Photoautomat und Schlemihl

Und Dich, mein lieber Chamisso, hab ich zum Bewahrer meiner wundersamen Geschichte erkoren, auf daß sie vielleicht, wenn ich von der Erde verschwunden bin, manchen ihrer Bewohner zur nützlichen Lehre gereichen könne. Du aber, mein Freund, willst Du unter den Menschen leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld. Willst Du nur Dir und Deinem bessern Selbst leben, o so brauchst Du keinen Rat.

Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Die Herausgeberfiktion war in den letzten Jahrhunderten eine Strategie, eigene Fiktion als ein gefundenes Dokument zu legitimieren. Im 21. Jahrhundert kann dies auf andere Weise ein Album mit fremden Selfies sein. Jener Jacob B’rebi hat Anfang der 70er Jahre in einem Jahr 369 Automatenbilder von sich angefertigt und in ein Album geklebt. Der Roman Les vies de Jacob von Christophe Boltanski ist eine Reflexion auf Identität und Erinnerung, ausgehend von einer unbekannten, nomadischen Existenz.

L’effet d’optique ne résistait pas à un examen plus attentif. Derrière ce sourire inaugural, il n’y avait qu’une seule personne. Un inconnu résumé à son buste en hermès, un homme-tronc et manchot enfermé dans un petit rectangle de carton bordé d’un contour blanc. Des tirages de dimensions standard : 3,5 centimètres de large, 4,5 centimètres de haut, le format prévu pour un passeport ou un permis de conduire. Quoi de plus banal ? La photo d’identité figure parmi les choses les mieux partagées du monde. Reliquats administratifs, miroirs d’une jeunesse perdue, on en possède tous quelques exemplaires démonétisés enfouis au fond d’un tiroir.

Christophe Boltanski, Les vies de Jacob

Die optische Wirkung hielt einer genaueren Betrachtung nicht stand. Hinter diesem Eröffnungslächeln gab es nur eine einzige Person. Einen Fremden, zusammengefasst in seiner Hermes-Büste, einem gliederlosen Rumpf, eingefangen in einem kleinen Papp-Rechteck, von einem weißen Rand eingerahmt. Standardgröße der Abzüge: 3,5 cm breit, 4,5 cm hoch, das entspricht der Größe eines Reisepasses oder Führerscheins. Was könnte banaler sein? Das Ausweisfoto ist eines der am meisten verbreiteten Dinge auf der Welt. Relikte der Verwaltung, unsere verlorene Jugend widerspiegelnd – wir alle haben ein paar entwertete Exemplare in der Schublade liegen.

Der Autor-Erzähler erwirbt dieses Photoalbum auf einem Flohmarkt, und er deutet diese wechselnden Ansichten einer fremden Identität, mal mit Bart, mal in Uniform, mal mit besorgtem Gesicht, mal künstlich lächelnd. Es beginnt eine lange Recherche nach dieser anonymen Figur, metonymisch für Frankreich stehend. Die Dankesworte am Schluss des Buches zeigen, wieviel erkenntnisreiche Gespräche der Autor geführt haben muss. Der Verlag:

„Son besoin de savoir le conduit dans des échoppes à l’abandon, des terrains vagues, des docks déserts, des lieux ultra-sécurisés, puis dans les cimetières de Djerba, et enfin en Israël, aux confins du désert du Néguev ou au pied du mont Hermon. Patiemment, l’auteur reconstitue les vies vécues et rêvées de Jacob, où se mêlent paradis perdu, exil, désirs de vengeance, guerres et ambitions artistiques. Peu à peu, la quête s’approche du mythe, celui d’un homme qui recherche une terre pour oublier les arrachements de l’enfance, mêle instinct de fuite et de liberté, dans l’espoir de se réconcilier avec la mort et avec la vie.“ 1

Boltanski bezieht Adelbert von Chamissos Kunstmärchen Schlemihl auf seinen Jacob: So wie dieser seinen Schatten dem Teufel verkauft und dafür einen immer gefüllten Säckel Gold erhält, erlebt er den folgenden Ausschluss aus seiner Gesellschaft. Und ähnlich der lothringische Autor Chamisso, in Reims geboren, so steht die Geschichte laut Boltanski für die Qualen eines Jahrhunderts „das durch den Aufstieg des Individualismus, durch das Bedürfnis nach Autonomie, Ruhe und Anerkennung, nach Distinktion gekennzeichnet war.“ 2

George Cruikshank, Ill. zu Peter Schlemihls wundersamer Geschichte, online

Tu te demandes sans doute pourquoi je te raconte tout cela. Ta vie n’est pas un conte fantastique et je me garderai bien de te traiter de schlemiel ou de toute autre épithète. Mais vos destins ont un point commun.

Dans ton automate, on l’a dit et redit, tu changes constamment d’identité, tu enchaînes des rôles, tu collectionnes des avatars, tous ceux que tu aurais pu être mais que tu n’es pas. Tu explores des potentialités que tu portes en toi et projettes quelque chose d’intime enfoui au plus profond de ton être. Tu laisses aussi peut-être entrevoir certaines de tes activités qui doivent demeurer secrètes, et tu rassembles patiemment tous tes frères jumeaux, toute cette famille de substitution, dans un recueil que tu ne montres à personne, pas même à tes enfants. Tu dois commencer à voir où je veux en venir. Ton album photo, cette trace qui te survit, c’est ta part d’ombre.

Contrairement à Peter Schlemihl, tu ne l’as soumise à aucun pacte faustien, ni même perdue ou abandonnée. Tu la gardais jalousement, dissimulée parmi ton fatras. Et un jour, privée de ta présence, détachée de toi, elle est partie avec les encombrants comme une vieille étoffe un peu mitée. Tu ne l’as pas vendue. Elle a été achetée. Après être passée de main en main, elle a fini par intégrer le circuit marchand. Elle est devenue un bien. Puis, une idée, le point de départ d’une œuvre artistique, et enfin un objet de litige.

Christophe Boltanski, Les vies de Jacob

Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich dir das alles erzähle. Dein Leben ist keine phantastische Geschichte, und ich werde dich nicht als Schlemihl oder ein anderes Epitheton bezeichnen. Aber eure Schicksale haben eines gemeinsam.

In deinem Photoautomaten wechselst du, wie hier mehrfach gesagt wurde, ständig die Identität, du verknüpfst Rollen, du sammelst Avatare, all jene, die du hättest sein können, aber nicht bist. Du erforschst die Möglichkeiten, die du in dir trägst, und projizierst etwas Intimes, das tief in dir vergraben ist. Vielleicht gibst du auch einige deiner Aktivitäten preis, die geheim bleiben müssen, und du sammelst geduldig alle deine Zwillingsbrüder, diese ganze Ersatzfamilie, in einer Sammlung, die du niemandem zeigst, nicht einmal deinen Kindern. Du ahnst sicher, worauf ich hinaus will. Dein Fotoalbum, diese Spur, die dich überlebt, ist deine dunkle Seite.

Im Gegensatz zu Peter Schlemihl hast du es keinem faustischen Pakt unterworfen, weder hast du so einen Pakt verloren, noch aufgegeben. Du hast das Album eifersüchtig aufbewahrt, versteckt in deinem Wust. Und eines Tages, ohne deine Anwesenheit, losgelöst von dir, ging es mit dem Spermüll weg wie ein altes, leicht mottenzerfressenes Tuch. Du hast es nicht verkauft. Es wurde gekauft. Nachdem es von Hand zu Hand weitergereicht wurde, gelangte es in den Handel. Das Album wurde eine Ware. Dann wurde es zu einer Idee, zum Ausgangspunkt eines künstlerischen Werks und schließlich zu einem Streitobjekt.

Und so ist es schließlich auch eine politische Geschichte geworden. Simon Liberati etwa betont die diasporische Situation des jüdischen Protagonisten von Boltanskis Roman eines Photoalbums: „Sur la piste du Juif errant on rencontre quelques fantômes, des inscriptions effacées, des étiquettes, de l’hébreu, de l’exégèse biblique, un pucier, un agent secret, un diplomate, des anonymes, autant de portraits discrètement et précisément tracés. Le premier métier de l’auteur, son expérience du terrain lui donnent l’économie de moyens, le trait et le mordant des bons dessinateurs.“ 3

Kai Nonnenmacher

Kontakt

Anmerkungen
  1. Sein Wissensdurst führt ihn in verlassene Läden, Brachland, verlassene Docks, hochgesicherte Orte, später auf die Friedhöfe von Djerba und schließlich bis nach Israel, an den Rand der Wüste Negev bzw. an den Fuß des Berges Hermon. Mit Geduld rekonstruiert der Autor das gelebte und das erträumte Leben Jakobs, in dem verlorenes Paradies, Exil, Rachegelüste, Kriege und künstlerische Ambitionen sich vermischen. Nach und nach nähert sich seine Suche dem Mythos eines Mannes, der ein Land sucht, um die Entwurzelungen seiner Kindheit zu vergessen, dabei mischen sich Flucht- und Freiheitsinstinkt, in der Hoffnung, sich mit dem Leben zu versöhnen und mit dem Tod.>>>
  2. Sa fable écrite au moment où il traverse une période de grand désarroi traduit les affres d’un siècle marqué par l’essor de l’individualisme, par un besoin à la fois d’autonomie, de tranquillité et de reconnaissance, de distinction.>>>
  3. Auf der Spur des wandernden Juden treffen wir auf einige Geister, ausradierte Inschriften, Etiketten, Hebräisch, Bibelexegese, einen Hausmeister, einen Geheimagenten, einen Diplomaten, anonyme Personen, so viele Porträts, die diskret und präzise gezeichnet sind. Der erste Beruf des Autors und seine Erfahrung auf dem Gebiet geben ihm die Sparsamkeit der Mittel, die eigene Linienführung und den Biss eines guten Zeichners.>>>