mittel der Rebellion gegen den westlichen Einfluss, andere finden in ihr eine spirituelle Zuflucht. Am Ende zeigt die Trilogie, dass sich Gesellschaften verändern können – aber dass alte Machtstrukturen oft nur neue Formen annehmen. Der Kampf um Freiheit, Gleichberechtigung und die Bedeutung von Religion ist damit nicht abgeschlossen, sondern bleibt eine zentrale Frage für die Zukunft Marokkos.

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Leïla Slimanis Trilogie skizziert in den drei Bänden auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Wandel der Geschlechterverhältnisse in Marokko. Die Romane zeigen, wie sich Männlichkeitsvorstellungen über die Jahrzehnte verändern, aber auch, wie tief verwurzelte patriarchale Strukturen fortbestehen. Männliche Sexualität erscheint in Slimanis Werk oft als problematisch: Sie ist geprägt von Gewalt, Repression, Doppelstandards und einem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Begierden. Während Frauen oft Opfer dieser Strukturen sind, zeigt Slimani auch, dass Männer selbst unter den rigiden Vorstellungen von Männlichkeit leiden.

Im ersten Band verkörpert Amine, der Ehemann von Mathilde, eine ambivalente Männlichkeit in der Zeit des Kolonialismus. Einerseits ist er ein stolzer, disziplinierter Mann, der hart arbeitet und den Aufstieg seiner Familie sichern will. Andererseits zeigt sich, dass er in einer Welt lebt, in der männliche Autorität mit Härte und Kontrolle über Frauen verbunden ist. Amine unterdrückt seine eigenen Begierden, weil er sexuelle Selbstkontrolle als männliche Tugend ansieht. Doch diese Kontrolle führt dazu, dass er seine Frustrationen an Mathilde auslässt. Amine sieht Mathilde nicht als gleichberechtigte Partnerin, sondern als eine Frau, die sich seinen Vorstellungen anpassen muss. Seine Gewalt gegen sie ist nicht nur ein Ausdruck persönlicher Aggression, sondern auch ein Abbild einer patriarchalen Gesellschaft, die männliche Dominanz als selbstverständlich ansieht. Slimani zeigt in Le pays des autres, dass sexuelle Gewalt tief in der Gesellschaft verankert ist. Frauen wie Mathilde und Selma erleben diese Gewalt auf unterschiedliche Weise: Mathilde erfährt die Sexualität ihres Mannes als unnahbar und kontrollierend, doch sie weiß, dass sie sich als Ehefrau fügen muss. Selma wird in ihrer Jugend von Männern bedrängt und begehrt, weil ihre Schönheit als eine Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung gesehen wird. Die Männer in ihrer Familie versuchen, sie zu kontrollieren, um den „Ehrverlust“ zu vermeiden.

Der zweite Band, Regardez-nous danser, spielt in den 1960er und 1970er Jahren, einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels, und die Modernisierung Marokkos bringt neue Ideen von Männlichkeit und Sexualität mit sich, doch patriarchale Strukturen bleiben bestehen. Mehdi, der Ehemann von Aïcha, ist eine Figur, die die Widersprüche der neuen männlichen Elite verkörpert. Er ist gebildet, politisch engagiert und gehört zu einer Generation von Männern, die sich als progressiv sehen. Doch auch er nutzt seine Machtposition aus: Mehdi propagiert moderne Werte, doch im Privatleben hält er an traditionellen Vorstellungen fest. Während er beruflich für wirtschaftliche Reformen kämpft, erwartet er von Aïcha, dass sie ihm als Ehefrau untergeordnet bleibt. Er hat außereheliche Affären, ein Verhalten, das für Männer toleriert wird, während Frauen strenger beurteilt werden.

Selim, der Sohn von Amine und Mathilde, wählt einen anderen Weg. Er lehnt die traditionelle Männlichkeit ab und taucht in die Hippie-Kultur der 1960er Jahre ein. Selim lebt in einer Umgebung, in der eine „freie“ Sexualität nicht mehr mit Scham oder Kontrolle verbunden ist. Doch seine Flucht nach Amerika zeigt auch, dass eine solche Freiheit in Marokko nicht möglich wäre. Während sein Vater und Schwager sich über Macht und Kontrolle definieren, entzieht sich Selim diesen Zwängen. Doch diese Weigerung führt auch dazu, dass er keinen Platz in der Gesellschaft findet. Selim zeigt eine Alternative zur patriarchalen Männlichkeit, doch sein Schicksal macht deutlich, dass es schwer ist, sich diesem System zu entziehen.

Der dritte Band spielt in den 1980er bis 2000er Jahren und zeigt, dass Männlichkeit in Marokko weiterhin problematisch bleibt – auch wenn sich die Gesellschaft verändert. Hakim, Mias enger Freund, gehört zu einer neuen Generation von Männern, die die patriarchalen Strukturen hinterfragen. Er setzt sich kritisch mit Themen wie Machtmissbrauch, Korruption und Geschlechterrollen auseinander. Hakim erkennt, dass männliche Dominanz nicht naturgegeben ist, sondern gesellschaftlich geformt wird. Trotz seiner kritischen Haltung merkt er, dass viele Männer weiterhin an alten Rollenbildern festhalten. Während frühere Generationen von Männern Sexualität durch Gewalt oder Machtmissbrauch kontrollierten, zeigt J’emporterai le feu, dass in den 1990er und 2000er Jahren neue Formen der Kontrolle entstehen: Die zunehmende Islamisierung der Gesellschaft führt dazu, dass Sexualität noch stärker tabuisiert wird – vor allem für Frauen, aber auch für Männer. Männer, die keinen legalen oder moralisch akzeptierten Ausdruck für ihre Sexualität finden, leiden unter repressiven Strukturen. In Le pays des autres wird männliche Sexualität durch Gewalt und Kontrolle definiert. In Regardez-nous danser erleben Männer neue Freiheiten, doch viele bleiben in patriarchalen Strukturen gefangen. In J’emporterai le feu zeigt sich, dass sich Männlichkeit sich in neuen Spannungsfeldern zwischen religiösem Konservatismus und Globalisierung befindet.

Trotz sozialer und politischer Veränderungen bleibt problematische Männlichkeit bestehen – und die Frage bleibt offen, ob eine wirkliche Emanzipation der Geschlechter in Marokko möglich ist: Die Trilogie stellt die Emanzipation der Frauen als einen zentralen Konflikt dar. Aïcha, die Mutter von Mia, ist eine erfolgreiche Ärztin, doch ihr Berufsleben ist ständig durch traditionelle Erwartungen an Frauen eingeschränkt. Sie wird nicht nur als Medizinerin, sondern auch als Mutter und Ehefrau beurteilt. Besonders die Geburt ihrer Tochter Inès wird zu einem symbolischen Moment: Während Mehdi sich mit einem Fußballspiel ablenkt, muss Aïcha ihre Schmerzen und Ängste allein bewältigen – eine Metapher für die Last, die Frauen im gesellschaftlichen Gefüge tragen. Mia geht in ihrer Rebellion noch weiter. Sie lehnt sich nicht nur gegen familiäre und gesellschaftliche Zwänge auf, sondern sucht aktiv nach neuen Identitätsmodellen. Ihr Lebensstil – unabhängig, sexuell selbstbestimmt, intellektuell – steht im direkten Widerspruch zu den konservativen Erwartungen an eine marokkanische Frau.

Aïcha wird in Regardez-nous danser, dem vorhergehenden, zweiten Band der Trilogie, als Tochter marokkanischer Einwanderer in Frankreich geboren und wächst in einem Umfeld auf, das von kultureller Entfremdung und inneren Konflikten geprägt ist. Ihre Identität ist stark von den Erwartungen ihrer Familie und der Gesellschaft beeinflusst. Aïcha ist das erste Mitglied ihrer Familie, das eine höhere Bildung anstrebt, und sie sieht in ihrer akademischen Laufbahn eine Möglichkeit, den Teufelskreis der Armut und Unbildung zu durchbrechen. Ihr Vater betrachtet sie als seine Hoffnung und seinen Stolz, während sie selbst mit der Angst kämpft, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Aïchas Bildung und ihr Streben nach einer medizinischen Karriere sind nicht nur persönliche Ziele, sondern auch ein Widerstand gegen die gesellschaftlichen Normen, die Frauen oft auf traditionelle Rollen beschränken. Ihre Entscheidung, Medizin zu studieren, symbolisiert einen Bruch mit den patriarchalen Strukturen, die in ihrer Herkunftsfamilie und in der Gesellschaft, in der sie lebt, vorherrschen. Aïchas Beziehungen zu anderen Figuren im Roman sind entscheidend für ihre Entwicklung, besonders hervorzuheben ist ihre Freundschaft mit David, einem jüdischen Kommilitonen. Diese Beziehung stellt einen interkulturellen Dialog dar, der die Unterschiede zwischen ihren Herkunftsgeschichten und den damit verbundenen Herausforderungen beleuchtet. David ist für Aïcha eine Art Spiegel, in dem sie ihre eigenen Unsicherheiten und Ängste reflektiert sieht. Darüber hinaus ist Aïchas Beziehung zu ihrer Mutter Mathilde von großer Bedeutung. Mathilde, eine aus dem Elsass stammende Frau, versucht, Aïcha in die französische Gesellschaft zu integrieren, was jedoch oft zu Spannungen führt. Aïcha kämpft nicht nur gegen die Vorurteile, die ihr als „Afrikanerin“ entgegengebracht werden, sondern auch gegen die Herausforderungen, die mit dem Leben in einer Kultur verbunden sind, die oft als fremd und feindlich wahrgenommen wird. Ihre Entwicklung von einer unsicheren jungen Frau zu einer selbstbewussten und zielstrebigen Medizinstudentin ist ein kraftvolles Symbol für den Kampf um Selbstbestimmung und die Überwindung gesellschaftlicher Barrieren.

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Mia erlebt früh, dass ihre Andersartigkeit nicht nur ignoriert, sondern aktiv unterdrückt wird. Ihre Begegnung mit männlicher Gewalt – eine Schlüsselszene des Romans – verdeutlicht, wie Frauen, die sich nicht den heteronormativen Strukturen unterordnen, bestraft werden. Die Bedrohung durch männliche Aggression zwingt sie dazu, sich ihrer eigenen Vulnerabilität bewusst zu werden. Diese Entdeckung wird von Slimani nicht als explizites Coming-out-Drama inszeniert, sondern als eine tief in Scham und Angst verankerte Realität. Sie weiß früh, dass sie ihre Liebe zu Frauen verbergen muss – nicht aus persönlicher Unsicherheit, sondern aus Angst vor der Reaktion ihrer Familie und der Gesellschaft. Slimani zeigt, wie Mia sich bereits als junge Frau an die Mechanismen der Verleugnung gewöhnt: Sie beobachtet, fühlt, aber wagt es nicht, sich zu offenbaren.

Innerhalb des narrativen Rahmens um familiäre Verstrickungen über Generationen spielt das Lesbischsein der Protagonistin Mia Daoud eine entscheidende Rolle, und dies nicht nur als sexuelle Orientierung, sondern als Prozess der Selbstsuche und Selbstverortung. Ihr Verhältnis zu Frauen ist nicht nur von Begehren geprägt, sondern auch von Unsicherheiten und inneren Konflikten. Ihre Beziehungen zu Frauen sind oft flüchtig und erscheinen fast körperlos, ihr Begehren ist auch in Frankreich immer noch nicht vollständig integriert; es bleibt auch im Pariser Marais-Viertel Teil ihres Außenseitertums, aber nicht die einzige Ursache für ihr Gefühl der Entwurzelung. Zuvor war es in einem gesellschaftlichen Umfeld zu verhandeln, das stark von traditionellen Familienstrukturen geprägt ist, besonders in Marokko, im Gegensatz zu schwulen Männern, die in patriarchalen Gesellschaften oft als Bedrohung der Männlichkeit wahrgenommen werden, lesbische Frauen eine doppelte Marginalisierung erfahren: Sie sind sowohl als Frauen als auch aufgrund ihrer Sexualität unsichtbar. Mias Beziehung zu ihrer Familie ist kompliziert, insbesondere zu ihrer Mutter Aïcha. Während Aïcha als Ärztin rational und pragmatisch denkt, erlebt Mia ihre Identität viel fluider und emotionaler. Die Erwartungen an sie sind groß: Sie soll die Traditionen wahren, eine angesehene Rolle in der Gesellschaft einnehmen und ein erfolgreiches Leben führen. Mias Beziehungen zu Frauen sind nicht nur Ausdruck ihres individuellen Begehrens, sondern auch Akte der Selbstbestimmung; diese politische Dimension zeigt sich insbesondere im Épilogue, in dem Mia sich endgültig von den familiären Erwartungen löst und ihre eigene Geschichte schreibt. J’emporterai le feu zeigt lesbische Identität als eine Form des Widerstands und als Suche nach Freiheit. Mias Schwester Inès beobachtet fasziniert den Kontakt zwischen Mia und Margaux:

Ils passaient beaucoup de temps dans le Marais. Sa sœur lisait Têtu, achetait ses livres aux Mots à la bouche mais elle refusait de jouer la « gouine de service ». Un jour, alors qu’ils traînaient sur une terrasse rue Vieille-du-Temple, elle expliqua : « Moi, je déteste Priscilla, folle du désert et toutes ces conneries qui donnent de nous une image de freaks. Je ne veux être ni une militante ni une bête de foire. Le style Lesbia Magazine et les réunions sur les femmes opprimées par le système patriarcal, très peu pour moi. » Arthur leva les yeux au ciel. Ce soir-là, elle présenta à Inès la fille du moment, Margaux, une jolie brune qui avait quitté son mec pour elle. Elle avait de longs cheveux raides et portait un haut si court qu’on pouvait voir son nombril où brillait un diamant. Elle s’assit en face de Mia et Inès vit pour la première fois sa sœur embrasser une autre femme. Un baiser humide, bruyant, langoureux. La main de Mia glissa lentement sur la cuisse de Margaux. Comment faisaient-elles l’amour ? À quoi cela ressemblait-il ? Inès imagina sa sœur, le visage entre les cuisses de sa maîtresse, et elle pensa qu’elle avait envie de ça elle aussi. De longs baisers, de promenades romantiques sur les quais de Seine, d’une langue sur son sexe, mais sa sœur la surveillait.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Sie verbrachten viel Zeit im Marais. Ihre Schwester las Têtu und kaufte ihre Bücher bei Les Mots à la bouche, aber sie weigerte sich, die „Lesbe vom Dienst“ zu spielen. Eines Tages, als sie auf einer Terrasse in der Rue Vieille-du-Temple abhingen, erklärte sie: „Ich hasse Priscilla, Königin der Wüste und all diesen Mist, der uns ein Bild von Freaks verleiht. Ich will weder eine Aktivistin noch ein Freak sein. Der Lesbia-Magazin-Stil und Treffen über Frauen, die vom patriarchalen System unterdrückt werden, sehr unpassend für mich.“ Arthur verdrehte die Augen. An diesem Abend stellte sie Inès das Mädchen der Stunde vor, Margaux, eine hübsche Brünette, die ihren Freund für sie verlassen hatte. Sie hatte langes glattes Haar und trug ein Top, das so kurz war, dass man ihren Bauchnabel sehen konnte, in dem ein Diamant funkelte. Sie setzte sich Mia gegenüber und Inès sah zum ersten Mal, wie ihre Schwester eine andere Frau küsste. Ein feuchter, lauter, schmachtender Kuss. Mias Hand glitt langsam über Margaux‘ Oberschenkel. Wie liebten sie sich? Wie sah das aus? Inès stellte sich ihre Schwester mit dem Gesicht zwischen den Schenkeln ihrer Geliebten vor und sie dachte, dass sie sich auch danach sehnte. Nach langen Küssen, romantischen Spaziergängen an den Ufern der Seine, einer Zunge auf ihrem Geschlechtsteil, aber ihre Schwester beobachtete sie.

Slimanis Sachbuch Sexe et mensonges (2017) beleuchtete die Unterdrückung der weiblichen Sexualität in Marokko und kann als ein Schlüssel zur Interpretation des Romans dienen. Hier beschreibt Slimani die restriktiven gesellschaftlichen Normen in Marokko, die weibliche Sexualität unsichtbar machen und unterdrücken. Frauen wird sexuelle Reinheit auferlegt, während Männer größere Freiheiten genießen. Slimani kritisiert, dass die Gesellschaft marokkanischer Frauen auf der Idee von h’chouma (Scham) basiert, was bedeutet, dass jede sexuelle Selbstbestimmung als Tabubruch gilt. Mias lesbische Identität ist nicht offen sichtbar – sie existiert eher in Zwischenräumen, in privaten Momenten und geheimen Beziehungen. Die flüchtige, fast körperlose Darstellung ihrer Beziehungen zu Frauen könnte als Symbol für die Unsichtbarkeit lesbischer Liebe in repressiven Gesellschaften gelesen werden. In Sexe et mensonges wird gezeigt, dass viele Frauen in Marokko gezwungen sind, ein Doppelleben zu führen. Während in der Öffentlichkeit Enthaltsamkeit gefordert wird, existiert im Verborgenen eine ganz andere Realität: „Die Gesellschaft ist in einem Zustand der Schizophrenie – offiziell sind alle jungfräulich, inoffiziell gibt es zahllose geheime Affären“. Zwischen marokkanischer und französischer Kultur bleibt Mia zerrissen, sich von den Zwängen ihrer Herkunft zu lösen und sich bedingungslos einer freien lesbischen Identität hinzugeben. Wie Slimani in Sexe et mensonges argumentiert, ist Kontrolle über Sexualität ein zentrales Mittel patriarchaler Macht ist, und schließlich wird die Frage offen bleiben, ob für Mia völlige Befreiung überhaupt möglich ist, wenn die Erinnerungen an Scham und Zwänge tief in ihr verwurzelt sind. Ist Freiheit eine geografische Frage, oder ist sie eine Frage der inneren Befreiung? Ein wichtiger Wendepunkt in Mias Entwicklung ist deshalb ihr Schreiben, wobei der Roman durchaus ambivalent bleibt: Ist das Schreiben ein Ersatz für gelebte Freiheit, oder ein Weg, sie zu erreichen? Slimani verweigert eine einfache Antwort. Mia bleibt eine Suchende – sie ringt mit ihrer Vergangenheit, mit der Erinnerung an die erzwungene Unsichtbarkeit und mit der Angst, nie ganz sie selbst sein zu können.

Non, se répétait-elle, elle n’était pas plus laide qu’une autre et elle sentait les regards des hommes sur elle. Elle se trémoussait, pour la saleté que les hommes contiennent, saleté qu’elle ne connaissait pas encore mais qu’elle rêvait de découvrir. Inès voulait voir les hommes nus. Elle n’avait pas de frère, pas de cousin, pas d’ami à qui elle aurait pu demander d’ouvrir sa braguette et de baisser son pantalon. Il lui semblait que la seule façon d’être libre, de devenir elle-même, c’était d’être souillée. De mettre à mort la petite fille au regard de génisse assise en robe à smocks dans une vitrine. Sa mère en parlait souvent avec Mathilde ou Selma. Elles parlaient des hommes, la plupart du temps pour se plaindre mais n’empêche, elles en parlaient beaucoup. Leurs yeux brillaient, leurs visages s’enflammaient quand elles parlaient des hommes, des leurs et de ceux des autres, des salauds et des merveilleux. Elles chuchotaient parfois et l’une d’elles gloussait. Elles partageaient des secrets et des recettes de grand-mère, de bons vieux sortilèges pour les punir ou les garder près d’elles. Les hommes, sans qui elles auraient été plus heureuses. Les hommes qui avaient fait tourner la tête de celle-ci et menti à celle-là. Les hommes décidaient pour tout le monde. Ils conduisaient les voitures, la fenêtre ouverte, leurs bras bronzés posés sur la portière. Les hommes voulaient être libres. Les hommes ne tenaient pas en place. Avec eux, il ne fallait jamais exiger, jamais s’imposer, il ne fallait pas être pesante ou jalouse. Il ne fallait jamais demander : « Quand est-ce qu’on se revoit ? » C’est ce que lui avait dit Selma et Inès la croyait.

Nein, sagte sie sich immer wieder, sie war nicht hässlicher als eine andere und sie spürte die Blicke der Männer auf sich. Sie zappelte herum, wegen des Schmutzes, den die Männer in sich trugen, Schmutz, den sie noch nicht kannte, aber davon träumte, ihn zu entdecken. Inès wollte die Männer nackt sehen. Sie hatte keinen Bruder, keinen Cousin, keinen Freund, den sie hätte bitten können, den Hosenschlitz zu öffnen und die Hose herunterzulassen. Es schien ihr, dass der einzige Weg, frei zu sein, sie selbst zu werden, darin bestand, sich beschmutzen zu lassen. Das kleine Mädchen mit dem Blick eines jungen Kälbchens, das in einem gesmokten Kleid in einem Schaufenster saß, zu töten. Ihre Mutter sprach oft mit Mathilde oder Selma darüber. Sie sprachen über Männer, meistens, um über sie zu lästern, aber sie sprachen trotzdem viel über sie. Ihre Augen leuchteten und ihre Gesichter glühten, wenn sie über Männer sprachen, über ihre eigenen und die der anderen, über die Mistkerle und die anständigen Kerle. Manchmal flüsterten sie, und eine von ihnen kicherte. Sie teilten Geheimnisse und Großmutters Rezepte, gute alte Zaubersprüche, um sie zu bestrafen oder in ihrer Nähe zu halten. Die Männer, ohne die sie glücklicher gewesen wären. Die Männer, die der einen den Kopf verdreht und die andere belogen hatten. Die Männer bestimmten für alle. Sie fuhren Autos mit offenem Fenster, ihre gebräunten Arme lagen auf der Autotür. Die Männer wollten frei sein. Männer konnten nicht stillsitzen. Bei ihnen durfte man nie fordern, sich nie aufdrängen, man durfte nicht belastend oder eifersüchtig sein. Man durfte nie fragen: „Wann sehen wir uns wieder?“. Das hatte Selma zu ihr gesagt, und Inès glaubte es.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

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Während J’emporterai le feu primär die lesbische Identität und das weibliche Begehren seiner Protagonistin thematisiert, ist auch das männliche Begehren im Roman präsent – oft in einer brutalen Form. Diese Darstellung findet eine starke Parallele in Sexe et mensonges, wo Slimani die sexuelle Misere in Marokko analysiert und die repressiven Strukturen auch für Männer betont. Männer üben demnach Druck auf Frauen aus, nutzen Sex als Mittel der Machtausübung bzw. Besitzanspruch und pflegen eine Doppelmoral, in der sie sich selbst Freiheiten nehmen, die Frauen verwehrt bleiben. Die Romanfigur Hakim, einer von Mias Freunden, betrachtet sie mit einer gewissen Faszination, weil sie sich männlich gibt, aber nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. In seiner Vorstellung existiert eine strikte Trennung zwischen „guten Mädchen“, die sich für die Ehe aufheben, und Frauen, die für sexuelles Vergnügen zur Verfügung stehen. Diese Sichtweise ist deckungsgleich mit Slimanis Analyse der marokkanischen Geschlechterverhältnisse: Männer teilen Frauen in „ehrbare“ und „verfügbare“ ein, wodurch eine grundlegende Ungleichheit in der Sexualmoral entsteht. Die sexuelle Frustration marokkanischer Männer, die durch gesellschaftliche Normen einerseits zu enthaltsamem Verhalten gezwungen werden, andererseits durch pornografische Inhalte und gesellschaftliche Erzählungen über Männlichkeit permanent sexualisiert werden, führt laut Slimani zu Gewalt und Grausamkeit in sozialen Beziehungen. Diese Dynamik zeigt sich auch in J’emporterai le feu, insbesondere in der Darstellung von Männerbünden und ihren Ritualen: In der Schule konsumieren die Jungen gemeinsam Pornografie, was mit einer rituellen Machtdemonstration einhergeht – wer sich nicht daran beteiligt, wird als schwach oder unmännlich betrachtet. Ein weiteres Beispiel ist Mias Skepsis gegenüber den Absichten von Männern, die ihrer Schwester Inès nachstellen. Ihre Sorge basiert auf der Kenntnis von männlichem Begehren, das sie als oft rücksichtslos und triebgesteuert wahrnimmt. Auch hier zeigt sich eine Parallele zu Slimanis Argument, dass Sexualität in vielen Fällen nicht als gegenseitiger Genuss, sondern als Kampf um Kontrolle und Machtausübung erlebt wird. Während Hakim im Roman Mia wegen ihrer Unangepasstheit bewundert, sieht er sie gleichzeitig als „ungefährlich“ – sie ist in seinen Augen keine „richtige“ Frau, weil sie sich nicht nach männlicher Aufmerksamkeit sehnt. In beiden Büchern wird somit deutlich, dass männliches Begehren in repressiven Gesellschaften nicht nur Frauen unterdrückt, sondern auch Männer selbst in rigide Vorstellungen von Männlichkeit zwingt. In beiden Werken wird klar: Ohne eine fundamentale Veränderung des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität werden sowohl Frauen als auch Männer weiterhin in einem Netz aus Unterdrückung, Doppelmoral und Frustration gefangen bleiben.

Hakim traversa la cour et descendit vers les toilettes des garçons. Il s’appuya contre le mur des salles de langue et aperçut Mia, en haut de l’escalier qui menait aux terrains de sport. Elle lui fit signe de la rejoindre mais il resta là et alluma une cigarette. Il ressentait à l’égard de son amie d’enfance des sentiments contradictoires, un mélange d’admiration et de jalousie, un désir à la fois de la protéger et de la punir. Il aimait parler avec elle de livres et de politique. Elle était la seule à s’intéresser à la littérature et à lire des livres pour le plaisir et pas seulement pour avoir de bonnes notes. La seule à qui il pouvait montrer un passage souligné, à la fin d’un chapitre. Elle levait vers lui ses yeux brillants, l’air de comprendre ce qui, dans ces phrases, l’émouvait. Il l’enviait d’être à la fois une fille populaire, invitée à toutes les fêtes, et une élève brillante, que les professeurs couvraient d’éloges. Dans les boums, Mia n’était pas du genre à se trémousser ou à se maquiller dans la salle de bains. En général, on la retrouvait au fond d’une ruelle, à boire des canettes de bière assise sur le coffre d’une voiture. Elle n’était jamais soûle et tenait mieux l’alcool que la plupart de ses camarades. Elle avait inventé un jeu qui consistait à aspirer une latte d’un gros joint conique chaque fois que Bob Marley prononçait « Jamming » dans la chanson du même nom. Au moment du refrain, la plupart des garçons s’étouffaient. Mia riait. Hakim enviait aussi son assurance et même sa virilité, cette manière de tenir les filles par les épaules ou par la taille, sa façon de porter son sac à dos ou de s’asseoir, jambes écartées, casquette en arrière. Comme les garçons, elle roulait des mécaniques et semblait dire que rien ne pouvait l’atteindre et qu’elle était faite pour dominer. Personne n’aurait osé se moquer d’elle comme on se moquait de Yanis, que tout le monde traitait de fiotte, de pédé, de tafiole, et qui s’était même fait enfermer toute une matinée dans le placard à balais du lycée. Les filles aimaient Mia. Elles ne s’en méfiaient pas. Elles se frottaient à elle, l’embrassaient dans le cou ou même sur la bouche, rapidement, avant de glousser ou de rougir. Hakim, lui, n’avait embrassé qu’une seule fille, l’été dernier, sur la plage de Bouznika. De longs baisers avec la langue, maladroits et baveux. Elle s’appelait Mouna et, entre deux cabanons, il lui avait caressé les seins, mais il était inenvisageable d’aller plus loin. Mouna était une fille bien, comme elle le soulignait elle-même, une bent nass qui ne perdrait pas sa virginité avant le mariage et qui croyait au grand amour. Les filles bien se laissaient embrasser, lécher, caresser mais pas pénétrer. Et c’est parce qu’il y avait des filles bien que les garçons étaient obligés de le faire avec des prostituées ou même entre eux. Mia, pensa Hakim, était la fille sans conséquences. Elle était une sorte de garçon mais avec elle, il n’y avait pas de risque de perdre son hymen ou sa réputation.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Hakim überquerte den Hof und ging hinunter zu den Toiletten der Jungen. Er lehnte sich an die Wand der Sprachräume und sah Mia oben auf der Treppe, die zu den Sportplätzen führte. Sie winkte ihm zu, sich zu ihr zu gesellen, aber er blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte widersprüchliche Gefühle für seine Jugendfreundin, eine Mischung aus Bewunderung und Eifersucht, den Wunsch, sie zu beschützen und gleichzeitig zu bestrafen. Er unterhielt sich gerne mit ihr über Bücher und Politik. Sie war die einzige, die sich für Literatur interessierte und Bücher zum Vergnügen las und nicht nur, um gute Noten zu bekommen. Die einzige, der er eine unterstrichene Stelle am Ende eines Kapitels zeigen konnte. Sie blickte mit ihren glänzenden Augen zu ihm auf und schien zu verstehen, was sie an diesen Sätzen bewegte. Er beneidete sie darum, dass sie sowohl ein beliebtes Mädchen war, das zu jeder Party eingeladen wurde, als auch eine brillante Schülerin, die von den Lehrern in den höchsten Tönen gelobt wurde. Auf Partys war Mia nicht der Typ, der im Badezimmer herumzappelte oder sich schminkte. Meistens fand man sie am Ende einer Gasse, wo sie auf dem Kofferraum eines Autos saß und Dosenbier trank. Sie war nie betrunken und vertrug den Alkohol besser als die meisten ihrer Mitschüler. Sie hatte ein Spiel erfunden, bei dem sie jedes Mal, wenn Bob Marley in seinem gleichnamigen Lied „Jamming“ sagte, eine Latte aus einem großen kegelförmigen Joint saugen musste. Beim Refrain verschluckten sich die meisten Jungen. Mia lachte. Auch Hakim beneidete sie um ihr Selbstbewusstsein und sogar um ihre Männlichkeit, diese Art, die Mädchen an den Schultern oder an der Taille zu halten, ihre Art, den Rucksack zu tragen oder sich breitbeinig hinzusetzen und die Mütze nach hinten zu schieben. Wie die Jungen rollte sie herum und schien zu sagen, dass ihr nichts etwas anhaben konnte und dass sie dazu gemacht war, zu dominieren. Niemand hätte es gewagt, sich über sie lustig zu machen, so wie man sich über Yanis lustig machte, den alle als Pussy, Tunte oder Schwuchtel bezeichneten und der sogar einen ganzen Vormittag in der Besenkammer der Schule eingesperrt worden war. Die Mädchen mochten Mia. Sie misstrauten ihr nicht. Sie rieben sich an ihr, küssten sie auf den Hals oder sogar auf den Mund, schnell, bevor sie kicherten oder erröteten. Hakim hatte im letzten Sommer am Strand von Bouznika nur ein einziges Mädchen geküsst. Lange Zungenküsse, ungeschickt und schleimig. Ihr Name war Mouna und zwischen zwei Hütten hatte er ihre Brüste gestreichelt, aber an mehr war nicht zu denken. Mouna war ein gutes Mädchen, wie sie selbst betonte, eine „bent nass“, die ihre Jungfräulichkeit nicht vor der Hochzeit verlieren würde und an die wahre Liebe glaubte. Gute Mädchen ließen sich küssen, lecken und streicheln, aber nicht penetrieren. Und weil es gute Mädchen gab, waren die Jungen gezwungen, es mit Prostituierten oder sogar untereinander zu tun. Mia, so dachte Hakim, war das Mädchen ohne Konsequenzen. Sie war eine Art Junge, aber bei ihr bestand nicht die Gefahr, ihr Jungfernhäutchen oder ihren Ruf zu verlieren.

In J’emporterai le feu gibt es auch Andeutungen über männliche Homosexualität, insbesondere in ihrer repressiven gesellschaftlichen Wahrnehmung. Ein Beispiel dafür ist die Figur Yanis, der von seinen Mitschülern als „fiotte“, „pédé“ und „tafiole“ (abwertende französische Begriffe für schwule Männer) verspottet wird. Er wird sogar einmal in den Besenschrank eingesperrt – eine deutliche Machtdemonstration der anderen Jungen, die sich über seine vermeintliche Andersartigkeit erheben wollen. Diese Form der homophoben Gewalt ist in Sexe et mensonges ebenfalls präsent. Slimani beschreibt dort mehrere Fälle von Übergriffen auf homosexuelle Männer in Marokko, darunter die brutale öffentliche Misshandlung eines Mannes in Fès während des Ramadan. Homosexualität wird nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern führt auch zu realer körperlicher Gefahr.

Die Verbindung beider Bücher zeigt, dass Homophobie nicht nur auf individueller Feindseligkeit beruht, sondern strukturell in die Gesellschaft eingebettet ist. Schwule Männer werden in einem Klima extremer Maskulinitätsnormen als „Abweichung“ betrachtet und entsprechend sanktioniert. Zugleich reflektiert Hakim in J’emporterai le feu darüber, dass viele Jungen aufgrund der gesellschaftlichen Regeln gezwungen sind, ihre ersten sexuellen Erfahrungen entweder mit Prostituierten oder „sogar untereinander“ zu machen. Diese Bemerkung deutet auf ein ambivalentes Verhältnis zur männlichen Homosexualität hin: Einerseits ist sie gesellschaftlich verpönt, andererseits scheint sie in bestimmten Kontexten doch zu existieren – allerdings nicht als anerkannte Identität, sondern als eine Art Übergangsphase oder Notlösung. Diese Ambivalenz deckt sich mit Slimanis Analyse in Sexe et mensonges. Sie zeigt eine Gesellschaft, in der heterosexuelle Männer oft heimlich homosexuelle Erfahrungen machen, diese aber später leugnen oder verdrängen. In Marokko werde Homosexualität oft als „westliche Dekadenz“ dargestellt, obwohl sie historisch und kulturell tief verwurzelt sei. Ein entscheidender Unterschied zwischen lesbischen und schwulen Erfahrungen in beiden Büchern ist die Intensität der staatlichen und gesellschaftlichen Repression. Während lesbische Frauen oft durch soziale Unsichtbarkeit marginalisiert werden, sind schwule Männer direkten staatlichen Verfolgungen ausgesetzt. In Sexe et mensonges erwähnt Slimani, dass Homosexualität in Marokko strafbar ist und immer wieder Männer für gleichgeschlechtliche Beziehungen verhaftet werden. Lesbische Frauen bleiben oft im Verborgenen, während schwule Männer offen angegriffen werden.

Während sich Sexe et mensonges hauptsächlich mit der Sexualität in Marokko beschäftigt, macht Leïla Slimani auch Bemerkungen über die Situation in Frankreich. Ebenso enthält J’emporterai le feu Darstellungen von queeren Räumen in Paris und die Erfahrungen lesbischer Frauen in einem westlichen Umfeld, etwa das queere Nachtleben im Marais, dem Zentrum der LGBTQ+-Szene in Paris. Inès entdeckt dort eine Welt, die für sie neu ist: lesbische Frauen in Bars, queere Clubs und alternative Magazine. Aber obwohl Mia selbst lesbisch ist, weigert sie sich, eine „gouine de service“ zu sein – also eine Art Repräsentantin der lesbischen Szene. Sie lehnt bestimmte Klischees und politische Debatten über lesbische Identität ab und distanziert sich von einer allzu offensichtlichen Zugehörigkeit zur LGBTQ+-Community. Diese Skepsis gegenüber dem Kategorisieren von Sexualität spiegelt sich auch in einem Interview in Sexe et mensonges wider, in dem eine Frau erzählt, dass sie sich selbst nicht als homosexuell definiert, sondern sich gegen jede Form von Labeling wehrt. Mia erinnert sich daran, dass in den 1990er Jahren noch polizeiliche Razzien in den Bars des Marais durchgeführt wurden. Zudem erwähnt sie, dass der gesellschaftliche Umgang mit AIDS in den 1980ern oft von Stigmatisierung geprägt war. Die Diskriminierung mag subtiler sein als in Marokko, aber sie existiert dennoch fort.

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In J’emporterai le feu stellt Leïla Slimani mit Mia Daoud eine Protagonistin ins Zentrum, die als Alter Ego der Schriftstellerin interpretiert werden kann. Durch Mia erschafft Slimani eine literarische Reflexion ihrer eigenen Erfahrungen als Exilantin, Schriftstellerin und Erinnernde. Der Roman erzählt nicht nur die Geschichte einer Familiengeneration, sondern wird zu einer Meta-Erzählung über das Schreiben selbst: über die Schwierigkeit, Vergangenheit zu rekonstruieren, über die Fragmentierung von Identität und Erinnerung, über das Schreiben als Akt des Widerstands und der Selbstbehauptung.

Jusqu’ici, Mia n’avait jamais vraiment songé à ceux qui écrivaient les livres ou plutôt, ils étaient pour elle des figures tout aussi irréelles que leurs personnages. Baudelaire flânant dans la brume des boulevards parisiens. Tolstoï dans sa blouse blanche, dirigeant son domaine. Balzac, buvant des litres de café dans une soupente. Mais durant l’automne 1989, un soir où elle faisait ses devoirs sur la table du salon, elle vit pour la première fois le visage de Salman Rushdie à la télévision. Une fatwa avait été prononcée contre l’écrivain et dans les rues du Pakistan, des fanatiques à la barbe teinte en rousse avaient brûlé son livre. Mia ne savait pas ce que le mot « fatwa » voulait dire mais à quinze ans, elle se demanda si elle serait capable, elle, de mourir pour des idées.

Bisher hatte Mia nie wirklich an die Menschen gedacht, die Bücher schrieben, oder vielmehr waren sie für sie Figuren, die genauso unwirklich waren wie ihre Charaktere. Baudelaire, der durch den Nebel der Pariser Boulevards flaniert. Tolstoi in seinem weißen Kittel, der sein Anwesen leitet. Balzac, der in einer Dachkammer literweise Kaffee trinkt. Doch im Herbst 1989, an einem Abend, als sie auf dem Wohnzimmertisch ihre Hausaufgaben machte, sah sie zum ersten Mal das Gesicht von Salman Rushdie im Fernsehen. Über den Schriftsteller war eine Fatwa verhängt worden und auf den Straßen Pakistans hatten Fanatiker mit rot gefärbten Bärten sein Buch verbrannt. Mia wusste nicht, was das Wort „Fatwa“ bedeutete, aber als sie 15 Jahre alt war, fragte sie sich, ob sie selbst in der Lage wäre, für ihre Ideen zu sterben.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Die Parallelen zwischen Mia und Slimani sind unübersehbar. Beide stammen aus einer privilegierten, intellektuellen Familie in Marokko, beide gehen als junge Frauen nach Frankreich, beide werden Schriftstellerinnen. Doch es gibt auch Unterschiede: Mia ist nicht einfach nur eine literarische Reproduktion Slimanis, sondern eine eigenständige Figur, die über das rein Autobiografische hinausgeht. Während Slimani in der Realität bereits als etablierte Autorin bekannt ist, befindet sich Mia noch auf der Suche nach ihrer Stimme. Dennoch wird deutlich, dass Slimani durch Mia eine alternative Version ihrer eigenen Geschichte erkundet. Ein besonders auffälliger Punkt der Selbstspiegelung ist Mias Auseinandersetzung mit ihrem verstorbenen Vater Mehdi. Slimanis eigener Vater, Othman Slimani, war ein hochrangiger marokkanischer Politiker, der in einen Finanzskandal verwickelt wurde, verhaftet wurde und schließlich kurz nach seiner Freilassung verstarb. In J’emporterai le feu wird dieser Vater-Tochter-Konflikt literarisch verarbeitet, indem Mia sich in der Schrift mit der Figur ihres Vaters auseinandersetzt. Das Schreiben wird für sie zu einem Akt der Bewältigung, aber auch der Annäherung an eine Wahrheit, die sich letztlich immer entzieht.

Mia ringt mit der Angst, ihre Vergangenheit zu verlieren, insbesondere als sie an den kognitiven Folgen eines „Long Covid“ leidet, was in ihrem Fall als Metapher für den Verlust von Identität und Geschichte gelesen werden kann. Indem sie schreibt, kämpft sie gegen das Vergessen an – sowohl das persönliche als auch das kollektive. Die Erzählung betont immer wieder, dass Erinnerungen nicht nur individuell, sondern auch historisch geprägt sind: Sie sind eng mit der kolonialen Vergangenheit Marokkos, mit Migrationserfahrungen und mit Geschlechterrollen verwoben.

Das Schreiben wird für Mia somit zu einer Form des Widerstands – gegen das Vergessen, gegen das Schweigen, gegen die Reduktion der eigenen Identität auf das, was andere von ihr erwarten. Sie steht exemplarisch für eine Generation von Schriftstellerinnen, die mit den Nachwirkungen kolonialer Geschichte ringen und sich über ihre Texte eine eigene Stimme verschaffen. Mia übernimmt schließlich die Rolle derjenigen, die die Geschichte der Familie erzählt und festhält – eine Funktion, die im Roman zuvor bereits anderen Figuren zugeschrieben wurde. Ihre Großmutter Mathilde träumte einst davon, Schriftstellerin zu werden, ihr Vater Mehdi begann ein Manuskript über sein Leben, doch es ist letztlich Mia, die dieses Erbe aufgreift und die Erinnerungen zu einem kohärenten Narrativ formt. Dies verweist auf einen zentralen Punkt in Slimanis Literaturverständnis: Schriftstellerinnen sind diejenigen, die nicht nur erzählen, sondern auch erschaffen – nicht nur Geschichten, sondern auch Identitäten und Erinnerungen. Durch Mia reflektiert Slimani die Möglichkeiten und Grenzen des literarischen Schreibens. Ist es eine Flucht? Eine Form der Wahrheitssuche? Eine Konstruktion? Der Roman bleibt ambivalent in seiner Antwort.

Leïla Slimanis Interview im Nouvel Observateur gewährt einen Einblick in die Entstehung und die thematische Ausrichtung des letzten Bands ihrer Trilogie Le Pays des autres. Das Gespräch reflektiert sowohl autobiografische Elemente als auch literarische, gesellschaftliche und historische Dimensionen ihres Werkes. Indem Slimani multiperspektivisch erzählt, verleiht sie den verschiedenen Figuren eine eigene Stimme und schafft so ein facettenreiches Panorama gesellschaftlicher Realitäten. Hierin äußert sich eine literarische Poetik der Empathie, die sich als ästhetisches Prinzip und als ethische Haltung zugleich begreifen lässt. Slimani unterstreicht, dass die Geschichte mit ihrer eigenen Biografie verzahnt ist, insbesondere in der Figur der Mia Daoud, deren Lebensstationen mit denen der Autorin korrespondieren, so die zentrale Thematik der Identitätsfindung, des kulturellen Dazwischenseins und der weiblichen Emanzipation. Slimanis Verbindung zum Fußball, der in ihrem Roman eine bedeutende Rolle spielt, ist biografisch verankert. Ebenso verarbeitet sie die Gefängniserfahrung ihres Vaters literarisch und erweitert sie zu einer Reflexion über Justiz, gesellschaftliche Ausgrenzung und familiäre Widerstandskraft. Der autobiografische Zugang führt dabei nicht zur Verengung auf das rein Persönliche, sondern dient vielmehr als Ausgangspunkt für eine universellere Reflexion über Machtverhältnisse und soziale Strukturen.

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Die Autorin setzt sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander und erzählt von der dritten Generation, die in einem Spannungsfeld zwischen Marokko und Frankreich aufwächst. Nelly Kaprièlian 4 bezeichnet J’emporterai le feu als das bisher beste Buch von Leïla Slimani. Der letzte Band der Trilogie sei sowohl erzählerisch als auch emotional der stärkste, da Slimani sich in diesem Werk selbst in die Geschichte einbringt. Sie hebt Slimanis Fähigkeit hervor, komplexe Familienstrukturen und unausgesprochene Emotionen literarisch zu erfassen. Die zentrale Frage des Romans laute: Was bedeutet es, in einem Land zu leben, in dem man seine wahre Identität verbergen muss? Slimani beschreibt eindrucksvoll die Einsamkeit, die daraus resultiert, sei es durch politische Verfolgung, gesellschaftliche Zwänge oder das Exil in Frankreich, wo die Protagonistinnen weiterhin als „Andere“ wahrgenommen werden. Mit J’emporterai le feu gelingt Slimani laut Kaprièlian ein intensiver, tiefgründiger Roman, der sich mit Themen wie Exil, Identität und familiärem Erbe auseinandersetzt. Der Roman sei der am stärksten „verkörperte“ ihrer Trilogie und möglicherweise ihr bestes Werk.

Nathalie Crom 5 lobt J’emporterai le feu als ein eindrucksvolles und melancholisches Finale von Leïla Slimanis Trilogie. Der Roman zeigt Mias Ängste vor Veränderung und Selbstverrat, illustriert durch das Bild der „kleinen Meerjungfrau“, die ihre Vergangenheit opfern muss, um sich in einer neuen Gesellschaft zu behaupten. Mias spätere Schriftstellerkarriere wird als Versuch dargestellt, sich mit ihrer zersplitterten Identität auseinanderzusetzen. Doch statt Klarheit zu bringen, verstärke das Schreiben ihr Unbehagen – die Vergangenheit bleibt eine Last. Crom hebt die tiefgehende psychologische Darstellung der Figuren hervor, insbesondere der starken weiblichen Charaktere wie Aïcha, Mathilde und Inès. Der Roman sei meisterhaft konstruiert, ohne Nostalgie oder Selbstmitleid, und verknüpfe persönliche Schicksale mit kollektiver Geschichte.

Marceau Cormerais 6 hebt hervor, dass J’emporterai le feu im Vergleich zu den vorherigen Bänden ambitionierter und nuancierter sei. Das Spiel mit Erzählebenen und Perspektiven wirke literarisch ausgefeilter. Er lobt insbesondere die Authentizität, mit der Slimani zwischen persönlicher und historischer Erzählung changiert. Etienne de Montety 7 betont die Distanz zur Autofiktion: Slimani schöpft zwar aus autobiografischen Elementen, doch ihr Stil bleibe klassisch, elegant und distanziert. Durch eine vielschichtige Figurenzeichnung gelinge es ihr, ein Kaleidoskop der marokkanischen Gesellschaft zwischen Tradition und Modernität zu entwerfen. Die Charakterzeichnung wurde als eine der großen Stärken des Romans gewürdigt. Christophe Ono-Dit-Biot 8 hebt insbesondere die Frauenfiguren hervor: Aïcha, die starke Mutter, die gegen das gesellschaftliche und politische Unrecht kämpft, und die Schwestern Mia und Inès, die zwischen zwei Kulturen aufwachsen. Die Entwicklung dieser Generation, die sich zunehmend von Marokko entfernt, markiert einen zentralen Punkt des Romans.

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Leïla Slimanis Roman J’emporterai le feu ist nicht nur eine epische Familiengeschichte, sondern auch ein komplex komponiertes Werk, das sich durch eine raffinierte Erzählstruktur, eine kunstvolle Sprachführung und eine tiefgründige Reflexion über Zeit, Erinnerung und Fiktion auszeichnet. Die Poetik des Romans vereint verschiedene Erzähltechniken und stilistische Verfahren, um die konfliktreiche Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Traum und Realität, zwischen Marokko und Frankreich zu verhandeln. Slimani nutzt eine auktoriale Erzählweise mit stark personalisierten Einschüben. Der Erzähler wechselt zwischen verschiedenen Figurenperspektiven und ermöglicht dadurch tiefe psychologische Einblicke in ihre Innenwelten. „Mehdi pensa : ‘Je suis en Amérique. Je suis un petit Arabe à lunettes, mais c’est moi qu’ils écoutent.’“ Diese Technik macht Mehdis Selbstwahrnehmung unmittelbar erfahrbar. Ähnliche Passagen existieren für Mia, Aïcha oder Inès, wodurch das Innenleben jeder Figur in ihrer jeweiligen Zeit und Situation sichtbar wird.

Ein besonderes Merkmal der Erzähltechnik ist die Selbstreflexion der Figuren über ihr eigenes Erzählen, mit Spiegelungen und Distanzierungen. So denkt Mia über ihre Erinnerungen nach und fragt sich, inwiefern sie überhaupt real sind oder nur durch ihre eigene Erzählung geformt wurden. „Ich hatte mir nach einem Gespräch mit meiner Mutter Notizen gemacht, aber diese Notizen befanden sich in keinem Notizbuch. Egal, wie oft ich die Seiten umblätterte, ich stieß immer nur auf erfundene Geschichten.“ 9 Diese Reflexion über das Erzählen ist ein zentrales poetologisches Mittel des Romans und verweist auf die Konstruktion von Identität durch Sprache.

Der Roman folgt keiner chronologischen Abfolge, sondern springt zwischen verschiedenen Zeiten hin und her. Ein Vergleich mit Pompeji verdeutlicht das poetische Prinzip der „eingefrorenen Zeit“. Erinnerung wird nicht als lineares Kontinuum, sondern als Fragment betrachtet, das erst durch das Erzählen rekonstruiert wird.

Zahlreiche Episoden spiegeln sich innerhalb des Romans. Beispielsweise erscheint Mehdis Vision eines wirtschaftlichen Aufstiegs in Casablanca als Widerspruch zu seiner späteren Inhaftierung. „Ces murs le tenaient captif en même temps qu’ils le protégeaient.“ Diese Paradoxie – Fortschritt, der in Gefangenschaft endet – liegt der Erzählökonomie des Romans zugrunde.

Oui, cette ville lui faisait peur. Casablanca et ses deux millions d’habitants. Les étrangers étaient partis, les Espagnols du Maarif, les Italiens du Belvédère, les coopérants français qui comme Henri avaient cru dans l’avenir de la jeunesse marocaine. Tous les jours, à la gare routière, débarquaient des familles de paysans. Casablanca, où avait été inventé le mot « bidonville », grandissait trop vite et chaque nuit, il semblait que des baraques avaient poussé, on avait creusé une ruelle, un groupe de mendiants s’était fait une place aux abords d’un club ou d’un restaurant. Des calèches tirées par des carnes erraient au pied des immeubles de luxe. Des filles aux yeux rougis par le haschich prenaient des coups de couteau sur la Corniche. Les bâtiments n’étaient ni assez hauts, ni assez blancs, ni assez modernes pour masquer la misère. La ville était trouée de terrains vagues et Mehdi se demandait si c’était la ville qui rognait sur la campagne ou la campagne qui colonisait la ville. Entre deux buildings paissaient des vaches faméliques et dans l’arrière-cour d’une clinique huppée, un coq marchait fièrement et réveillait à l’aube les patients. Loin, là-bas, dans les quartiers où la police patrouillait tous feux éteints, des garçons aux cheveux frisés composaient des chansons interdites. On se refilait sur cassette des prêches vindicatifs ou des morceaux de rock. La ville résistait, tel un organisme vivant qui combat la maladie. Elle résistait au silence, à la répression, à l’ordre qu’on voulait lui imposer comme on enserre la taille d’une femme dans un corset. La ville blanche inquiétait Mehdi autant qu’elle le ravissait. Il était écœuré par l’odeur d’iode et de poubelle qui stagnait constamment, par le vent poisseux qui vous donnait l’impression d’être sale et, en même temps, il ne pouvait plus s’en passer. Parfois, il se disait qu’il suffirait d’une étincelle pour que tout explose, que le chaudron se mette à bouillir et qu’éclatent des émeutes, comme en 1965. Tous les ingrédients étaient réunis : la sécheresse, la coûteuse guerre au Sahara, l’inflation. Le pays était à genoux, misérable, fatigué par les promesses non tenues. Il semblait loin le temps des utopies et de l’optimisme. Les marxistes, les vrais, croupissaient en prison tandis que les politiques de tout bord appelaient au réalisme, au pragmatisme, au compromis.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Ja, diese Stadt machte ihm Angst. Casablanca mit seinen zwei Millionen Einwohnern. Die Ausländer waren weg, die Spanier vom Maarif, die Italiener vom Belvedere, die französischen Entwicklungshelfer, die wie Henri an die Zukunft der marokkanischen Jugend geglaubt hatten. Jeden Tag stiegen am Busbahnhof Bauernfamilien aus. Casablanca, wo das Wort „Slum“ erfunden worden war, wuchs zu schnell, und jede Nacht schien es, als seien Hütten aus dem Boden gewachsen, als habe man eine Gasse gegraben, als habe sich eine Gruppe von Bettlern einen Platz am Rande eines Clubs oder eines Restaurants gesichert. Von Karnickel gezogene Kutschen irrten am Fuße von Luxusgebäuden umher. Mädchen mit vom Haschisch geröteten Augen stachen auf der Corniche mit Messern zu. Die Gebäude waren nicht hoch genug, nicht weiß genug und nicht modern genug, um das Elend zu verbergen. Die Stadt war von Ödland durchzogen und Mehdi fragte sich, ob die Stadt das Land beschneidet oder das Land die Stadt besiedelt. Zwischen zwei Hochhäusern weideten hungrige Kühe und im Hinterhof einer vornehmen Klinik lief ein Hahn stolz umher und weckte im Morgengrauen die Patienten. Weit draußen in den Vierteln, in denen die Polizei mit ausgeschaltetem Licht patrouillierte, komponierten Jungen mit lockigem Haar verbotene Lieder. Rachepredigten und Rocksongs wurden auf Kassette weitergegeben. Die Stadt wehrte sich, wie ein lebender Organismus, der eine Krankheit bekämpft. Sie widersetzte sich dem Schweigen, der Unterdrückung und der Ordnung, die man ihr aufzwingen wollte, wie man die Taille einer Frau in ein Korsett schnürt. Die weiße Stadt beunruhigte Mehdi ebenso sehr wie sie ihn begeisterte. Er ekelte sich vor dem Geruch nach Jod und Müll, der ständig in der Luft hing, vor dem klebrigen Wind, der einem das Gefühl gab, schmutzig zu sein, und gleichzeitig konnte er nicht genug davon bekommen. Manchmal dachte er, dass ein Funke genügen würde, um alles zum Explodieren zu bringen, den Kessel zum Kochen zu bringen und Unruhen wie 1965 ausbrechen zu lassen. Alle Zutaten waren vorhanden: die Dürre, der teure Krieg in der Sahara, die Inflation. Das Land war auf den Knien, elend und müde von den nicht eingehaltenen Versprechungen. Die Zeit der Utopien und des Optimismus schien weit weg zu sein. Echte Marxisten schmorten im Gefängnis, während Politiker aller Couleur zu Realismus, Pragmatismus und Kompromissen aufriefen.

Mehrere Figuren erleben Visionen oder Erinnerungen in traumartigen Sequenzen. Besonders Mia reflektiert ihre Vergangenheit oft in einem Zustand zwischen Wachen und Schlaf: „Es gibt das, was ich sehe, und das, was ich mir vorstelle, das, woran ich mich erinnere, und das, was ich feststelle, und alles vermischt sich so sehr, dass ich keine Grenze mehr ziehen kann zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Wahrheit und Erfindung.“ 10 Diese Passage lässt Träume nicht nur als Flucht aus der Realität, sondern auch als alternative Wahrnehmungsweisen fungieren.

Ein entscheidender poetischer Moment im Roman ist Mias Erkenntnis, dass ihre Erinnerungen von der Fiktion durchdrungen sind; der Roman reflektiert hier über seine eigene Poetik. „J’avais beau tourner les pages, je ne tombais que sur des histoires inventées, des personnages créés et aussitôt condamnés.“ Diese metanarrative Ebene verweist auf das literarische Verfahren der Autorin: Erinnerung ist immer auch Fiktion.

Il y a quelques années, j’ai essayé d’écrire sur lui. Je me suis mise à la recherche de documents mais ils sont restés introuvables. J’avais pris des notes après une discussion avec ma mère, mais ces notes n’étaient dans aucun carnet. J’avais beau tourner les pages, je ne tombais que sur des histoires inventées, des personnages créés et aussitôt condamnés. Il y avait des lettres aussi, des lettres que mon père a reçues en prison mais qui se sont perdues. Je ne peux pas les avoir rêvées. Ces documents ont existé et ils conspirent contre moi. Ils disparaissent pour me rendre folle, pour m’empêcher de donner une réalité à ce récit. Quelque chose cherche à m’échapper. En revanche, je sais ce qui n’existe pas. Je n’ai aucun exemplaire de l’écriture de mon père. Il ne m’a jamais écrit. Même pas un petit mot, une note informative, une carte d’anniversaire. Ce n’est pas moi qui ai perdu ses mots, c’est lui qui ne me les a jamais écrits. Il n’existe pas non plus de photographies de mes grands-parents, Farida et Mohamed, et c’est comme si mon père était né de lui-même, premier de sa lignée. Je n’ai jamais vu une photo de lui enfant.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Vor einigen Jahren habe ich versucht, über ihn zu schreiben. Ich machte mich auf die Suche nach Dokumenten, aber sie waren nicht auffindbar. Ich hatte mir nach einem Gespräch mit meiner Mutter Notizen gemacht, aber diese Notizen waren in keinem Notizbuch zu finden. Egal, wie oft ich die Seiten umblätterte, ich stieß immer nur auf erfundene Geschichten, erschaffene Charaktere, die sofort wieder verurteilt wurden. Es gab auch Briefe, Briefe, die mein Vater im Gefängnis erhalten hatte, die aber verloren gegangen waren. Ich kann sie nicht geträumt haben. Diese Dokumente gab es wirklich und sie haben sich gegen mich verschworen. Sie verschwinden, um mich verrückt zu machen, um mich daran zu hindern, dieser Erzählung eine Realität zu geben. Etwas versucht, sich mir zu entziehen. Andererseits weiß ich, was es nicht gibt. Ich habe kein Exemplar der Handschrift meines Vaters. Er hat mir nie geschrieben. Nicht einmal einen Zettel, eine informative Notiz oder eine Geburtstagskarte. Nicht ich habe seine Worte verloren, sondern er hat sie mir nie geschrieben. Es gibt auch keine Fotos von meinen Großeltern, Farida und Mohamed, und es ist, als wäre mein Vater aus sich selbst heraus geboren worden, als Erster seiner Linie. Ich habe noch nie ein Foto von ihm als Kind gesehen.

Eine zentrale Metapher des Romans ist das „Feuer“, das in der Vergangenheit liegt, aber dennoch weitergetragen wird. „Je veux emporter le feu, qu’il ne s’éteigne pas dans cette nuit interminable.“ Hier wird Feuer als Bild für Erinnerung und Erzählung benutzt: Es kann Wärme und Licht bringen, aber auch zerstören. Gleichzeitig steht die Metapher des Fossils – wie im Vergleich mit Pompeji – für das Erstarren der Vergangenheit. Der Roman oszilliert also zwischen den Polen von Bewahren und Verbrennen.

J’ai monté les marches et je suis entrée dans le salon. C’est difficile à croire, difficile à imaginer, et pourtant, non, rien n’a changé. La maison ressemble à un sarcophage, comme si un sortilège avait arrêté le temps, et il en est de mon enfance, de ces vies passées, comme de la ville de Pompéi. Ne restent plus que des objets figés sous la poussière et la cendre, une existence réduite à l’état de fossile. Au bord du lavabo, dans la salle de bains de l’entrée, un morceau de savon fendillé a moisi. La robe de chambre de Mathilde est encore accrochée derrière la porte. J’ai ouvert le placard. Le placard aux délices que ma grand-mère gardait toujours fermé et dont elle cachait la clé dans son soutien-gorge. Des canettes de soda et des boîtes de conserve ont explosé et leur contenu s’est répandu sur les étagères. Les assiettes alsaciennes sont toujours à leur place dans le vaisselier. Les tasses blanches, celles avec des fleurs orange, sont posées sur la table. Je pense à l’arrivée de Pip à Satis House. À cette pauvre Miss Havisham dans ses dentelles jaunies.

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

Ich stieg die Treppe hinauf und betrat das Wohnzimmer. Es ist schwer zu glauben, schwer vorstellbar, und doch, nein, es hat sich nichts verändert. Das Haus sieht aus wie ein Sarkophag, als hätte ein Zauber die Zeit angehalten, und mit meiner Kindheit, diesen vergangenen Leben, verhält es sich wie mit der Stadt Pompeji. Es gibt nur noch Gegenstände, die unter Staub und Asche eingefroren sind, eine Existenz, die zu einem Fossil geworden ist. Am Rand des Waschbeckens im Badezimmer im Eingangsbereich liegt ein Stück Seife, das einen Riss hat und verschimmelt ist. Mathildes Bademantel hängt noch hinter der Tür. Ich öffnete den Schrank. Den Schrank mit den Köstlichkeiten, den meine Großmutter immer geschlossen hielt und deren Schlüssel sie in ihrem BH versteckte. Limonadendosen und Konservendosen explodierten und ihr Inhalt verteilte sich auf den Regalen. Die elsässischen Teller stehen noch immer an ihrem Platz im Geschirrschrank. Die weißen Tassen, die mit den orangefarbenen Blumen, stehen auf dem Tisch. Ich denke an Pips Ankunft in Satis House. An die arme Miss Havisham in ihren vergilbten Spitzen.

Besonders auffällig ist Slimanis Gebrauch von intertextuellen Vergleichen. Beispielsweise vergleicht Mia ihre Rückkehr ins Elternhaus mit Pip aus Große Erwartungen. Diese Referenz auf Dickens’ Roman verstärkt das Motiv der Zeit als etwas, das nicht vergeht, sondern gefangen bleibt. Slimanis J’emporterai le feu ist nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch eine literarische Reflexion über Zeit, Fiktion und Erzählkunst. Durch eine multiperspektivische Erzählweise, eine fragmentierte Zeitstruktur und eine tiefgehende Metaphorik erschafft die Autorin eine narrative Welt, in der Erinnerung nicht als objektive Wahrheit, sondern als poetische Konstruktion erscheint. Die Poetik des Romans zeigt, dass Fortschritt, Vergangenheit und Identität letztlich nur in der Erzählung existieren – und dass es diese Erzählung ist, die die Figuren, und damit auch die Leserinnen und Leser, weiterträgt.

*

J’emporterai le feu bringt die Themen der ersten beiden Bände zu einem Abschluss. Während Le pays des autres von Fremdheit und Kolonialismus handelt und Regardez-nous danser die Suche nach Identität und Unabhängigkeit beschreibt, zeigt J’emporterai le feu, dass die Vergangenheit unausweichlich in die Gegenwart hineinwirkt. Mia, als Vertreterin der dritten Generation, erbt die Konflikte und Träume ihrer Familie. Ihre Geschichte ist die eines Marokkos, das sich in der Globalisierung verliert, zwischen Modernität und Tradition zerrissen bleibt und nach einem neuen Selbstverständnis sucht. Der dritte Band ist entscheidend für die Gesamtdeutung, da er zeigt, dass Geschichte nicht abgeschlossen wird, sondern weitergetragen wird. Das „Feuer“ steht für das Erbe, das jede Generation mit sich trägt – und das, was sie der nächsten hinterlässt. Slimani gelingt es, eine intime Familiensaga mit den großen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen Marokkos zu verknüpfen, und damit eine universelle Geschichte über Identität, Zugehörigkeit und Wandel zu erzählen.

Während Le pays des autres die Unterdrückung durch die Kolonialmacht zeigt, thematisiert der dritte Band die subtileren, aber nachhaltigen Auswirkungen dieser Vergangenheit auf die Identität der späteren Generationen. In Le pays des autres kämpft Mathilde mit patriarchalen Strukturen, in Regardez-nous danser versucht Aïcha, als Ärztin und emanzipierte Frau in Marokko ihren Platz zu finden. In J’emporterai le feu erlebt Mia eine Gesellschaft, in der Frauenrechte zwar offiziell fortgeschritten sind, aber immer noch Einschränkungen unterliegen. Alle Figuren der Trilogie ringen mit der Frage, wo sie hingehören – sei es Mathilde als Europäerin in Marokko, Aïcha als Frau zwischen zwei Kulturen oder Mia, die in einer globalisierten Welt nach einer Identität sucht. Leïla Slimani verwebt eine intime Familiensaga mit den großen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Marokkos, und der dritte Band bildet nicht nur den chronologischen Abschluss der Erzählung, sondern er gibt der gesamten Trilogie eine übergreifende Bedeutung. Während die ersten beiden Bände den Kampf um Unabhängigkeit und soziale Modernisierung schildern, zeigt J’emporterai le feu, dass Geschichte niemals abgeschlossen ist. Mia, als Vertreterin der dritten Generation, erbt nicht nur die materiellen Errungenschaften ihrer Familie, sondern auch ihre Traumata und Konflikte. Sie erkennt, dass wahre Freiheit nicht in der Abkehr von der Vergangenheit liegt, sondern in der bewussten Auseinandersetzung mit ihr.

Der Abschluss der Trilogie deutet auch darauf hin, dass Mia vielleicht die erste in ihrer Familie ist, die wirklich eine Wahl hat: Sie kann das Feuer mitnehmen, aber sie kann auch entscheiden, was sie damit tut. Leïla Slimanis Trilogie ist also nicht nur eine Geschichte über Marokko, sondern eine universelle Erzählung über das Erbe der Geschichte und die Frage, wie man sich als Individuum in einer Welt der Umbrüche positioniert. Mia verkörpert diesen Konflikt – und zugleich die Hoffnung, dass jede Generation neu entscheiden kann, was sie aus der Vergangenheit mitnimmt. Mia ist nicht nur die Erbin ihrer Familie, sondern auch eine Synthese ihrer Vorfahren: Von Mathilde erbt sie den Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit. Doch anders als ihre Großmutter ist sie nicht in einem Land gefangen, das sie als Fremde sieht – stattdessen fühlt sie sich überall ein wenig fremd. Von Aïcha erbt sie die Ambivalenz zwischen Anpassung und Rebellion. Während ihre Mutter sich noch stark an moralische und familiäre Verpflichtungen gebunden fühlte, versucht Mia, diese Normen zu hinterfragen. Von Mehdi erbt sie das Bewusstsein für Machtstrukturen. Doch im Gegensatz zu ihrem Vater will sie sich nicht mit den Kompromissen arrangieren, die mit Einfluss und Wohlstand einhergehen. Mia erkennt, dass jede Generation mit den Altlasten der Vergangenheit kämpfen muss. Doch anders als ihre Eltern oder Großeltern hat sie die Möglichkeit, in einer Welt zu leben, die ihr mehr Optionen bietet – allerdings auch weniger klare Antworten. Mit Mia erschafft Leïla Slimani eine Protagonistin, die sowohl ihr Alter Ego als auch eine eigenständige literarische Figur ist. Durch sie thematisiert sie zentrale Fragen postkolonialen Schreibens: Identität, Exil, Erinnerung und Selbstbehauptung. J’emporterai le feu wird dadurch nicht nur zu einem eindrucksvollen Abschluss einer Familiengeschichte, sondern auch zu einem Roman über das Schreiben selbst – über seine Kraft, aber auch über seine Grenzen.

Au lycée, la salle informatique portait le nom d’un garçon tué par des skinheads pendant ses études, dans un pays d’Europe de l’Est. Mia imagina que ça pourrait lui arriver à elle. Avec sa tête d’Africaine, ses cheveux crépus, ce nom Daoud qui ne tromperait personne, ils la reconnaîtraient. Ils la poursuivraient, la jetteraient par-dessus un pont, lui ouvriraient la bouche sur un trottoir, lui feraient le grand sourire. Le grand sourire des Arabes. Que connaissait-elle de la France ? Dans la chambre de Mathilde, un portrait en noir et blanc était accroché à droite du lit, dans un joli cadre doré. Georges et Anne Meyer. Ses arrière-grands-parents. Leur sang coulait dans ses veines – c’était grâce à eux qu’elle avait un passeport français – mais elle ne leur ressemblait pas. S’ils la voyaient, pourraient-ils la reconnaître ou la traiteraient-ils de crouille, de bicot, d’étrangère ? Elle essaya de se convaincre que ce ne serait pas si différent, qu’elle n’aurait aucun mal à se faire une place. Elle parlait la langue, elle maîtrisait les codes et les usages. Et il y avait Paris ! Elle avait beau n’y être allée que deux fois, pour de courtes vacances, elle avait l’impression de connaître cette ville aussi bien que son propre corps. L’hôtel particulier des Saccard dans le parc Monceau. Les cafés de la Goutte d’Or où Gervaise succombe à l’absinthe. L’appartement d’Aurélien dans le roman d’Aragon. Puis la panique la saisissait. La France avait-elle vraiment quelque chose à voir avec Zola, Balzac ou Aragon ? D’ailleurs, dans ces romans-là, romans qu’elle chérissait plus que tout et qu’elle avait glissés dans ses bagages, jamais elle n’avait rencontré une fille comme elle. Si elle n’existait pas dans leurs livres, pourrait-elle exister dans la vraie vie ?

Leïla Slimani, J’emporterai le feu.

In der Schule war der Computerraum nach einem Jungen benannt, der während seiner Schulzeit in einem osteuropäischen Land von Skinheads getötet worden war. Mia stellte sich vor, dass ihr das auch passieren könnte. Mit ihrem afrikanischen Gesicht, ihren krausen Haaren und dem Namen Daoud, der niemanden täuschen würde, würden sie sie erkennen. Sie würden sie verfolgen, sie über eine Brücke werfen, ihr auf dem Bürgersteig den Mund aufreißen und ihr das große Lächeln schenken. Das große Lächeln der Araber. Was wusste sie schon von Frankreich? In Mathildes Zimmer hing rechts neben dem Bett ein Schwarz-Weiß-Porträt in einem hübschen Goldrahmen. Georges und Anne Meyer. Ihre Urgroßeltern. Ihr Blut floss in ihren Adern – ihnen hatte sie ihren französischen Pass zu verdanken -, aber sie sah ihnen nicht ähnlich. Würden sie sie erkennen, wenn sie sie sahen, oder würden sie sie als „crouille“, „bicot“ oder „étranger“ bezeichnen? Sie versuchte sich einzureden, dass es gar nicht so anders sein würde, dass sie keine Probleme haben würde, sich einen Platz zu erobern. Sie sprach die Sprache, sie beherrschte die Codes und die Gepflogenheiten. Und dann war da noch Paris! Sie war zwar nur zweimal für einen Kurzurlaub dort gewesen, aber sie hatte das Gefühl, diese Stadt so gut zu kennen wie ihren eigenen Körper. Das Privathaus der Saccards im Parc Monceau. Die Cafés der Goutte d’Or, in denen Gervaise dem Absinth erlag. Die Wohnung von Aurélien in Aragons Roman. Dann wurde sie von Panik ergriffen. Hatte Frankreich wirklich etwas mit Zola, Balzac oder Aragon zu tun? Außerdem hatte sie in diesen Romanen, die sie über alles schätzte und die sie in ihr Gepäck gesteckt hatte, nie ein Mädchen wie sie getroffen. Wenn sie in ihren Büchern nicht existierte, könnte sie dann im wirklichen Leben existieren?

Anmerkungen
  1. Le Monde, 23. Januar 2025.>>>
  2. Nelly Kaprièlian, L’Obs, 21. Januar 2025.>>>
  3. Raphaëlle Leyris, Le Monde, 23. Januar 2025.>>>
  4. Nelly Kaprièlian, L’Obs, 21. Januar 2025.>>>
  5. Nathalie Crom, Télérama, 23. Januar 2025.>>>
  6. Marceau Cormerais, Les Echos, 25. Januar 2025.>>>
  7. Etienne de Montety, Le Figaro, 23. Januar 2025.>>>
  8. Christophe Ono-Dit-Biot, Le Point, 23. Januar 2025.>>>
  9. „J’avais pris des notes après une discussion avec ma mère, mais ces notes n’étaient dans aucun carnet. J’avais beau tourner les pages, je ne tombais que sur des histoires inventées.“>>>
  10. „Il y a ce que je vois et ce que j’imagine, ce dont je me souviens et ce que je constate, et le tout se mêle au point que je ne parviens plus à tracer de frontière entre le présent et le passé, entre la vérité et l’invention.“>>>

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