Patrice Jean, Kafka au candy-shop: la littérature face au militantisme, Editions Léo Scheer, 2024.
Literatur am Scheideweg: eine nötige Debatte
Tout livre, tout texte vivant doit être une déclaration de guerre. (Patrice Jean)
Patrice Jeans Kafka au Candy-shop zeichnet das Bild einer Literatur, die sich unter dem süßlichen Druck politischer Moral zum gefügigen Konsumgut wandelt, während zugleich – wie bei Kafka – das Rätselhafte, die Erfahrung des Unverfügbaren, in ihr erstickt werden soll; der Titel selbst bringt diese absurde Kollision in ein Bild: Kafka, Inbegriff der existenziellen Düsternis und ästhetischen Radikalität, steht plötzlich zwischen Bonbonregalen, umgeben von wohlfeilen Empörungswaren, und soll dort seine surreale Verzweiflung in ein gefälliges Produkt verwandeln; genau in dieser grotesken Verschiebung verortet Jean die Krise der Gegenwartsliteratur, die das Dunkle, Ambivalente und Ungefügige zugunsten sofort verständlicher Haltungszuckerwaren aus dem Regal räumt – und damit die Literatur ihrer gefährlichen Kraft beraubt, dem Leser nicht Bestätigung, sondern Bewusstsein zu geben.
Wenn die Ausschreibung des kommenden Frankoromanistikkongresses das Leitmotiv res:sources entfaltet, markiert sie damit jenen Punkt, den Jean zur Problemzone erklärt: die Literatur als Rohstoff, als verwertbares Gut. Die Frage, die sich aus seiner Perspektive sofort stellt, lautet in höflicher, aber unmissverständlicher Zuspitzung: Wie soll die Literatur frei bleiben, wenn sie von vornherein als Ressource gedacht wird, als Mittel für gesellschaftliche Zielbestimmungen? Jean hätte in diesem Kontext nachgefragt, ob die dort beschworene „Quelle des Wissens“ nicht Gefahr läuft, alles Literarische auf seinen Informationsgehalt zu reduzieren, auf das, was messbar und vermittelbar ist, während das, was sich entzieht – Ambivalenz, Stil, existentielle Unschärfe – unbeachtet bleibt.
Die Leitfrage nach „Narrativen der Nachhaltigkeit“ berührt bei Jean eine tiefe Skepsis: Wie kann man verhindern, dass sich hinter dieser Erzählung eine neue Moraltheologie verbirgt, die Literatur als Werkzeug der Bewusstseinsproduktion vereinnahmt? Darf der Roman noch verletzen, zweifeln, scheitern, wenn sein Wert sich daran bemisst, ob er Verantwortung übernimmt und Lösungen anbietet? Jean würde hier wohl die feine, aber entscheidende Differenz anmahnen zwischen einer Literatur, die politisch denkbar macht, und einer Literatur, die politisch vorschreibt.
Die Ausschreibung spricht von Zugängen, Verteilungen, Kontrollmechanismen – Kategorien, die Jean notwendig machen würden, darauf hinzuweisen, dass gerade das Ungeregelte, das Unkontrollierbare zum Wesenskern der Kunst gehört. Welche Räume werden für jene Werke geöffnet, die sich durch ihre Nutzlosigkeit auszeichnen, durch ihren Eigensinn, ihre Weigerung, eine Ressource zu sein? Wer schützt die literarische Freiheit, wenn Wissenschaft und Politik sich einig sind, Literatur möge zur „Transformation“ beitragen?