Poetiken der Kindheit: Nathacha Appanah, La mémoire délavée (2023)

Nathacha Appanahs autofiktionales Werk „La mémoire délavée“ (2023) ist eine vielstimmige Spurensuche nach familiärer Herkunft, kolonialer Geschichte und Identität. Im Zentrum steht die literarische Aufarbeitung der Geschichte der eigenen Vorfahren, die als indische Vertragsarbeiter (engagés) im 19. Jahrhundert auf die Insel Mauritius kamen. Der Titel verweist dabei bereits auf das Hauptmotiv: die verwaschene, verblasste Erinnerung – sowohl individuell als auch kollektiv –, die durch mündliche Überlieferung, familiäre Anekdoten, Lücken und Archive hindurch rekonstruiert werden muss. Diese Suche ist zugleich eine Rückkehr zur eigenen Kindheit: Zurück zu einer Zeit in Piton, einem mauritischen Dorf, zu einer Kindheit in einer von Schweigen, Fragmenten und unausgesprochenen Traumata geprägten Familiengeschichte. Die Kindheit erscheint in diesem Text als biographischer Ursprung, als literarischer Ausgangspunkt und als epistemologischer Horizont: Durch das kindliche Staunen, die sensorische Weltwahrnehmung, die existenziellen Fragen des Kindes, das wissen will, „woher wir kommen“, formt sich der Text zu einem poetischen Gedächtnisraum.