Reise und Revolution: Che Guevara bei Désérable und Femen bei de Villeneuve

Reisen als Grenzerfahrung

François-Henri Désérables Chagrin d’un chant inachevé und Camille de Villeneuves Lis Lénine ! (beide Gallimard, 2025) verbindet auf den ersten Blick wenig: der eine ein Reisebericht auf den Spuren Che Guevaras in Südamerika, getragen von literarischem Witz und romantischem Abenteuergeist; der andere ein schonungsloses Kriegs- und Körperdrama aus der Gegenwart, ein apokalyptisches Panoptikum von Aktivismus, Kunst, Trauma und Krieg im Osten Europas. Und doch kreisen beide Werke um dieselben Grundfragen: Wie lassen sich historische Wirklichkeiten literarisch erfahrbar machen? Welche Rolle spielt der Körper in einer erzählten Welt, die von Gewalt durchzogen ist? Und wie formt das Reisen nicht nur die Figuren, sondern auch die Poetik des Textes?

Désérables Ton ist oft melancholisch, und philosophisch, manchmal humorvoll. Sein Stil ist elegant, ironisch, anekdotenreich. Humor, literarische Selbstreflexion und poetische Naturbeschreibungen strukturieren die Erzählung. Das Fremde bleibt dabei stets als Erzählkulisse erkennbar. Der ehemalige Eishockeyspieler machte bereits mit mehreren Büchern auf sich aufmerksam und erhielt zahlreiche Literaturpreise: Tu montreras ma tête au peuple (2013) ist eine Erzählungssammlung über Opfer der Französischen Revolution in ihren letzten Momenten, u.a. Charlotte Corday und Marie-Antoinette, André Chénier, Danton und Robespierre; Évariste (2015) ist ein biografischer Roman über den Mathematiker Évariste Galois; Un certain M. Piekielny (2017, dt. Ein gewisser Herr Piekielny, 2018) begibt sich auf literarische Spurensuche zu einem Romain-Gary-Charakter; Mon maître et mon vainqueur (2021, dt. Mein Meister und Bezwinger, 2023) lässt einen Erzähler und einen Richter einen Fall gemeinsam rekonstruieren; L’usure d’un monde (2023, dt. Eine verfahrene Welt, 2024) ist ein Reisebericht über seine Iran-Reise während der Proteste um Mahsa Amini.

Camille de Villeneuves Ton hier ist düster, verzweifelt, zynisch und konfrontativ, geprägt von Trauma und Verzweiflung. Sie schreibt in einer rohen Sprache der Extreme, ungeschönt und eruptiv. Ihre Sätze schwanken zwischen kaltem Realismus und halluzinatorischen Visionen. Kunst und Körper werden mit säkularen und religiösen Bildfeldern überlagert, oft in schmerzhaften Details. Villeneuve ist Schriftstellerin und als Doktorin der mittelalterlichen Philosophie maîtresse de conférence an den jesuitischen Facultés Loyola in Paris. In ihrem Buch Ce sera ma vie parfaite (2013) lässt Victor des Ulmières am letzten Tag seines Lebens lässt in einem inneren Monolog sein von familiären Lasten, verpassten Chancen und großen Leidenschaften geprägtes Leben Revue passieren; Les fonds noirs (2016) ist ein Wirtschaftsroman aus der Luxusbranche, eine feindliche Unternehmensübernahme dient als Anlass, über zwei Versionen von Luxus nachzudenken, Image und Marke versus Produktsorgfalt und Wertarbeit; Rosso (2018) erzählt das Schicksal des Hofmalers von François Ier, Rosso Fiorentino; Le dernier torero (2023) ist ein Roman über Sandra, eine der wenigen Stierkämpferinnen, die nach einem schweren Unfall mit einem Stier entschlossen in die Arena zurückkehrt.

Chagrin d’un chant inachevé und Lis Lénine !, beide Romane beschäftigen sich mit zentralen Themen wie Freiheit, politischen Utopien und dem Scheitern von Revolutionen, die sie jedoch in sehr unterschiedlichen Kontexten entfalten. In beiden Texten steht das Reisen im Zentrum, verstanden als existenzielle Grenzerfahrung: François-Henri Désérables Erzähler folgt den Spuren des jungen Ernesto Guevara, noch bevor dieser zur Revolutionsikone wurde, und erkundet dabei die ambivalente Beziehung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Zwängen. Camille de Villeneuve wiederum erzählt von einer Reise zurück in den Krieg, in der persönliche Freiheit zur Illusion gerät und die politische Ideologie, hier in Form von feministischer Militanz und sowjetischen Mythen, als zerstörerische Kraft erscheint. Beide Romane verhandeln die Konfrontation mit gesellschaftlicher Gewalt, ökonomischer Ungleichheit und autoritären Machtstrukturen – Diktaturen in Südamerika und postimperiale Regime im Osten Europas –, wobei die politische Reflexion stets eng an die individuelle Erfahrung der Figuren gekoppelt bleibt.

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Chagrin d’un chant inachevé von François-Henri Désérable ist ein persönlicher Reisebericht, in dem der Autor eine fünfmonatige Tour durch Südamerika unternimmt, die sich eng an die legendäre Motorradreise von Ernesto „Che“ Guevara und Alberto Granado vor fünfundsechzig Jahren anlehnt. Che schrieb damals sechs Monate vor der Abreise auf der Granma, dem Schiff, das ihn und andere Guerilleros nach Kuba bringen sollte, an seine Eltern, dass seine Zukunft mit der kubanischen Revolution verbunden sei und er entweder mit ihr triumphieren oder dort sterben würde. Die Zeilen „Et je n’emporterai dans ma tombe / Que le chagrin d’un chant inachevé“ aus dem Gedicht des türkischen Poeten Nâzım Hikmet spiegeln Ches unbedingte Hingabe an seine Sache wider; sie implizieren, dass sein Leben und seine Mission unvollendet blieben, sollte er dafür sterben. Dieser Satz betont die tragische oder unerfüllte Natur seines revolutionären Weges. Der Roman ist ein Reisebericht, der die fünfmonatige Südamerika-Reise des Erzählers und seines Freundes Quentin schildert, die dem legendären Motorrad-Trip von Ernesto „Che“ Guevara und Alberto Granado sechzig Jahre zuvor nachempfunden ist. Der Erzähler, ein Schriftsteller, fühlt sich nach Abschluss eines Romans orientierungslos und lehnt ein konventionelles, sesshaftes Leben ab, um die Freiheit des Reisens zu suchen. Wie schon zuvor lebt Désérable nach seiner eigenen Maxime: Die Hälfte seiner Zeit reist er, die andere Hälfte schreibt er darüber. Doch er macht auch klar, dass man niemals alles erfassen kann: Die Schönheit vieler Orte übersteigt das Beschreibbare, und oft bleibt vom großen Erlebnis nur eine schmale Notiz zurück. Die Reise beginnt in Buenos Aires, wo sie sofort mit einem versuchten Raubüberfall konfrontiert werden, den Quentin auf unkonventionelle Weise abwehrt. Sie besuchen wichtige Orte in Argentinien, die mit Che Guevaras Jugend und politischer Reifung verbunden sind, darunter sein Elternhaus in Alta Gracia und die Chuquicamata-Mine in Chile, wo Che die Ausbeutung sah, die ihn prägte. Der Erzähler reflektiert dabei kontinuierlich Ches Entwicklung vom jungen Medizinstudenten zum Revolutionär.

Ernesto Guevara als junger Mann.

Während ihrer Reise durch Chile, Peru, Bolivien, Kolumbien und Venezuela erleben sie eine Reihe von Abenteuern: Autostop mit einem Waffenhändler, Wasserknappheit in der Wüste, die Schönheit der Atacama-Wüste und die Brutalität der Potosí-Minen. Der Erzähler konfrontiert die Armut in den pueblos jóvenes Limas und die soziale Ungleichheit, die durch Mauern der Scham sichtbar wird. Er beleuchtet die wirtschaftliche Katastrophe Venezuelas unter Maduro und die extreme Gewalt in Caracas. Die Erzählung ist durchzogen von persönlichen Reflexionen über das Reisen, die Einsamkeit, die Endlichkeit des Lebens und die Natur des Schreibens. Der Autor streut literarische Referenzen und humorvolle Anekdoten ein. Ein wiederkehrendes Motiv ist eine Kindheitsprophezeiung eines „frühen und brutalen Todes in einem fernen und grandiosen Land“, die er mit Ches Sterbealter in Verbindung bringt.

Désérables Motivation ist eine tiefe Abneigung gegen gesellschaftliche Zwänge und materielle Investitionen, wie den Kauf einer Immobilie, die er als Einschränkung seiner Freiheit empfindet. Stattdessen zieht er seine Reisetasche jedem Möbelstück vor. Er möchte dem Gefühl der Untätigkeit nach Abschluss eines Romans entfliehen und einen Kindheitstraum vom Reisen, inspiriert durch Weltkarten, verwirklichen. Sein Ziel ist es nicht, der revolutionäre „Che“ zu werden, sondern den jungen, abenteuerlustigen Medizinstudenten Ernesto nachzuempfinden, bevor er zur Ikone wurde. Die Reise führt ihn von Buenos Aires über das von bunten Häusern geprägte Valparaíso und die Minen von Chuquicamata bis nach Bolivien, wo er auf die Spuren des späten Che trifft. Der Autor reflektiert über die Natur des Reisens, das Verlangen nach dem „Anderswo“ und die Herausforderungen, seine Eindrücke festzuhalten. Das Buch ist gespickt mit Begegnungen, von einem „kranken“ Taxifahrer bis zu einem schwedischen Fotografen mit ungewöhnlichen Reiseregeln, und bietet humorvolle oder nachdenkliche Anekdoten, wie die Büromitarbeiter in Buenos Aires, die am 31. Dezember ihre alten Papiere aus dem Fenster werfen.

Immer wieder entstehen bei der Reise politisch aufgeladene Passagen, die eine kritische, konfrontative und manchmal zynische Perspektive auf soziale, wirtschaftliche und politische Realitäten in Südamerika widerspiegeln. Diese Auszüge sind oft roh und ungeschönt, zeigen einen kalten Realismus und stellen die Leser vor Details gesellschaftlicher Ungleichheit und Verzweiflung.

La mine, s’insurge Alberto dans son Journal, ne vise qu’à remplir les coffres du capitalisme yankee, alors que son véritable propriétaire, le peuple araucanien, vit dans la plus abjecte misère. Un guide leur fait la visite. Il leur explique que les mineurs menacent les propriétaires d’une grève, mais ces imbéciles de gringos, dit-il, préfèrent perdre des milliers de pesos chaque jour plutôt que d’accorder quelques centimes en plus à leurs ouvriers. Par contre, ces imbéciles de gringos savent comment s’y prendre avec les syndicats : à chaque réunion importante, ils invitent une grande partie des mineurs au bordel. Jamais le quorum nécessaire pour valider la réunion n’est atteint.

François-Henri Désérable, Chagrin d’un chant inachevé, Gallimard, 2025.

Die Mine, empört sich Alberto in seinem Tagebuch, dient nur dazu, die Kassen des Yankee-Kapitalismus zu füllen, während ihr eigentlicher Eigentümer, das Volk der Araucaner, in erbärmlichster Armut lebt. Ein Führer zeigt ihnen die Anlage. Er erklärt ihnen, dass die Bergleute den Eigentümern mit Streik drohen, aber diese dummen Gringos, sagt er, würden lieber jeden Tag Tausende von Pesos verlieren, als ihren Arbeitern ein paar Cent mehr zu zahlen. Dagegen wissen diese dummen Gringos sehr wohl, wie man mit Gewerkschaften umgeht: Zu jeder wichtigen Sitzung laden sie einen Großteil der Bergleute ins Bordell ein. So wird nie die für die Beschlussfähigkeit der Versammlung erforderliche Anzahl erreicht.

Diese Passage ist eine Anklage gegen Kapitalismus und Imperialismus, insbesondere den „Yankee-Kapitalismus“, der die einheimische Bevölkerung ausbeutet. Die Beschreibung der Chuquicamata-Mine stellt einen kalten Realismus dar, in dem der Reichtum des Unternehmens im krassen Gegensatz zur „abscheulichen Armut“ der Ureinwohner steht. Der Text wird roh und ungeschönt, ja geradezu eruptiv in seiner Empörung, wenn er die korrupten Praktiken der Minenbesitzer offenlegt, die Arbeiterführer gezielt in Bordelle einladen, um Streikversammlungen zu sabotieren. Dies zeigt eine tief verwurzelte Verzweiflung über die Ungerechtigkeit und die Machtlosigkeit der Unterdrückten, während gleichzeitig ein zynischer Blick auf die Methoden der Mächtigen geworfen wird, die „dumme Gringos“ genannt werden. Es ist ein detailliertes und schmerzhaftes Bild einer systematischen Ausbeutung.

Voyager au lieu de s’installer bourgeoisement, ça, dit Quentin, pas de doute, c’est de gauche… Certaines catégories ne donnaient pas lieu à débat : la chasse à courre, par exemple, était de droite, mais la pêche aux moules de gauche. D’autres étaient moins évidentes. Et tout avait vocation à être classé : la pilosité (la moustache est de droite, la barbe est de gauche), les livres (de droite quand ils sont brochés, de gauche quand ce sont des poches), les sports (le tennis est de droite, le tennis de table est de gauche), les attitudes (se hâter est de droite, flâner est de gauche), les couleurs (le bleu est de droite, le rouge est de gauche – mais le pantalon rouge est de droite), la façon de porter les habits (sur les épaules, le pull est de droite, mais de gauche autour de la taille). Le bœuf est de droite, la côte de bœuf est de gauche, l’émincé de côte de bœuf au citron vert et au fenouil est de droite. Entre les doigts boudinés d’un homme d’affaires ventripotent le cigare est de droite, mais il est de gauche entre les lèvres du Che. Faire son marché est de gauche, mais de droite quand c’est au Bon Marché. La pipe : de droite quand elle se fume, de gauche quand elle se fait.

François-Henri Désérable, Chagrin d’un chant inachevé, Gallimard, 2025.

Reisen statt sich bürgerlich niederzulassen, das ist laut Quentin zweifellos links … Einige Kategorien standen außer Frage: Die Hetzjagd beispielsweise war rechts, Muscheln sammeln hingegen links. Andere waren weniger eindeutig. Und alles musste klassifiziert werden: die Behaarung (Schnurrbart ist rechts, Bart ist links), Bücher (rechts, wenn sie gebunden sind, links, wenn sie Taschenbücher sind), Sportarten (Tennis ist rechts, Tischtennis links), Verhaltensweisen (sich beeilen ist rechts, trödeln ist links), Farben (Blau ist rechts, Rot ist links – aber rote Hosen sind rechts), die Art, Kleidung zu tragen (auf den Schultern ist der Pullover rechts, aber links um die Taille). Rindfleisch ist rechts, Rippchen sind links, Rippchen mit Limette und Fenchel sind rechts. Zwischen den dicken Fingern eines dickbäuchigen Geschäftsmannes ist die Zigarre rechts, aber zwischen den Lippen des Che ist sie links. Auf dem Markt einkaufen ist links, aber rechts, wenn es im Bon Marché ist. Die Pfeife: rechts, wenn sie geraucht wird, links, wenn sie gedreht wird.

Dieser Auszug ist eine lakonisch übersteigerte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Lager. Das Spiel, alles in „rechts“ und „links“ zu kategorisieren, übersteigert die binären Denkweisen und Stereotypen. Der Text zeigt eine gewisse düstere Verzweiflung über die Unfähigkeit, derartigen Klassifizierungen zu entkommen, selbst in scheinbar trivialen Bereichen wie Essgewohnheiten oder Kleidung. Die Anspielung auf Che mit der Zigarre dient dazu, die politische Symbolik zu überlagern und die Grenzen zwischen persönlicher Identität und politischer Zugehörigkeit zu verwischen. Die Reise endet in Kuba, wo der Erzähler vor einem gigantischen Che-Porträt in Havanna sitzt und über die nicht vollendete Revolutionen und die unstillbare Sehnsucht nach neuen Horizonten nachdenkt. Die Reise endet in Kuba, wo der Erzähler vor einem gigantischen Che-Porträt in Havanna sitzt und über die nicht vollendete Revolutionen und die unstillbare Sehnsucht nach neuen Horizonten nachdenkt.

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Lis Lénine ! von Camille de Villeneuve erzählt die intensive, düstere Geschichte von Assya Chouchkine, einer ukrainischen Malerin und Mitbegründerin der feministischen Organisation FELIN (FEMEN). Der Roman zeigt, wie die postsowjetische Realität von widersprüchlichen Ideologien und zerbrochenen Träumen geprägt ist. Assya bewundert Lenins Schriften und bestimmte Aspekte des Sowjetismus, auch wenn sie die diktatorische Realität ablehnt. Kyril, der Oligarch, ist zynisch, aber auch nostalgisch gegenüber der Sowjetzeit und nutzt sie für seine Kunst. Der Konflikt in der Ukraine selbst, mit prorussischen und proukrainischen Kräften, zeigt die tiefen ideologischen Spaltungen, die durch historische Narrative und Loyalitäten verstärkt werden. Die anfänglichen revolutionären Ideale der FELIN-Bewegung scheitern oft an internen Machtkämpfen (Olga vs. Assya) oder an der brutalen Realität der staatlichen Repression. Der Roman stellt die Frage, ob Revolutionen – seien sie politisch oder feministisch – zum Scheitern verurteilt sind oder ob ihre Ideale in einer pervertierten Form weiterleben. Irinas abschließender Ausruf „Lénine, va te faire foutre“ symbolisiert die ultimative Ablehnung einer Ideologie, die so viel Leid gebracht hat.

Nach einer brutalen Aktion in Minsk, bei der sie verhaftet und gefoltert wird und ihre Freundin Sonia für tot hält, flieht Assya nach Paris, gemeinsam mit ihrer Freundin Olga. Dort führt sie ein ausschweifendes, von Drogen und Panikattacken geprägtes Leben. Unterstützung erhält sie von Élise, ihrer Tutorin und Professorin an der Kunstakademie, die auch zu ihrer engen Vertrauten wird.

Femen, Paris, „Topless et libre“, Quelle.

Der Wendepunkt tritt ein, als Assya Sonia in einem Film von Kyril Bogdanoff erkennt, einem russischen Filmemacher, Geschäftsmann und Kunstmäzen, der sich für den Donbass-Konflikt interessiert. Entschlossen, Sonia zu finden, beschließt Assya trotz ihrer fortgeschrittenen Brustkrebserkrankung, in die vom Krieg zerrissene Ukraine zurückzukehren. Élise lässt sich widerwillig überreden, sie auf der gefährlichen Reise zu begleiten. Über Polen reisen sie nach Kiew, wo sie bei Irina, Olgas Schwester, unterkommen. Irina, eine zynische, pragmatische Überlebenskünstlerin, kritisiert Assyas idealistischen Aktivismus scharf. Schließlich erfahren sie von Kyril, dass er Sonia, die nach ihrer Entführung durch russische Geheimdienste versteckt wurde, „herausverhandelt“ hat. In Mariupol treffen sie auf Sonia, die sich inzwischen als „Schamanin“ in Kyrils nachgebautem sowjetischen Forschungsinstitut eingerichtet hat.

Les sentiments des Européens sentent la lessive, ils geignent vite quand ce n’est pas confortable. Ils veulent sentir sans souffrir, se plaignent de leurs traumatismes, de leurs angoisses, de leurs insomnies. Ils sont incapables de comprendre que ce sont leurs seules possibilités de vivre enfin. Je dis vivre, non survivre.

Camille de Villeneuve, Lis Lénine ! Gallimard, 2025.

Die Gefühle der Europäer riechen nach Waschmittel, sie jammern schnell, wenn es ihnen nicht passt. Sie wollen fühlen, ohne zu leiden, beklagen sich über ihre Traumata, ihre Ängste, ihre Schlaflosigkeit. Sie sind unfähig zu verstehen, dass dies ihre einzigen Möglichkeiten sind, endlich zu leben. Ich sage leben, nicht überleben.

Irinas innerer Monolog ist von Zynismus und einer konfrontativen Haltung gegenüber europäischen Empfindlichkeiten geprägt. Ihre rohe, ungeschminkte Kritik zeichnet ein Bild des kalten Realismus, das die Oberfläche und die Unfähigkeit der Europäer, wirklich zu „leben“, über das reine Überleben hinaus, entblößt. Dies spiegelt eine tiefere Verzweiflung oder Distanz wider, da sie emotionale Kämpfe als bloßes „Klagen“ abtut und eine Weltsicht zum Ausdruck bringt, die durch tiefgreifende Härte geformt wurde. Die Sprache ist hier eruptiv in ihrer emotionalen Ladung, obwohl sie kontrolliert ist.

Die Sprache spielt eine entscheidende Rolle in der Dynamik der Beziehungen und im Kampf ums Überleben. Irina, die ihr perfektes Französisch verbirgt, nutzt dies als Überlebenstaktik und zur Machtkontrolle über ihre Umgebung. Die Betonung der ukrainischen und russischen Sprache, die im Konflikt als Identitätsmarker dienen, zeigt die politische Ladung von Linguistik. Kyrils arrogantes Beharren auf bestimmten Sprachen und seine Verachtung für „amerikanisches“ Englisch spiegeln soziale und intellektuelle Hierarchien wider. Assyas Mischsprache aus rudimentärem Französisch, Slang und Onomatopöien ist ein Ausdruck ihrer Ablehnung von Konventionen und ihrer traumatischen Erfahrungen. Die Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern ein Werkzeug zur Manipulation, zur Abgrenzung und zur Behauptung der eigenen Identität in einer unbeständigen Welt.

Il est question, dans le délire de Sonia, d’enfants brûlés vifs dans un théâtre, d’hommes avalés par les souterrains d’une usine, de rues bombardées et rasées, de femmes violées jusqu’à la mort, dans toute l’Ukraine.

Camille de Villeneuve, Lis Lénine ! Gallimard, 2025.

In Sonias Wahn geht es um Kinder, die in einem Theater lebendig verbrannt werden, um Männer, die in den unterirdischen Gängen einer Fabrik verschluckt werden, um bombardierte und zerstörte Straßen, um Frauen, die in der ganzen Ukraine zu Tode vergewaltigt werden.

Sonias Visionen von „lebendig verbrannten Kindern in einem Theater“, „Männern, die von unterirdischen Fabriken verschluckt werden“ und „bis zum Tod vergewaltigten Frauen“ werden mit roher, ungeschönter Brutalität präsentiert, was die halluzinatorischen Visionen unsäglicher Traumata und Leiden in der gesamten Ukraine verkörpert. Die Erzählung stellt sich dem Trauma und der Verzweiflung, indem sie extreme Bilder verwendet, um die schreckliche Realität von Krieg und Gewalt zu vermitteln, die oft mit den psychologischen Zuständen der Charaktere verschwimmen.

Ein zentrales Motiv des Romans ist Assyas Kunst, die provokante Ikonen mit religiösen und politischen Anspielungen zeigt und ihren Aktivismus sowie ihr Leiden widerspiegelt. In einer symbolischen Handlung verbrennt sie ihre alten Werke, um eine „Apokatastase“, eine Rückkehr zu den Ursprüngen, zu vollziehen. Der Roman ist eine schonungslose Auseinandersetzung mit Trauma, Ideologie (insbesondere Lenins Theorien), Krieg und den zerstörerischen Dynamiken zwischen Menschen. Assya stirbt schließlich in Mariupol – ihr Leichnam baumelt an einem Signalpfosten, eine letzte provokative und tragische Geste. In Kiew wird sie beigesetzt; Élise hat eine Vision von Assya, die auf einem orangefarbenen Tier reitet, während Irina sarkastisch ruft: „Lenin, f*** dich.“

Elle avait transformé les négatifs de ses seins en œuvres d’art. Le fond était frotté à l’argent et au cuivre, parfois dans le métal une empreinte digitale ressortait. Chaque coupe de sein était soulignée d’un fin trait d’or et le galbe était diversement coloré en rouges rubis, cinabre ou aniline tels ceux dans lesquels flamboyait saint Michel de l’Apocalypse. Sur les fonds inquiétants du métal, les morceaux colorés de sein flottaient. À Paris, Assya m’avait montré des photos d’un type qui brûlait ses négatifs ou les exposait au soleil pour que les sujets, une fois développés, sortent incandescents comme de l’enfer. Les seins d’Assya brûlaient et vivaient.

Camille de Villeneuve, Lis Lénine ! Gallimard, 2025.

Sie hatte die Negative ihrer Brüste in Kunstwerke verwandelt. Der Hintergrund war mit Silber und Kupfer eingerieben, manchmal war ein Fingerabdruck im Metall zu erkennen. Jeder Brustschnitt war mit einem feinen goldenen Strich unterstrichen und die Rundung war unterschiedlich gefärbt, in Rubinrot, Zinnoberrot oder Anilin, wie die Farben, in denen der Heilige Michael in der Apokalypse leuchtete. Vor dem beunruhigenden Hintergrund des Metalls schwebten die bunten Bruststücke. In Paris hatte Assya mir Fotos von einem Typen gezeigt, der seine Negative verbrannte oder sie der Sonne aussetzte, damit die Motive nach der Entwicklung wie aus der Hölle glühten. Assyas Brüste brannten und lebten.

Dieses Zitat ist eine eindringliche Darstellung der Sprache der Extreme und der Überlagerung von Kunst und Körper mit säkularen und religiösen Bildfeldern in schmerzhaften Details. Assya verwandelt die rohen, schmerzhaften Details ihrer Brustkrebs-Negative in Kunstwerke, indem sie „Rubinrot, Zinnober oder Anilin“ und Gold verwendet, was an religiöse Ikonen und den „heiligen Michael der Apokalypse“ erinnert. Dieser Akt ist sowohl ein Zeugnis ihrer Verzweiflung angesichts der Krankheit als auch eine halluzinatorische Vision der Umwandlung persönlichen Traumas in etwas Glühendes und Lebendiges, als ob „ihre Brüste brannten und lebten“. Die ungeschminkte Beschreibung ihres Körpers, der in künstlerische Elemente zerfällt, ist äußerst konfrontativ und fordert konventionelle Vorstellungen von Schönheit und Krankheit heraus. Es ist ein Akt der Erschaffung aus der Zerstörung.

Die Gruppe reist weiter in das zerbombte Mariupol, eine Stadt, die im Zentrum des Konflikts steht. Dort finden sie Sonia in einem verfallenen sowjetischen Forschungsinstitut, das Kyril für seine Kunstprojekte nutzte. Sonia hat sich in eine psychisch gezeichnete „Schamanin“ verwandelt, die mit Drogen und Alkohol Visionen von der Zerstörung Mariupols und den Gräueltaten des Krieges hat. Assya, konfrontiert mit ihrer Krankheit und der Aussicht, dass ihre Jugendwerke in die Hände der Russen fallen könnten, zündet schließlich ihr früheres Atelier an, in dem sie heilige Ikonen malte. Sie entscheidet sich für einen letzten Akt des Widerstands und des persönlichen Opfers. Assya stirbt durch Erhängen, ihr Körper wird zu einem Kunstwerk, das die Grenzen zwischen Kunst, Aktivismus und Tod verwischt. Assyas Beerdigung in Kiew, bei der Élise eine Vision von Assya als reitender Ikone hat und Irina Lénine verflucht, schließt den Kreis der Geschichte.

Sonia est debout au milieu de la cour, montée sur la stèle d’une statue déboulonnée. Elle porte la perruque de Marilyn, sa bouche est écarlate. Elle a mis une jupe de patineuse, des mitaines en dentelle, des baskets bleues, c’est tout. Elle s’est dessiné au crayon le grain de beauté marilynien qui bave sur le fond de teint, elle porte des faux cils et son oreille est percée autant de fois que le corps de saint Sébastien. Elle chante un bon anniversaire à Poutine, une bouteille de vodka à la main. Quand le vent soulève sa jupe, il dévoile une culotte rouge sur laquelle sont dessinés le marteau et la faucille et puis les cuisses bourrelées, le cul infini. Dans le dos est dessinée une pierre tombale. Les deux seins tombent sur la jupe et entre les seins, en couleurs, il y a les armoiries de la Russie, l’aigle bicéphale et doublement couronné repris à l’Empire byzantin, saint Georges patron des Slaves au milieu. Autour des armoiries, une mandorle dorée remonte vers les clavicules.

Camille de Villeneuve, Lis Lénine ! Gallimard, 2025.

Sonia steht mitten im Hof, auf dem Sockel einer umgestürzten Statue. Sie trägt Marilyns Perücke, ihr Mund ist scharlachrot. Sie hat einen Skaterrock, Spitzenhandschuhe und blaue Turnschuhe an, sonst nichts. Sie hat sich mit Bleistift das Marilyn-Muttermal auf die verschmierte Grundierung gemalt, sie trägt falsche Wimpern und ihr Ohr ist so oft durchstochen wie der Körper des Heiligen Sebastian. Mit einer Flasche Wodka in der Hand singt sie Putin ein Geburtstagslied. Wenn der Wind ihren Rock hochweht, kommt ein roter Slip zum Vorschein, auf dem Hammer und Sichel aufgemalt sind, und dann ihre wulstigen Schenkel und ihr endloser Hintern. Auf ihrem Rücken ist ein Grabstein gemalt. Ihre beiden Brüste fallen auf den Rock, und zwischen den Brüsten prangt in bunten Farben das Wappen Russlands, der doppelköpfige und doppelt gekrönte Adler aus dem Byzantinischen Reich, in dessen Mitte der Heilige Georg, Schutzpatron der Slawen, zu sehen ist. Um das Wappen herum reicht eine goldene Mandorla bis zu den Schlüsselbeinen.

Am Ende des Romans, inmitten von Kämpfen, inszeniert Sonia eine groteske „Performance“, indem sie als Marilyn Monroe verkleidet, mit sowjetischen und russischen Symbolen auf ihrem Körper, Putin ein „Happy Birthday“ singt. Diese Passage ist visuell und symbolisch dicht und bildet den Höhepunkt der grotesken Poetik im Roman. Sonias Auftritt auf einem Sockel einer umgestürzten Statue ist ein Akt der Dekonstruktion und Re-Konstruktion von Symbolen. Die Kombination von westlicher Popkultur (Marilyn) mit sowjetischen (Hammer und Sichel) und russischen (Wappen) Symbolen auf ihrem Körper ist eine provokative Darstellung der kulturellen und politischen Hybridität und Verwirrung. Ihre Performance, Putin ein „Happy Birthday“ singend inmitten von Zerstörung, ist ein Akt des widerständigen Wahnsinns, der die Grenzen zwischen Kunst, Protest und psychischer Auflösung aufhebt. Es ist ein radikaler Kommentar zur postsowjetischen Realität, in der Ideologien und Schönheitsideale auf tragische Weise miteinander verschmelzen.

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Formal verbindet die beiden Werke eine ausgeprägte Selbstreflexivität und Intertextualität, die Politik nicht nur als Thema, sondern auch als ästhetisches Prinzip verhandeln. Beide Romane spielen mit literarischen Reisemotiven: Désérable greift bewusst die Tradition der Abenteuer- und Bildungsreise auf, während Villeneuve mythische Strukturen wie die „Reise in die Unterwelt“ und apokalyptische Bildwelten nutzt. Dabei verbindet beide eine Poetik des „Unvollendeten“: Désérable macht das Scheitern zur Triebkraft einer immer offenen Bewegung, Villeneuve zeigt die Zerstörung als unumkehrbaren Endpunkt, an dem jede Hoffnung auf Befreiung zur Farce wird. Die Frage nach der Möglichkeit individueller oder kollektiver Emanzipation bleibt in beiden Fällen unbeantwortet – sie wird vielmehr durch poetische Verfahren (Ironie, Überzeichnung, Montage) selbst zur offenen Wunde des Textes.

Désérable arbeitet hochgradig intertextuell, mit Anspielungen auf Che Guevaras Reiseberichte, Literaturklassiker des Reisens und politisch-geschichtliche Werke. Das Erzählen wird zum Metakommentar auf das Reisen selbst, die Reise zur Literaturreise. Seine ironische Selbststilisierung in der Tradition literarischer Nomaden bildet eine zentrale narrative Strategie – Villeneuve montiert dagegen feministische, religiöse und popkulturelle Ikonographien: FEMEN-Aktivismus, die Apokalypse des Johannes, Ikonenmalerei, sowjetische Bildpolitik, Lenin-Mythos. Ihre Sprache ist intertextuell aufgeladen mit sarkastischen Verweisen auf christliche Heiligenlegenden und politische Theorien. Intertextualität dient hier nicht der Kontemplation, sondern der Dekonstruktion: Jede Ikone wird zerstört, jedes Bild in den Dreck gezogen.

Revolución – революція

Désérables Erzähler, ein Schriftsteller im kreativen Leerlauf, verweigert sich dem sesshaften Leben und begibt sich mit einem Freund auf eine fünfmonatige Reise durch Südamerika. Das Vorbild: die legendäre Motorradreise des jungen Ernesto Guevara, die der Autor nicht aus politischer Bewunderung nachzeichnet, sondern aus Neugier und Fernweh. Die Reise wird zur poetischen Meditation über Freiheit, Freundschaft und Erinnerung. Der Erzähler begegnet Menschen am Rande der Gesellschaft, schildert soziale Abgründe, doch stets aus sicherer Beobachterperspektive, eingebettet in ironische Anekdoten und literarische Reflexionen. Der Revolutionär Che Guevara erscheint nicht als Ikone, sondern als unvollendetes Lied, als Symbol für das Scheitern wie für die Sehnsucht. Am Ende steht keine Revolution, sondern das offene Weiterreisen: eine Poetik der leichten Melancholie und des überdauernden Fernwehs.

Cet automne-là, les taux d’intérêt étaient en baisse, les prix de l’immobilier en hausse, ma famille, mes amis s’inquiétaient : est-ce qu’il n’était pas temps que j’investisse dans la pierre ? Avec un peu de chance et un banquier indulgent, je pouvais peut-être m’endetter sur trente ans (mon âge à l’époque). Je n’en avais ni les moyens ni l’envie. Signant un acte de vente, j’aurais eu la sensation de signer mon propre registre d’écrou — et de voir ma liberté circonscrite à quelques mètres carrés. Et puis un appartement, ça se meuble ; aux meubles, il faudrait toujours préférer son sac de voyage.

François-Henri Désérable, Chagrin d’un chant inachevé, Gallimard, 2025.

In jenem Herbst sanken die Zinsen, die Immobilienpreise stiegen, meine Familie und meine Freunde machten sich Sorgen: War es nicht an der Zeit, in Immobilien zu investieren? Mit etwas Glück und einem nachsichtigen Banker hätte ich mich vielleicht für dreißig Jahre (mein damaliges Alter) verschulden können. Ich hatte weder die Mittel noch den Wunsch dazu. Mit der Unterzeichnung eines Kaufvertrags hätte ich das Gefühl gehabt, mein eigenes Todesurteil zu unterschreiben – und meine Freiheit auf wenige Quadratmeter zu beschränken. Und außerdem muss eine Wohnung erst eingerichtet werden; Möbeln sollte man immer einer Reisetasche vorziehen.

Hier zeigt sich die tiefe Verbindung des Erzählers von persönlicher Freiheit und dem Akt des Reisens, der die Grundlage seines literarischen Schaffens bildet. Die Ablehnung des Immobilienerwerbs und der damit verbundenen Sesshaftigkeit wird hier als eine metaphorische Verweigerung der Einschränkung seiner Freiheit dargestellt. Das Gefühl, mit einem Kaufvertrag ein „registre d’écrou“ (Gefangenenregister) zu unterschreiben und die eigene Freiheit auf wenige Quadratmeter begrenzt zu sehen, ist eine starke poetische Formulierung seiner Sehnsucht nach einem uneingeschränkten Dasein. Der Vorzug der Reisetasche vor der Notwendigkeit, eine Wohnung einzurichten, symbolisiert eine Lebensphilosophie, die ständige Bewegung und Offenheit über materielle Sicherheit und konventionelle bürgerliche Existenz stellt. Diese Haltung ist der Kern seiner melancholischen Elegie der Freiheit, da sie eine bewusste Entscheidung für ein vagabundierendes, ungebundenes Leben trifft, auch wenn dies möglicherweise eine gewisse Ziellosigkeit oder Entwurzelung impliziert. Das Schreiben selbst wird somit zur literarischen Selbstbefragung dieses Lebensentwurfs und zu einer Feier der gelebten, wenn auch manchmal flüchtigen, Freiheit.

Vint le jour où je me décidai à prendre la route. La route du Che. Est-ce que mettre mes pas dans les pas du Che n’allait pas s’avérer écrasant ? Non, car je les mettais dans ceux d’un jeune homme. Un jeune homme qui n’était pas le Che, pas encore, et qui sans ce voyage ne le serait peut-être jamais devenu : un jeune homme étudiant en médecine, amateur de blagues et de filles, un jeune homme fou de lecture et fou de rugby, un jeune homme qui aimait nager dans les torrents, escalader des montagnes et monter à cheval, un jeune homme aventureux, imprudent, casse-cou, brouillon, bûcheur, baiseur (« dès seize ans un baiseur, un terrible baiseur », nous apprend son cousin), un jeune homme avec pour seul idéal une idée haute de l’amitié, et pour meilleur ami un type de six ans son aîné qui l’emmène avec lui sur les routes.

François-Henri Désérable, Chagrin d’un chant inachevé, Gallimard, 2025.

Der Tag kam, an dem ich mich entschloss, mich auf den Weg zu machen. Den Weg des Che. Würde es nicht erdrückend sein, in die Fußstapfen des Che zu treten? Nein, denn ich trat in die Fußstapfen eines jungen Mannes. Ein junger Mann, der nicht der Che war, noch nicht, und der ohne diese Reise vielleicht nie einer geworden wäre: ein junger Medizinstudent, der Witze und Mädchen liebte, ein junger Mann, der verrückt nach Büchern und Rugby war, ein junger Mann, der gerne in Wildbächen schwamm, Berge bestieg und reite, ein abenteuerlustiger, unvorsichtiger, waghalsiger, unordentlich, fleißig, ein Frauenheld („mit sechzehn Jahren ein Frauenheld, ein schrecklicher Frauenheld“, wie uns sein Cousin erzählt), ein junger Mann, dessen einziges Ideal eine hohe Vorstellung von Freundschaft war und dessen bester Freund ein sechs Jahre älterer Mann war, der ihn mit auf seine Reisen nahm.

Hier wird das Reisen als Konfrontation mit Geschichte und die Auseinandersetzung mit der öffentlichen politischen Ikone Che Guevara thematisiert: Der Erzähler reflektiert seine tiefe Motivation, die berühmte Motorradreise Che Guevaras – die ihn zum Revolutionär formte – nachzuvollziehen. Er tut dies jedoch nicht, um den bereits etablierten Mythos des Revolutionärs zu verehren, sondern um den „jungen Mann“ Ernesto Guevara zu verstehen, bevor er zur Ikone wurde. Die Betonung liegt auf seinen menschlichen, ungeschliffenen und bisweilen sehr irdischen Eigenschaften: Er war ein Medizinstudent, abenteuerlustig, begeisterter Leser und Rugbyspieler, jemand, der gerne schwamm und ritt, aber auch als „terrible baiseur“ (ein furchtbarer Weiberheld) beschrieben wird. Durch diese bewusste Entmystifizierung versucht der Erzähler, eine persönlichere und zugänglichere Verbindung zur historischen Figur herzustellen. Das Reisen wird hier zu einer physischen und intellektuellen Erkundung der Ursprünge einer Legende, die aufzeigt, wie alltägliche Erfahrungen und persönliche Beziehungen auf einer Reise zur Formung einer weltverändernden Persönlichkeit beitragen können. Der Weg wird als jener eines jungen Menschen betreten, nicht als jener eines übermächtigen Symbols, was die menschliche Dimension der historischen Konfrontation unterstreicht und die Distanz zum Mythos verringert.

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Assya, ukrainische Künstlerin und feministische Aktivistin bei Camille de Villeneuve, überlebt Folter und Flucht aus Minsk und lebt im Exil in Paris. Sie ist körperlich und seelisch zerstört, von Drogen und Panikattacken gezeichnet. Als sie ihre totgeglaubte Freundin Sonia in einem Film erkennt, kehrt sie in die kriegsversehrte Ukraine zurück. Die Rückreise ist kein Weg in die Heimat, sondern ein Abstieg in den Wahn. In Mariupol, einer von Bomben zerfetzten ukrainischen Stadt, begegnet sie Sonia, die sich in eine „Schamanin“ verwandelt hat. Assya stirbt den symbolischen Tod der politischen Künstlerin: Sie erhängt sich und wird zur Ikone im öffentlichen Raum, ein Körperbild im Zentrum des Ruins. Hier ist kein Raum für Melancholie oder Ironie: Villeneuves Text ist drastisch, hart, bildgewaltig. Der Tod ist nicht Hypothese, sondern Konsequenz.

Villeneuve zeichnet ein komplexes Netz aus feministischer Bildsprache, sowjetischer Ideologie und sakraler Ikonographie, die im Roman untrennbar miteinander verwoben sind. Assyas Kunst, insbesondere ihre ikonographischen Werke mit apokalyptischen Reiterinnen, entspringt einer feministischen Militanz, die sich religiöser und revolutionärer Symbole bedient, diese aber zugleich pervertiert und zerstört. Der Roman zeigt, wie diese Symboliken sich letztlich verselbstständigen und jede individuelle Subjektivität ersticken: Sonia wird zur „Schamanin“ in einem dystopischen Institut, Assya selbst stilisiert ihren Tod zur letzten, grausamen Ikone. Auch der sowjetische Mythos – vor allem in der ironisch-grotesken Bezugnahme auf Lenin – tritt nicht als nostalgisches Erbe auf, sondern als brutaler Mechanismus kollektiver Zerstörung, der Körper und Bewusstsein gleichermaßen deformiert. Villeneuves Text entlarvt so nicht nur die politischen Systeme als repressiv, sondern auch die künstlerischen und ideologischen Mittel, mit denen diese Systeme sich in den Seelen der Figuren festsetzen. Ihre Reise ist nicht die Rückkehr zu einer Wahrheit, sondern das Ertrinken in einem Strudel aus Gewalt, Wahn und verlorener Autonomie.

« Art has nothing to do with messages », rétorqua Assya. … « Je ne fais pas de l’art. Je fais la révolution. »

Camille de Villeneuve, Lis Lénine ! Gallimard, 2025.

„Kunst hat nichts mit Botschaften zu tun“, entgegnete Assya. … „Ich mache keine Kunst. Ich mache Revolution.“

Diese beiden direkten Aussagen von Assya, der ukrainischen Künstlerin und Mitbegründerin der feministischen Organisation FELIN, sind fundamental für das Verständnis von Villeneuves Darstellung des Schreibens und der Kunst. Assyas erste Aussage scheint zunächst eine Verweigerung von Kunst als Medium der Botschaft zu sein. Doch ihre zweite, vehementere Behauptung erklärt diese vermeintliche Verweigerung als eine radikale Neudefinition von Kunst. Für Assya ist Kunst kein passives Medium, das „Botschaften“ vermittelt, sondern ein aktives Instrument des politischen Widerstands. Ihr Schaffen ist untrennbar mit ihrer revolutionären Tätigkeit als Aktivistin verbunden. Diese Haltung verwandelt Literatur (und die Kunst im Roman) in ein brutales politisches Zeugnis, das die Grenzen zwischen ästhetischem Ausdruck und direktem, oft gewalttätigem Kampf gegen Ungerechtigkeit aufhebt. Es ist ein verzweifelter Versuch, dem Unfassbaren – dem Krieg, der politischen Unterdrückung, der Gewalt – durch eine total engagierte künstlerische Praxis entgegenzutreten, die keine Distanz zur Realität kennt.

Beide Romane inszenieren Reisen als Konfrontation mit Geschichte, doch auf gegensätzliche Weise: Désérable nutzt die Reise zur Erkundung von Freiheit, zur poetischen Selbstbefragung. Villeneuve zeigt die Reise als Zwangsbewegung in einen Raum, der nur noch Zerstörung und Tod kennt. Der südamerikanische Roadtrip ist bei Désérable ein Ritual der Selbstfindung, angelehnt an literarische Traditionen des Reisens. Die historische Last wird abgefedert durch Ironie, Distanz und Bewunderung für die Poetik der Bewegung. In Lis Lénine ! dagegen führt die Reise unausweichlich ins Verderben. Die Figuren sind von Geschichte gezeichnet und gejagt; ihre Bewegung ist eine tragische Odyssee durch postimperiale Landschaften.

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Beide Bücher beziehen sich auf die Möglichkeit der Revolution, die ihre jeweilige literarische Selbstbefragung und ihren Umgang mit dem Erzählen prägen. Sowohl François-Henri Désérable in Chagrin d’un chant inachevé als auch Camille de Villeneuve in Lis Lénine ! beleuchten das Konzept der Revolution, tun dies jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und aus verschiedenen Perspektiven.

Désérables Darstellung der Revolution, maßgeblich geprägt durch die historische Figur Che Guevaras, wurzelt in der direkten Konfrontation mit systemischer Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Die Revolution wird hier als eine unvermeidliche Reaktion auf abscheuliche soziale und wirtschaftliche Missstände dargestellt, insbesondere auf den „Yankee-Kapitalismus“, der die indigene Bevölkerung in Minen ausbeutet und Arbeiterrechte systematisch sabotiert. Die „Mauer der Schande“ in Lima, die Reiche und Arme trennt, symbolisiert diese tiefe Ungleichheit, welche den Keim der Revolution legt. Che Guevaras Reise beginnt als „simple voyage initiatique“, entwickelt sich aber zu einem politischen Erwachen („mutation“), als er die Not und Ausbeutung der Menschen wahrnimmt. Die Revolution wird als notwendige, bewaffnete Antwort auf tief verwurzelte institutionelle Gewalt verstanden. Der Autor zitiert explizit Hélder Câmara, um die „revolutionäre Gewalt“ als legitime Reaktion auf „institutionelle Gewalt“ zu verteidigen. Che selbst „zitterte vor Empörung bei jeder Ungerechtigkeit“ und verkörperte den Glauben an die Revolution bis zu seinem Tod. Für Désérable ist Che eine ikonische Figur des revolutionären Engagements. Sein berühmtes Porträt von Korda wird zu einem Symbol, das in denen, die Ungerechtigkeit empfinden, ein „Herzklopfen“ auslösen kann und den Ruf nach dem „Unmöglichen“ repräsentiert.

Gleichzeitig ist die „Revolution“ in Chagrin d’un chant inachevé weniger ein politischer Umsturz als vielmehr eine persönliche, existenzielle Befreiung und eine Feier des Lebens durch Bewegung und Schreiben. Der Erzähler lehnt konventionelle bürgerliche Sicherheiten ab, beruft sich auf Freiheit, identifiziert sich mit den romantischen Aspekten und der Ablehnung von Kompromissen Che Guevaras, stellt aber klar: „Je n’avais pas l’étoffe d’un révolutionnaire ; j’espérais avoir celle d’un vagabond.“ Die Reise imitiert den Weg des Che, aber das Ziel ist ein persönliches: „aiguiser mon regard“ und dem „train-train quotidien“ zu entfliehen. Das Schreiben wird zur Sinngebung, die auch Widrigkeiten in Kunst verwandelt. Die „Revolution“ ist der Akt des poetischen Ausdrucks selbst – eine Reise ohne Ziel, geprägt vom Streben nach „ailleurs“, einem Gefühl der „immense liberté“ und einem „conscience aiguë d’être en vie“. Diese Form der Revolution bleibt melancholisch-unvollendet, eine Elegie der Freiheit.

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In Lis Lénine ! hingegen ist die Revolution ein direkter, radikaler politischer Kampf, der untrennbar mit dem Schicksal der Charaktere, insbesondere Assya, verbunden ist. Assya erklärt kategorisch: „Art has nothing to do with messages“ und: „Je ne fais pas de l’art. Je fais la révolution.“ Kunst ist hier kein passives Medium, sondern ein aktives Instrument politischen Widerstands. Dies zeigt sich in Assyas Ikonen – etwa Christus mit Kalaschnikow oder erotischer Kreuzabnahme – sowie in ihrer performativen Bemalung des Körpers. Ihre Kunst wird zu einem brutalen politischen Zeugnis, das nicht nur reflektiert, sondern Realität verändern will. Der Roman zitiert ebenfalls Hélder Câmara, um revolutionäre Gewalt als legitime Antwort auf institutionelle Gewalt zu rechtfertigen. Die Aktionen der feministischen Organisation FELIN (z. B. Entblößung in der Öffentlichkeit, Manifestationen in Minsk) sind riskant, konfrontativ und physisch. Assya fordert „Lis Lénine !“, um zu zeigen, dass sich Terror den Zeiten anpassen müsse („La terreur doit s’adapter aux temps“).

Villeneuves Konzept der Revolution, vermittelt durch Assya, Olga und Sonia, ist vielschichtiger und experimenteller. Die Bewegung speist sich aus feministischen Idealen, antikapitalistischer Kritik und einer tiefen Desillusionierung gegenüber gesellschaftlichen Normen. Der Krieg in der Ukraine, Folter und politische Repression geben dem revolutionären Impuls existenziellen Ernst. Anfangs gewaltfreie, surrealistische Performances – Nacktheit, religiöse Ikonographie, provokative Slogans – verwandeln sich in radikalere Akte. Assya propagiert einen „notwendigen Terror“, verweist auf Lenin und lehnt Oberflächlichkeit sowie konformen Feminismus ab. Die Revolution erstreckt sich hier auf die persönliche Transformation: Assya will ihr Ich ablegen („je ne veux plus de mon moi“) und sogar die „Befreiung Gottes“ vollziehen. Sonia wird zur prophetischen Figur, einer „Schamanin“, die konventionelle Erwartungen unterläuft. Ihre Revolution ist ein spiritueller, existenzieller Aufstand gegen Entfremdung und Hässlichkeit. Assyas Krebserkrankung fließt in ihre Kunst ein – ein Sinnbild für die körperlichen wie seelischen Kosten dieses Widerstands. Ihr letzter Akt ist eine „Apokatastase“: die radikale Rückkehr zum Ursprung, politisch wie spirituell.

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Beide Autoren betrachten Revolution als Reaktion auf tiefgreifende Ungerechtigkeit und Leid. Beide erkennen auch die inhärente Gewalt revolutionärer Prozesse an, sei es als bewaffnete Notwendigkeit (Désérables Che) oder als konzeptueller Terror (Villeneuves Assya). Beide führen charismatische Figuren ein – Che auf der einen, Assya, Olga und Sonia auf der anderen Seite – die den revolutionären Geist verkörpern und zugleich in ihm zerbrechen.

Die Unterschiede liegen vor allem in Zielrichtung und Methodik: Désérables Revolution ist systemisch, antiimperialistisch, historisch verankert und fokussiert auf soziale Gerechtigkeit – mit starkem Bezug auf Lateinamerika. Villeneuves Revolution ist transgressiv, feministisch, spirituell, provokativ und experimentell – verwurzelt in postsowjetischer Desillusionierung, Kriegserfahrung und westlicher Konsumkritik. Während Che Guevara ein historisch reales Symbol bleibt, kreieren Villeneuves Figuren neue, schockierende Symbole, die bestehende Normen gezielt unterwandern. Villeneuve thematisiert intensiver die psychologischen, künstlerischen und spirituellen Dimensionen der Revolution, bei der es auch um Selbstauflösung und Neuerschaffung geht. Désérable hingegen fokussiert eher auf die gesellschaftlichen Auswirkungen von Rebellion – bei allem persönlichen Impuls als Auslöser. Der Vergleich der Revolution in beiden Büchern zeigt damit einen tiefgreifenden Gegensatz: Bei Désérable eine melancholische Elegie der Freiheit – introspektiv, existenziell, aber politisch eingebettet. Bei Villeneuve eine eruptive Tragödie des Widerstands – körperlich, künstlerisch, ekstatisch und zutiefst verstörend.

Maskuline Freiheit und feministische Apokalypse

Auch in der Geschlechterinszenierung liegen die Werke diametral auseinander: Das Buch Chagrin d’un chant inachevé ist von einer zutiefst männlichen Poetik durchzogen. Désérables Erzähler und sein Freund Quentin sind Prototypen einer männlichen Freundschafts- und Abenteuerliteratur: Vagabunden, die an literarische Figuren wie Jack Londons Helden oder Nicolas Bouviers Reisende erinnern. Weibliche Figuren bleiben marginal. Freiheit wird hier als männlicher Raum imaginiert, in dem Freundschaft, Witz und Mut zählen. Die sexuelle Komponente ist spielerisch, nie tragend.

Un jeune homme étudiant en médecine, amateur de blagues et de filles, un jeune homme fou de lecture et fou de rugby, un jeune homme qui aimait nager dans les torrents, escalader des montagnes et monter à cheval, un jeune homme aventureux, imprudent, casse-cou, brouillon, bûcheur, baiseur (« dès seize ans un baiseur, un terrible baiseur », nous apprend son cousin), un jeune homme avec pour seul idéal une idée haute de l’amitié, et pour meilleur ami un type de six ans son aîné qui l’emmène avec lui sur les routes.

François-Henri Désérable, Chagrin d’un chant inachevé, Gallimard, 2025.

Ein junger Medizinstudent, der Witze und Mädchen liebte, ein junger Mann, der verrückt nach Büchern und Rugby war, ein junger Mann, der gerne in Wildbächen schwamm, Berge bestieg und reiten ging, ein abenteuerlustiger, unvorsichtiger, waghalsiger junger Mann, unordentlich, fleißig, ein Frauenheld („mit sechzehn Jahren ein Frauenheld, ein schrecklicher Frauenheld“, wie uns sein Cousin erzählt), ein junger Mann, dessen einziges Ideal eine hohe Vorstellung von Freundschaft war und dessen bester Freund ein sechs Jahre älterer Mann war, der ihn mit auf seine Reisen nahm.

Diese Passage konzentriert sich auf die Inszenierung von Männlichkeit durch die detaillierte Beschreibung des jungen Ernesto Guevara, bevor er zur Ikone „Che“ wird. Der Erzähler, der seine Schritte nachvollzieht, sucht nicht den Mythos, sondern den „jungen Mann“. Die Attribute, die ihm zugeschrieben werden, zeichnen ein vielschichtiges Bild traditioneller und jugendlicher Männlichkeit: Er ist Medizinstudent, zeigt intellektuelle Interessen („fou de lecture“), aber auch eine robuste, abenteuerlustige Seite durch Hobbys wie Rugby, Schwimmen in reißenden Strömen, Bergsteigen und Reiten. Besondere Betonung liegt auf seiner unvorsichtigen, draufgängerischen und draufgängerischen („casse-cou“) Art, sowie seiner sexuellen Aktivität. Die explizite Nennung als „baiseur“ und „terrible baiseur“ (ein „furchtbarer Weiberheld“) durch seinen Cousin unterstreicht eine Form von Männlichkeit, die auf sexueller Potenz und Eroberung basiert. Diese Darstellung humanisiert die historische Figur, indem sie sie von ihrem späteren revolutionären Glanz entkleidet und eine Männlichkeit aufzeigt, die sich in Abenteuerlust, körperlicher Betätigung und einem ausgeprägten Sexualtrieb manifestiert. Es ist eine sehr irdische, ungeschliffene Männlichkeit, die sich noch formt und durch die Reise weiterentwickeln wird.

Quentin savait se battre – n’ayant peur de rien, il était même plutôt doué pour cela – , mais son goût de la diplomatie le poussait davantage à éviter l’affrontement. Des années plus tôt, à Lyon, place des Terreaux, devant la fontaine Bartholdi où il venait de séparer deux ivrognes qui se liguaient maintenant pour en découdre avec lui, je l’avais vu désamorcer le conflit d’une manière inattendue : comme s’il voulait être plus libre de ses mouvements, il avait commencé par déboutonner sa chemise, il l’avait délicatement pliée, posée sur le rebord de la fontaine, puis il s’était déchaussé, et il avait défait sa ceinture, qu’il avait posée à côté de la chemise. Il ne lui restait plus qu’un pantalon en lin beige qu’il avait pris le temps de retirer, très tranquillement, presque nonchalamment, comme s’il était à la plage, sur le point de se jeter à la mer, sur le point d’aller piquer une tête, et alors il s’était retrouvé en caleçon, un caleçon, je m’en souviens, à rayures bleues et blanches, devant les deux types effarés. C’était qui, ce malade ? Sa conduite était si absurde, si imprévue qu’elle les désarçonnait tout à fait. Quentin, cette fois-ci d’un geste vif, avait ôté son caleçon pour se retrouver entièrement nu sous les yeux des deux ivrognes : ils s’étaient enfuis sur-le-champ.

François-Henri Désérable, Chagrin d’un chant inachevé, Gallimard, 2025.

Quentin konnte sich wehren – er hatte vor nichts Angst und war sogar ziemlich gut darin –, aber sein Sinn für Diplomatie veranlasste ihn eher, Konfrontationen zu vermeiden. Jahre zuvor, in Lyon, auf der Place des Terreaux, vor dem Bartholdi-Brunnen, wo er gerade zwei Betrunkene getrennt hatte, die sich nun gegen ihn verbündeten, um sich mit ihm zu prügeln, hatte ich gesehen, wie er den Konflikt auf unerwartete Weise entschärfte: Als wolle er sich freier bewegen können, knöpfte er zunächst sein Hemd auf, faltete es sorgfältig zusammen, legte es auf den Rand des Brunnens, zog dann seine Schuhe aus und löste seinen Gürtel, den er neben das Hemd legte. Er hatte nur noch eine beige Leinenhose an, die er sich ganz gemächlich, fast lässig auszog, als stünde er am Strand und wollte sich ins Meer stürzen, um eine Runde zu schwimmen. und dann stand er in Unterhosen da, einer Unterhose, ich erinnere mich, mit blauen und weißen Streifen, vor den beiden erschrockenen Männern. Wer war dieser Verrückte? Sein Verhalten war so absurd, so unerwartet, dass es sie völlig aus der Fassung brachte. Quentin zog diesmal mit einer schnellen Bewegung seine Unterhose aus und stand nun völlig nackt vor den beiden Betrunkenen, die sofort davonrannten.

Dieser Auszug präsentiert eine subversive und unkonventionelle Inszenierung von Männlichkeit durch die Figur Quentin. Obwohl Quentin körperlich fähig ist, sich zu verteidigen und als „fähig im Kampf“ beschrieben wird, bevorzugt er „Diplomatie“. Seine Methode, einen Konflikt zu deeskalieren, ist radikal unerwartet: Er entkleidet sich systematisch und ruhig, bis er völlig nackt ist. Diese öffentliche Entblößung, die im Kontext einer potenziell gewalttätigen Auseinandersetzung stattfindet, ist eine provokante Umkehrung der erwarteten männlichen Verhaltensweisen. Sie ist so absurd und überraschend, dass die Angreifer verblüfft fliehen. Quentins Nacktheit bricht mit den konventionellen Symbolen männlicher Dominanz und Aggression (Kleidung, Gürtel, die oft Stärke und Kontrolle signalisieren). Statt Stärke durch Gewalt zu demonstrieren, nutzt er seine Nacktheit als eine Form des Schocks und der Verwirrung, die die Gegenseite psychologisch entwaffnet. Dies ist eine Inszenierung von Männlichkeit, die Stärke und Kontrolle durch Verletzlichkeit und Absurdität ausdrückt und damit traditionelle Vorstellungen von männlichem Verhalten auf unerwartete Weise unterläuft. Es zeigt eine Form von Intelligenz und Selbstvertrauen, die sich außerhalb der erwarteten, stereotypen männlichen Aggressionsmuster bewegt.

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Villeneuve hingegen erzählt in Lis Lénine ! radikal aus weiblicher Perspektive. Assyas Körper ist zugleich Kampfzone und Leinwand. Ihre Künstlerinnenschaft ist tief mit Weiblichkeit, Sexualität und Gewalt verwoben. Ihre Ikonen zeigen weibliche apokalyptische Reiterinnen, die Männerdominanz symbolisch zertrümmern. Der Körper der Frau steht hier im Zentrum: als Ort von Gewalt, Widerstand, Ekstase und Tod. Männliche Figuren erscheinen meist als Zyniker, Täter oder Statisten. Villeneuve konfrontiert den Leser mit einer Körperlichkeit, die Désérables Text bewusst ausklammert.

Sonia est debout au milieu de la cour, montée sur la stèle d’une statue déboulonnée. Elle porte la perruque de Marilyn, sa bouche est écarlate. Elle a mis une jupe de patineuse, des mitaines en dentelle, des baskets bleues, c’est tout. Elle s’est dessiné au crayon le grain de beauté marilynien qui bave sur le fond de teint, elle porte des faux cils et son oreille est percée autant de fois que le corps de saint Sébastien. Elle chante un bon anniversaire à Poutine, une bouteille de vodka à la main. Quand le vent soulève sa jupe, il dévoile une culotte rouge sur laquelle sont dessinés le marteau et la faucille et puis les cuisses bourrelées, le cul infini. Dans le dos est dessinée une pierre tombale. Les deux seins tombent sur la jupe et entre les seins, en couleurs, il y a les armoiries de la Russie, l’aigle bicéphale et doublement couronné repris à l’Empire byzantin, saint Georges patron des Slaves au milieu. Autour des armoiries, une mandorle dorée remonte vers les clavicules.

Camille de Villeneuve, Lis Lénine ! Gallimard, 2025.

Sonia steht mitten im Hof, auf dem Sockel einer umgestürzten Statue. Sie trägt Marilyns Perücke, ihr Mund ist scharlachrot. Sie hat einen Skaterrock, Spitzenhandschuhe und blaue Turnschuhe an, sonst nichts. Sie hat sich mit Bleistift das Marilyn-Muttermal auf die verschmierte Grundierung gemalt, sie trägt falsche Wimpern und ihr Ohr ist so oft durchstochen wie der Körper des Heiligen Sebastian. Mit einer Flasche Wodka in der Hand singt sie Putin ein Geburtstagslied. Wenn der Wind ihren Rock hochweht, kommt ein roter Slip zum Vorschein, auf dem Hammer und Sichel aufgemalt sind, und dann ihre wulstigen Schenkel und ihr endloser Hintern. Auf ihrem Rücken ist ein Grabstein gemalt. Ihre beiden Brüste fallen auf den Rock, und zwischen den Brüsten prangt in bunten Farben das Wappen Russlands, der doppelköpfige, doppelt gekrönte Adler aus dem Byzantinischen Reich, in dessen Mitte der Heilige Georg, Schutzpatron der Slawen, zu sehen ist. Um das Wappen herum erstreckt sich eine goldene Mandorla bis zu den Schlüsselbeinen.

Diese Passage bietet eine radikale und höchst provokative Inszenierung von Weiblichkeit. Sonia, die als tot galt, erscheint in Mariupol auf einem umgestürzten Statuensockel, was sie selbst zu einem lebendigen Denkmal macht. Ihre Erscheinung ist eine bewusste und vielschichtige Collage weiblicher Stereotypen und politischer Ikonographie. Die Marilyn-Monroe-Perücke, der rote Lippenstift und der Schönheitsfleck zitieren das westliche Sexsymbol, während die roten Höschen mit Hammer und Sichel sowie die russischen Wappen auf ihren Brüsten eine direkte politische Botschaft und eine Verbindung zur sowjetischen und russischen Geschichte herstellen. Ihre „cuisses bourrelées“ (vollgestopfte Oberschenkel) und „cul infini“ (unendlicher Hintern) sowie die hängenden Brüste widersprechen traditionellen Schönheitsidealen und unterstreichen eine rohe, ungeschönte Körperlichkeit. Die Tätowierungen und Symbole auf ihrem Körper – wie die zahlreichen Piercings, die an den heiligen Sebastian erinnern, oder der Grabstein auf ihrem Rücken – verwandeln ihren Körper in eine wandelnde Leinwand für Schmerz, Geschichte und Widerstand. Sonia inszeniert ihre Weiblichkeit nicht als Objekt der Begierde, sondern als subversives Werkzeug der Konfrontation, das Schönheit, Sexualität und Politik miteinander verschmilzt und dabei gängige Vorstellungen weiblicher Darstellung drastisch dekonstruiert. Sie singt Putin ein Geburtstagsständchen, eine Flasche Wodka in der Hand, was die groteske und rebellische Natur ihrer Darbietung unterstreicht.

J’achète tout ce que tu as fait parce que c’est de bonne qualité, c’est bien fabriqué et je m’y connais. Toi aussi, c’est certain. Mais je ne vois pas tellement l’intérêt. C’est comme tronçonner une croix ou faire sonner les cloches à moitié nue dans une église, je ne comprends pas l’utilité. Tu vois par exemple, Sonia… » … « Je ne fais pas de l’art. Je fais la révolution.

Camille de Villeneuve, Lis Lénine ! Gallimard, 2025.

Ich kaufe alles, was du gemacht hast, weil es von guter Qualität und gut verarbeitet ist und ich mich damit auskenne. Du auch, das ist klar. Aber ich sehe darin nicht wirklich einen Sinn. Das ist wie ein Kreuz zu zersägen oder halbnackt in einer Kirche die Glocken zu läuten, ich verstehe den Sinn nicht. Siehst du zum Beispiel Sonia… Ich mache keine Kunst. Ich mache Revolution.

Assyas Rolle als Hauptfigur der FELIN wird entscheidend durch ihre radikale Inszenierung von Weiblichkeit geprägt, die sie nicht als Kunst, sondern als Mittel zur Revolution versteht. Für sie ist der weibliche Körper kein passives Objekt, sondern eine bewusste Waffe und Leinwand im politischen Kampf. Ihre provokanten Aktionen, wie das Entblößen der FELIN-Mitglieder, das Tätowieren von Slogans auf ihren Brüsten oder performative Proteste in Kirchen („tronçonner une croix“, Glockenläuten halbnackt), machen den Körper zum expliziten Werkzeug der Provokation und sozialen Konfrontation. Kyril, ein russischer Geschäftsmann und Kunstliebhaber, kritisiert diese Praxis, da er in ihren Werken keinen „künstlerischen“ Wert erkennt, sondern bloßen Schockeffekt. Doch Assya entgegnet mit der programmatischen Formel: „Ich mache keine Kunst. Ich mache Revolution.“ Ihre Werke wie „Vierge à la burka“, „le Christ à la kalachnikov“ oder die „descente de croix érotique“ sind keine ästhetischen Objekte im traditionellen Sinn, sondern radikale Umcodierungen religiöser und weiblicher Ikonografie. Sie nutzt diese Bilder, um politische Dogmen zu brechen und gesellschaftliche Tabus anzugreifen. Assya verschmilzt ihre Identität als Frau mit ihrer Rolle als Revolutionärin, sie wird selbst zur lebendigen Ikone, die ihren Körper als Instrument einer kompromisslosen, körperlichen Form des Widerstands inszeniert – eine Praxis, die ästhetische Konventionen sprengt und Weiblichkeit als politische Waffe neu definiert

Intertextualität

François-Henri Désérables Einsatz von Intertextualität scheint weniger grundlegend für seine narrative Strategie zu sein als die von de Villeneuve. Désérable positioniert sich zwar selbst in der Tradition berühmter Reisender und zitiert ausführlich aus den Tagebüchern von Che Guevara und Alberto Granado, deren Route er folgt, doch dienen diese Verweise und die zahlreichen literarischen Anspielungen eher als intellektuelle Begleiter und Reflexionspunkte für seine eigene Reise und seine Betrachtungen über das Reisen und Schreiben. Er nimmt die Texte auf, kommentiert sie oder findet in ihnen eine Bestätigung universeller Erfahrungen, wie etwa die Betrachtung von Atlanten als Auslöser für Fernweh oder die menschliche Reaktion auf extreme Ereignisse. Im Gegensatz zu Villeneuves Figuren, die Lenins Ideen oder biblische Motive in ihre Identität und ihren Aktivismus transformieren, integriert Désérable literarische Bezüge eher als bereichernde Kulisse oder als Anlass für persönliche Anekdoten und humorvolle Beobachtungen, die den Reisebericht intellektuell unterfüttern, ohne jedoch das Sein seiner Charaktere auf eine ebenso existentielle Weise zu definieren oder ihre Handlungen ideologisch anzutreiben. Seine Intertextualität ist somit mehr eine feinsinnige Verzierung und ein Gespräch mit der Geistesgeschichte, die sein persönliches Erlebnis untermauern, als ein transformatives Fundament für die radikale Neugestaltung von Realität.

In Camille de Villeneuves „Lis Lénine!“ werden vielfältige Formen der Intertextualität genutzt, die dem Roman zusätzliche Bedeutungsebenen verleihen und die Charaktere sowie die Handlung komplexer gestalten, indem sie Bezüge zu Literatur, Philosophie, Religion und Popkultur herstellen. Der Roman ist tief in revolutionären und philosophischen Texten verwurzelt, die das ideologische Fundament der Protagonistin Assya bilden. Ihre wiederholte Aufforderung „Lis Lénine!“ ist mehr als eine einfache Anspielung; es ist ein Aufruf zum Handeln und ein Bekenntnis zu ihrer revolutionären Ideologie, die sich direkt auf Nikolay Tschernyschewskis Roman „Was tun?“, Lenins Lieblingsbuch, und dessen Konzepte bezieht. Assya verbindet sich sogar selbst mit Lenins Frau, Nadeschda Krupskaja, in Bezug auf ihr Aussehen und die Idee einer freien und finanziell unabhängigen Beziehung, wie sie im Roman von Tschernyschewski beschrieben wird. Lenins Vorstellung vom „notwendigen Terror“ wird von Assya als Legitimation radikaler Taktiken herangezogen, und die Thematisierung von Langeweile als Vorläufer der Revolution verweist auf Lenins Idee, dass „Langeweile Risse in dem verbliebenen [System] schafft“. Assyas Fähigkeit, Hegel und Marx zu zitieren, verortet sie in einer breiteren philosophischen Tradition der Gesellschaftskritik, und ihre Lektüre von August Bebel, Alexandra Kollontai, Emma Goldman, Clara Zetkin und Rosa Luxemburg verankert ihren Aktivismus fest in den historischen Bewegungen für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit.

Literarische Referenzen bereichern den kulturellen Hintergrund der Erzählung. Das Buch Limonow von Emmanuel Carrère, das Élise gegeben wird, löst eine Diskussion aus, in der Assya behauptet, Carrères Buch begrabe Limonows Originalwerk. Später wird Limonow selbst als „literarisches Genie“ im Zusammenhang mit pro-russischen Bataillonen erwähnt. Diese doppelte Referenz auf einen Autor und eine Biografie über ihn, verbunden mit seinen kontroversen politischen Zugehörigkeiten, schafft einen komplexen Kommentar zur Beziehung zwischen Kunst, Politik und historischen Persönlichkeiten. Nikolai Gogol wird als umstrittene Figur zwischen Russland und der Ukraine dargestellt, was den kulturellen Kampf innerhalb des Konflikts widerspiegelt. Irinas Zitat aus Gogols Die Rache führt ein Thema häuslicher Rache ein. Gogols Paranoia und dessen angebliche Verbindung zu Kokainkonsum, die in seinem Werk Die Nase thematisiert wird, dienen als Metapher für die Auswirkungen von Sucht und Radikalität. Fjodor Dostojewski wird von einem polnischen Obdachlosen gelesen, was eine tiefgründige, leidvolle intellektuelle Auseinandersetzung symbolisiert. Eine alte Frau, die Leo Tolstois Anna Karenina in einem verfallenen Institut liest, unterstreicht den Kontrast zwischen literarischen Idealen und den harten Realitäten postsowjetischer Räume.

Religiöse und mythologische Ikonografie wird von Assya oft subversiv genutzt. Ihre Gemälde der „vier apokalyptischen Reiterinnen“ verleihen ihrer Kunst eine apokalyptische Vision, die jedoch mit weiblichen Figuren neu interpretiert wird. Ihre Darstellungen der „Jungfrau mit Burka“, des „Christus Pantokrator mit Kalaschnikow“ und der „pornografischen Kreuzabnahme“ sind bewusste Subversionen traditioneller christlicher Ikonografie, die heilige Bilder in Aussagen gegen Ungerechtigkeit und gesellschaftliche Normen verwandeln. Assyas Faszination für El Greco, insbesondere seine Verwendung von „Spermaspritzern“ bei der Darstellung der Auferstehung Christi, spiegelt ihren provokativen und radikalen Kunstansatz wider, bei dem das Heilige durch eine körperliche, fast transgressive Linse neu definiert wird. Ihr Glaube an die „Apokatastasis“, die universelle Wiederherstellung, verleiht ihren zerstörerischen künstlerischen Akten eine tiefere spirituelle oder kosmische Bedeutung, eine Rückkehr zur ursprünglichen Einheit jenseits der Zerstörung. Verweise auf die Andreaskirche in Kiew und das Pokrow-Fest (Schutz der Gottesmutter) beleuchten die religiöse Landschaft der Ukraine, und die Diskussion darüber, ob die Jungfrau Maria Russland oder die Ukraine schützt, spiegelt den anhaltenden geopolitischen und spirituellen Konflikt wider.

Popkultur und zeitgenössische Phänomene dienen als soziale Kommentare. Die explizite Verbindung des Romans zur Femen-Bewegung kontextualisiert sofort den Aktivismus der FELIN, einschließlich ihrer konfrontativen, oft barbusigen Proteste als „Performancekunst“. Sonias Verwandlung in eine „Sexbombe“ während ihrer Performance verschmilzt Popkultur-Berühmtheit mit radikalem Protest, indem sie ikonische Bilder nutzt, um gesellschaftliche Erwartungen herauszufordern. Assyas beiläufige Bemerkung, dass sich ihre Folter in Minsk wie ein „Tarantino-Film“ anfühlte, verwendet Popkultur als dunklen, fast distanzierten Bezugsrahmen für extreme Gewalt und hebt die Abstumpfung gegenüber Brutalität hervor. Die Nutzung von Instagram durch Charaktere für Selfies oder zum Teilen von Informationen spiegelt die moderne, allgegenwärtige Natur sozialer Medien wider, selbst in einem revolutionären Kontext. Slogans auf Assyas Kunst wie „Fashion Dictaterror“ und „Model Don’t Go to Brothel“ verweisen auf sexuelle Ausbeutung in der Modelbranche und eine breitere Kritik am „sexuellen Kapitalismus“. Die Verachtung Kyrils für „westliche Werte“, die „Bourgeoisie“ und die Konsumkultur („Sport-, Kleider- und Essensläden“) ist ein wiederkehrendes Thema, ebenso wie Jeanne Anselmes Kritik an der „Hässlichkeit“ als Ausdruck „kapitalistischer Unterdrückung“, was eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der wahrgenommenen Oberflächlichkeit der modernen westlichen Gesellschaft darstellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Villeneuve durch diese vielfältigen intertextuellen Formen die Erzählung bereichert und tiefere Bedeutungsebenen schafft. Indem sie auf klassische Literatur, politische Philosophie, religiöse Ikonografie und zeitgenössische Popkultur Bezug nimmt, etabliert sie einen reichen Dialog zwischen den inneren Kämpfen der Charaktere und den äußeren Realitäten. Diese intertextuellen Elemente dienen dazu, die revolutionären und künstlerischen Handlungen der Charaktere zu legitimieren und zu kontextualisieren, eine kritische Kommentierung der zeitgenössischen Gesellschaft und Politik zu ermöglichen und komplexe Themen wie Identität, Trauma und spirituelle Neudefinition zu erforschen. Die Intertextualität ist nicht bloß dekorativ, sondern tief in die Motivationen der Charaktere, ihre Ausdrucksformen und die zugrundeliegenden Themen von Revolution, Kunst und Überleben in einer turbulenten Welt verwoben.

Zwei poetische Grenzformen

Chagrin d’un chant inachevé und Lis Lénine ! stehen für zwei radikal verschiedene Antworten auf dieselbe Frage: Wie schreibt man politische Wirklichkeit literarisch? Désérable wählt den Weg der Ironie, der Entmystifizierung, der melancholischen Leichtigkeit. Sein Roman feiert die Reise als überdauernden Traum vom „Anderswo“ und ist zugleich eine ironische Reflexion über die eigene Schriftstellerei.

Les désagréments du voyage sont déplaisants au voyageur, mais profitables à l’écrivain : un passage de douane embrouillé, une rencontre inquiétante au coin d’une rue interlope, un chauffeur de taxi qui vous roule, voilà qui donne matière à chapitre. Davantage en tout cas que la contemplation muette du soleil qui se couche sur des rivages enchanteurs. L’événement malencontreux, l’écrivain a cette consolation de pouvoir en tirer quelque chose.

François-Henri Désérable, Chagrin d’un chant inachevé, Gallimard, 2025.

Die Unannehmlichkeiten einer Reise sind für den Reisenden unangenehm, für den Schriftsteller jedoch nützlich: eine chaotische Zollabfertigung, eine beunruhigende Begegnung an einer zwielichtigen Straßenecke, ein Taxifahrer, der einen betrügt – all das liefert Stoff für ein Kapitel. Auf jeden Fall mehr als das stille Betrachten der untergehenden Sonne an bezaubernden Stränden. Aus unglücklichen Ereignissen kann der Schriftsteller trösten, dass er etwas daraus machen kann.

Dieser Abschnitt offenbart Désérables Verständnis von Literatur als poetischer Konstruktion und als Gegenstand literarischer Selbstbefragung. Der Erzähler betrachtet die „désagréments du voyage“ (Unannehmlichkeiten der Reise) nicht als bloße Hindernisse, sondern explizit als „profitables à l’écrivain“ (profitabel für den Schriftsteller). Ein verwirrender („embrouillé“) Grenzübertritt oder eine beunruhigende („inquiétante“) Begegnung werden unmittelbar zu Material für ein Kapitel. Dies ist ein klarer Einblick in den Meta-Aspekt des Schreibens bei Désérable: Er beschreibt nicht nur seine Reise, sondern reflektiert auch kontinuierlich darüber, wie diese Erfahrungen zu Literatur werden. Die Konsolation, die der Autor aus unglücklichen Ereignissen ziehen kann, zeigt, dass das Schreiben für ihn eine Form der Sinngebung und Bewältigung ist. Es ist eine Feier des Lebens in dem Sinne, dass selbst seine Widrigkeiten in etwas Schönes, in Kunst, verwandelt werden können. Dies unterstreicht, wie Literatur nicht nur Zeugnis ablegt, sondern auch eine aktive Rolle bei der Schaffung und Interpretation der Realität spielt.

Villeneuve hingegen zwingt den Leser in die Katastrophe, in ein Kriegsepos der Frauen, in dem die Ikone nicht mehr Halt gibt, sondern nur noch Grauen erzeugt. Ihre Erzählung ist künstlerische Grenzüberschreitung, ein erbarmungsloser Blick in den Abgrund über den weiblichen Körper:

« Elle avait transformé les négatifs de ses seins en œuvres d’art. Le fond était frotté à l’argent et au cuivre, parfois dans le métal une empreinte digitale ressortait. Chaque coupe de sein était soulignée d’un fin trait d’or et le galbe était diversement coloré en rouges rubis, cinabre ou aniline tels ceux dans lesquels flamboyait saint Michel de l’Apocalypse. Sur les fonds inquiétants du métal, les morceaux colorés de sein flottaient. À Paris, Assya m’avait montré des photos d’un type qui brûlait ses négatifs ou les exposait au soleil pour que les sujets, une fois développés, sortent incandescents comme de l’enfer. Les seins d’Assya brûlaient et vivaient. »

Camille de Villeneuve, Lis Lénine ! Gallimard, 2025.

„Sie hatte die Negative ihrer Brüste in Kunstwerke verwandelt. Der Hintergrund war mit Silber und Kupfer eingerieben, manchmal war im Metall ein Fingerabdruck zu erkennen. Jeder Brustschnitt war mit einem feinen goldenen Strich unterstrichen und die Rundung war unterschiedlich gefärbt, in Rubinrot, Zinnoberrot oder Anilin, wie die Farben, in denen der Heilige Michael in der Apokalypse leuchtete. Vor dem beunruhigenden Hintergrund des Metalls schwebten die bunten Bruststücke. In Paris hatte Assya mir Fotos von einem Typen gezeigt, der seine Negative verbrannte oder sie der Sonne aussetzte, damit die Motive nach der Entwicklung wie aus der Hölle glühten. Assyas Brüste brannten und lebten.“

Die poetische Konstruktion und die brutale Tragödie des Widerstands wird in Villeneuves Roman verbunden. Die Beschreibung von Assyas Transformation der Negative ihrer Brüste in Kunstwerke ist nicht nur ein ästhetischer Akt, sondern eine zutiefst persönliche und politische Geste. Die Verwendung von Silber, Kupfer und Gold sowie die Farben „rouges rubis, cinabre ou aniline“ erzeugen eine Aura von Kostbarkeit und Intensität, die dem menschlichen Leid und der physischen Realität eine transzendente Bedeutung verleiht. Der Verweis auf das Verbrennen von Negativen, um die Motive glühend wie aus der Hölle („incandescents comme de l’enfer“) hervorzubringen, deutet auf einen Akt der Zerstörung und Wiedergeburt hin, der eng mit Assyas Konfrontation mit ihrer eigenen Sterblichkeit verbunden ist – es wird später enthüllt, dass sie an Brustkrebs leidet. Ihre Brüste, physisch von der Krankheit betroffen, werden durch die Kunst zu einem Symbol des Überlebens und der unerbittlichen Vitalität: „Les seins d’Assya brûlaient et vivaient.“ Dies ist ein verzweifelter Versuch, das Unfassbare – die Krankheit, die Gewalt, den Tod – zu bannen, indem es in eine überwältigende, widerständige Form gebracht wird. Es zeigt die Kunst als einen letzten Akt des Trotzes und der Selbstbehauptung inmitten der Brutalität des Lebens.

Camille de Villeneuves Lis Lénine ! entfaltet eine radikale Umkehrung des klassischen Reisemotivs: Die Reise der Protagonistin Assya führt nicht in die Befreiung oder Selbstfindung, sondern tief hinein in die zerstörerische Logik politischer Ideologien und historischer Gewalt. Assya, selbst feministische Aktivistin und Künstlerin, kehrt nach ihrer Flucht aus Paris in die Ukraine zurück, nicht aus Hoffnung, sondern aus einem Zwang zur Konfrontation mit der Vergangenheit und mit einer politischen Realität, die alle Freiheitsversprechen verhöhnt. Ihre Reise ist von Anfang an von Krankheit, Gewalt und Todesahnung überschattet. Wo Désérables Reisender Freiheit in Bewegung sucht, wird Bewegung hier zur fatalen Rückkehr in den Ort des Traumas. Freiheit wird zur bloßen Fiktion, weil jede Handlung Assyas – ob künstlerisch, politisch oder persönlich – von den zerstörerischen Kräften des Krieges, der Folter und der politischen Manipulation überlagert und vereinnahmt wird.

Gemeinsam ist beiden Texten der Wille, über das Reisen hinauszugehen: Sie machen das Erzählen selbst zum Gegenstand literarischer Selbstbefragung. Doch während Désérable im Schreiben das Leben feiert, zeigt Villeneuve das Schreiben als letzten verzweifelten Versuch, das Unfassbare zu bannen. Beide Bücher sind für die Leser von Interesse, weil sie exemplarisch vorführen, wie Literatur zugleich politisches Zeugnis und poetische Konstruktion sein kann: das eine als melancholische Elegie der Freiheit, das andere als brutale Tragödie des Widerstands.


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