Schnitt ins Fleisch: Claire Berest über den Prozess Gisèle Pelicot

Claire Berests „La Chair des autres“ (2025) geht aus ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Dominique Pelicot im Herbst 2024 hervor, den sie zunächst als Reporterin begleitete. Der Ehemann hat über Jahre hinweg Männer in sein Haus eingeladen, um seine mit Medikamenten sedierte Ehefrau, Gisèle Pelicot, ohne deren Wissen sexuell zu missbrauchen. Die Autorin verbindet juristische Protokollierung mit literarischer und philosophischer Reflexion und stellt grundlegende Fragen nach dem Wesen des Bösen, nach der Möglichkeit von Zeugenschaft und nach den kulturellen Voraussetzungen sexueller Gewalt. Dabei bezieht sie sich auf Theoretikerinnen wie Camille Froidevaux-Metterie und Simone Weil, ebenso wie auf Hannah Arendts Konzept der „Banalität des Bösen“ und Roland Barthes‘ Analyse des fait divers. Ein zentraler Vergleich gilt der Leerstelle des Bildes bei KZ-Überlebenden, denen Berest das „wiederhergestellte Bild“ der Vergewaltigungsvideos gegenüberstellt – als Medium der Anerkennung und Sichtbarmachung. Der Text ist keine lineare Reportage, sondern eine vielschichtige Untersuchung darüber, wie Recht, Körper und Sprache in einem kulturellen Kontext verhandelt werden, in dem das Bewusstsein für den Anderen erschreckend lückenhaft erscheint.

Fällt die großen Bäume: Gaël Faye, „Jacaranda“ nach dem Genozid in Ruanda

Nach der Lektüre von „Jacaranda“ (2024) erscheint der Erfolgsroman „Petit Pays“ (2016) nicht mehr nur als autobiografisch inspirierter Erinnerungsroman, sondern als Auftakt einer längeren Auseinandersetzung mit der postkolonialen Tragödie Ostafrikas. „Petit Pays“ folgte einer linearen, stark autobiografisch gefärbten Erzählstruktur, die von der kindlichen Perspektive des Protagonisten Gabriel geprägt ist. Die Handlung beginnt mit einer unbeschwerten Kindheit in Burundi und führt über politische Spannungen hin zu den schrecklichen Ereignissen des Genozids in Ruanda. Diese Zäsur verändert Gabriels Welt unwiderruflich und treibt ihn in die Entfremdung von seiner Herkunft. „Jacaranda“ hingegen ist fragmentierter, reflektierender und multiperspektivisch. Der Roman arbeitet mit Rückblenden und Erinnerungsfragmenten. In „Jacaranda“ gibt es weniger eine naive Hoffnung auf Heimkehr als eine tiefe, poetische Reflexion über Heimat als psychischen Raum.

Boualem Sansals Festnahme und ein Raumschiff

Boualem Sansals jüngster Roman „Vivre: le compte à rebours“ („Leben: der Countdown“, Gallimard, 2024) erzählt eine dystopische Geschichte in einer apokalyptischen Welt. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass der Text voller Anspielungen auf die politischen, sozialen und kulturellen Realitäten Algeriens ist. Durch seine metaphorische Erzählweise übt Sansal nicht nur Kritik an globalen Phänomenen wie Totalitarismus und Umweltzerstörung, sondern auch an spezifischen Missständen in seinem Heimatland. Angesichts der Verhaftung des Schriftstellers Boualem Sansal lesen wir den Roman „Vivre“ anders: Hier werden indirekt Themen wie Festnahmen und staatliche Repression angesprochen, jedoch oft in einem metaphorischen oder dystopischen Kontext.