Die andere Seite, ohne Ressentiment: Paul Gasnier

Paul Gasniers „La collision“ (2025, Auswahllisten für den Prix Goncourt und den Prix Roman Fnac) verwandelt eine private Tragödie – den Tod der eigenen Mutter bei einem Straßenrennen in Lyon – in eine literarische Untersuchung, die Autofiktion, Reportage und Essay verbindet. Der Unfall erscheint nicht als isoliertes Unglück, sondern als emblematische Kollision zweier Frankreich: hier die weltoffene, intellektuelle, privilegierte Mutter, dort der jugendliche Täter Saïd, geprägt von Armut, Gruppendruck und der Gewaltkultur der „Pentes“. Gasnier spürt akribisch Gerichtsakten, Zeugenaussagen und Biografien nach und zeigt, wie tief sich gesellschaftliche Bruchlinien in den Stadtraum eingeschrieben haben. Das Buch rückt so die Kollision zweier Lebensentwürfe ins Zentrum – und damit die Frage, wie eine Gesellschaft ihre eigenen Spaltungen hervorbringt. Der Aufsatz hebt hervor, dass Gasnier sich weigert, seine Wut in Ressentiment zu übersetzen oder den Fall populistisch vereinnahmen zu lassen. Statt Schuldzuweisung setzt er auf Verstehen der Hintergründe, lässt Stimmen aus Saïds Umfeld zu Wort kommen und reflektiert zugleich über Medien, Justiz und die Versuchungen politischer Instrumentalisierung. Intertextuelle Bezüge – von Valéry über Despentes bis zu den Yoga-Schriften der Mutter – rahmen eine Haltung, die Trauer nicht in Rache, sondern in Erkenntnis verwandeln will. „La collision“ wird so zur literarischen Geste gegen Vereinfachung und Ressentiment – und zum Versuch, die Gewalt unserer Gegenwart in ihrer Komplexität zu sehen.

➙ Zum Artikel
rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.