Roger de Wecks Bericht zum Barbie-Prozess für die Zeit erwähnte damals auch den Autor des Vaterromans Enfant de salaud: „Sorj Chalandon, der glänzende Berichterstatter von Libération, verzweifelte über den „tausend Fragen“, die im Barbie-Prozeß hätten gestellt werden sollen, meist nicht gestellt wurden, in Ausnahmefällen nicht gestellt werden durften.“ 1 Der Roman verknüpft nun Chalandons Auseinandersetzung mit der großen Geschichte – dem Schlächter von Lyon Klaus Barbie – und mit intimer Familiengeschichte – dem eigenen, 2014 verstorbenen Vater, der bereits 2015 Gegenstand des Romans Profession du père war. Zum Prozess ging der Autor nach eigenen Angaben auf Vorschlag des Vaters und gemeinsam mit ihm:
AnmerkungenJudéité
Französisch-jüdische Literatur ist weniger ein fest umrissenes Genre als ein imaginäres Territorium, in dem Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität neu verhandelt werden. Dieses literarische Feld hat sich seit dem Mittelalter entwickelt – von den judäo-französischen Glossen Rashis bis zu zeitgenössischen Romanen. Einheitliche Kriterien fehlen: Es gibt keine gemeinsame Sprache oder festes Genre, sondern eine besondere literarische Sensibilität, geprägt von der Spannung zwischen jüdischer Identität (Judéité im Sinne von Nelly Wolf) und französischem Universalismus. Zentrale Themen sind etwa Assimilation, Entfremdung, Shoah-Erinnerung, Antisemitismus, Israel/Nahost, Migration, genealogische Spurensuche und Fragen sprachlicher Identität. Stilistisch zeigen sich Spuren von Hebräisch oder Jiddisch sowie ein reflektierter Umgang mit der französischen Sprache.
Definition von Nelly Wolf: „Un écrivain juif de langue française est un écrivain dont la judéité produit des effets dans le champ littéraire francophone. À l’image de sa judéité civique que le citoyen juif négocie dans l’espace politique, la judéité littéraire est confrontée à un large spectre de possibilités, dont le camouflage et l’ostentation constituent les deux extrémités.“ (Le Juif imaginé, 2023)
„Ein französischsprachiger jüdischer Schriftsteller ist ein Schriftsteller, dessen Jüdischkeit im frankophonen Literaturbereich Wirkung zeigt. Wie das bürgerliche Jüdischsein, das der jüdische Bürger im politischen Raum aushandelt, sieht sich auch das literarische Jüdischsein mit einem breiten Spektrum von Möglichkeiten konfrontiert, dessen beiden Extreme Verschleierung und Zurschaustellung bilden.“
Im Unterschied zu Nelly Wolf fasst diese Rubrik generell Bücher zur Thematik der Jüdischkeit, unabhängig von der Person des Autors bzw. der Autorin. Frankreich war das erste Land Europas, das Juden 1791 vollwertige Bürgerrechte verlieh. Heute sind die Jüdinnen und Juden Frankreichs die größte Gemeinschaft in Europa, weltweit die drittgrößte nach den USA und Israel. Frankreichs jüdisches Leben ist stark in Paris und einigen südlichen Städten wie Marseille, Lyon und Toulouse konzentriert.
Photoautomat und Schlemihl
Und Dich, mein lieber Chamisso, hab ich zum Bewahrer meiner wundersamen Geschichte erkoren, auf daß sie vielleicht, wenn ich von der Erde verschwunden bin, manchen ihrer Bewohner zur nützlichen Lehre gereichen könne. Du aber, mein Freund, willst Du unter den Menschen leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld. Willst Du nur Dir und Deinem bessern Selbst leben, o so brauchst Du keinen Rat.
Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte
Die Herausgeberfiktion war in den letzten Jahrhunderten eine Strategie, eigene Fiktion als ein gefundenes Dokument zu legitimieren. Im 21. Jahrhundert kann dies auf andere Weise ein Album mit fremden Selfies sein. Jener Jacob B’rebi hat Anfang der 70er Jahre in einem Jahr 369 Automatenbilder von sich angefertigt und in ein Album geklebt. Der Roman Les vies de Jacob von Christophe Boltanski ist eine Reflexion auf Identität und Erinnerung, ausgehend von einer unbekannten, nomadischen Existenz.
Schnappschüsse eines jüdischen Exils in Frankreich
Saturn erscheint in fast allen Longlists für die Literaturpreise im Herbst. Die Romanschriftstellerin und Psychoanalytikerin Sarah Chiche erzählt ihre tragische Geschichte und die ihrer Familie, die sie einst in eine schwere Depression stürzte. Wie in einem Film hält sie Schnappschüsse aus der Kindheit ihres Vaters fest: die 1950er Jahre, Algier, ihr Vater Harry, der mit seinem älteren Bruder Armand aufwächst, und seine wohlhabenden Eltern Louise und Joseph. Die Männer der Familie sind Klinikärzte. Die jüdische Familie gehört nicht zu den französischen Kolonisten, sondern lebte in Algerien, seit sie im 15. Jahrhundert aus Spanien vertrieben worden waren. Ein verschwenderisches Leben bis zum Algerienkrieg, dann Exil in Frankreich, Täter und Opfer der Vergangenheit.