Algerienkrieg, Orestie, Film noir: Serge Raffy
Serge Raffys „L’odeur de la sardine“ (Fayard, 2025) ist ein hybrides Werk, das sich an der Schnittstelle von Kriminalroman, historiographischer Fiktion und politischer Allegorie bewegt. Der rätselhafte Mord am ehemaligen Polizeichef Charles Bayard in Paris entpuppt sich als Katalysator für eine tiefgreifende Reise in die unheilbaren Wunden des Algerienkrieges. Raffy nutzt eine Poetik des „mentir vrai“, um die verdrängten Traumata und die „dunkle Seite des Gaullismus“ freizulegen. Der titelgebende „widerliche Geruch der Sardine“ wird dabei zum durchdringenden Symbol der unentrinnbaren Kriegsschuld und des Posttraumas, das Bayard und die ganze Nation zeitlebens verfolgt. Die Figurenkonstellation – von der wahrheitssuchenden Jeanne Obadia über den Journalisten mit Schreibblockade Rochas bis zum ambivalenten Ermittler Sarda – reflektiert unterschiedliche Positionen im Diskurs über Erinnerung und Schuld. Im Kern ist „L’odeur de la sardine“ ein moderner Algerienroman und kann als Nachspiel zur antiken „Orestie“ gelesen werden, in dem die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne die „mauvaise conscience française“ offenbart. Raffy beleuchtet das transgenerationale Schweigen und die „leeren Gräber“ als Metaphern für eine systematisch verdrängte Vergangenheit. Raffy verzichtet auf eine einfache Auflösung des Kriminalfalls und der historischen Schuld. Stattdessen inszeniert er eine vielstimmige, filmisch geprägte Erzählung, die von Film-noir-Ästhetik und der Fragmentierung der Erinnerung geprägt ist. So bleibt der Algerienkrieg als „ungelöster Fall“ bestehen, dessen „Geruch“ in den Seelen und Köpfen über dem Mittelmeer schwebt und eine Versöhnung fordert, die noch aussteht.
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