Gegenarchiv der Kinderkolonie: Simon Johannin

Simon Johannins „Le Fin Chemin des anges“ (2025) rekonstruiert das Schicksal der Jungen, die in der Kinderkolonie auf der Île du Levant – einer von Isolation, Gewalt und Zwangsarbeit geprägten Einrichtung – lebten und starben. Im Mittelpunkt steht Louis, ein sensibler, homoerotisch empfindender Junge, dessen „Abweichung“ im 19. Jahrhundert zur moralischen und juristischen Verurteilung führt und ihn in das System der Kolonie schleudert. Dort werden die Kinder entkräftet, gedemütigt und zu Arbeit gezwungen; viele sterben an Hunger, Krankheit oder Misshandlung. Louis’ Leben wird aus Fragmenten, Erinnerungsflashs und Archivresten rekonstruiert, während die Ruinen des Ortes als Resonanzraum der ausgelöschten Stimmen erscheinen. Der Roman zeigt die Kolonie nicht als pädagogische Einrichtung, sondern als Maschine der systematischen Zerstörung junger Körper und Biografien – und macht die gewaltvolle Geschichte eines Ortes hörbar, den das Archiv weitgehend zum Schweigen gebracht hat. – Johannins Roman ist exemplarisch für die neue Buchreihe „Locus“, indem er einen verlassenen Ort als palimpsestartigen Speicher traumatischer Geschichte lesbar macht. Der Artikel zeigt, wie Johannin räumliche, archivische und poetische Ebenen miteinander verschränkt, um jenen Kindern eine Stimme zurückzugeben, die in den offiziellen Dokumenten entindividualisiert und ausgelöscht wurden. Besonders hervorgehoben wird die doppelte Bewegung des Texts: Einerseits die präzise Analyse der kolonialen Architektur als Disziplinarapparat, andererseits die imaginative Rekonstruktion einer einzelnen Biographie, die stellvertretend für eine Vielzahl verloren gegangener Leben steht. Die Rezension arbeitet heraus, wie Johannin Sexualität, Körperlichkeit und Erinnerung politisch auflädt, indem er die Pathologisierung von Louis’ Homosexualität als gesellschaftlichen Gewaltmechanismus offenlegt und die Poetik der Berührung – die „flashs“, die aus den Ruinen hervorgehen – als Form literarischer Zeugenschaft interpretiert. Insgesamt weist der Aufsatz den Roman als ein Gegenarchiv aus, das die Stille eines gewaltsam vergessenen Ortes in erzählerische Präsenz verwandelt und damit die ethische Dimension von Literatur sichtbar macht.

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