Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

Blog | Index der Autoren

Rubriken
(
Les rubriques en français1 ):

Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart

Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.

Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.

Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.

Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.

Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.

Judéité | Französisch-jüdische Literatur ist ein imaginäres Territorium, in dem Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität neu verhandelt werden, etwa genealogische Spurensuche und Fragen kultureller/sprachlicher Identität, politische und historische Fragen.

Recht schaffen | Literatur ist hier ein Instrument, mit dem Recht und Gerechtigkeit nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch verhandelt und hinterfragt werden.

Dialoge | Texte der Gegenwart, die einen Dialog mit Werken der Literaturgeschichte führen, intertextuell, mal kritisch aktualisierend, mal als Hommage oder Transformation.


Neue Artikel und Besprechungen

Okzitanische Transgression: Alain Guiraudie

Die vier Romane des Filmemachers und Schriftstellers Alain Guiraudie bilden eine zusammenhängende Saga, in der sich die Logik des Roman-Flux entfaltet: „Ici commence la nuit“ (2014) eröffnet das Universum mit einem düsteren Dreieck aus Gewalt, Begehren und okzitanisch grundierter Außenseiterexistenz; „Rabalaïre“ (2021) radikalisiert dies zu einer tausendseitigen, delirierenden Odyssee, die den ländlichen Süden Frankreichs in ein zugleich realistisches und mythisches Terrain verwandelt, in dem sexuelle, kriminelle und fantastische Energien ineinanderströmen; „Pour les siècles des siècles“ (2024) verschiebt das Projekt ins Metaphysische, indem die Fusion von Jacques und dem Priester Jean-Marie zu einer theologischen, erotischen und philosophischen Reflexion über Identität, Körper und Koexistenz wird; „Persona non grata“ (2025) schließlich zeigt die Konsequenzen dieser Fusion auf institutioneller Ebene und vertieft das Motiv der Ausgrenzung, während es den paranoid-politischen Resonanzraum der Reihe erweitert. Als Werkganzes bilden die Bände einen immer weiter mäandrierenden Fluss, in dem Genregrenzen, moralische Kategorien und ontologische Fixpunkte systematisch aufgelöst werden. – Die Rezension argumentiert, dass Guiraudies Werk aus dem Prinzip der radikalen Entgrenzung heraus zu deuten ist: Die poétique du flux wirkt als ästhetischer, politischer und anthropologischer Schlüssel, der die Verschmelzung von Oralität, okzitanischer Sprachsubversion, sexueller Transgression und philosophischer Spekulation glaubwürdig macht. Ihre Argumentation setzt auf die konsequente Rückbindung der erzählerischen Exzesse an ein strukturelles Programm – die Aufhebung von Identität als stabiler Kategorie, die erzählerische Durchlässigkeit zwischen Realem und Fantastischem sowie die Verbindung von ländlichem Terroir und utopischer Sehnsucht. Durch diese Perspektive erscheinen selbst die extremsten Motive nicht als Provokationen um ihrer selbst willen, sondern als Bausteine einer literarischen Utopie, die das Begehren als verbindende, politisch wirksame Kraft begreift. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Zusammenhang von Trobadors und Sade fassen: Guiraudie aktualisiert die mittelalterliche Dichtung des Begehrens, die bei den Trobadors als kultivierte, oft unerfüllte und zugleich transzendierende Kraft erscheint, und verschränkt sie mit de Sades Erforschung der Körpergrenzen, der Ambivalenz von Lust und Grausamkeit und der radikalen Freiheit jenseits moralischer Kodifikationen.

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Schönheit durch Bedrohung: Camille Goudeau

Camille Goudeaus „Crache le soleil“ entwirft ein Paris am Rand des Zusammenbruchs: eine Stadt aus Kälte, Wut und erstarrter Infrastruktur, in der Menschenmassen zu drängenden Körpern werden und das Individuum in Angst, Atemlosigkeit und Fluchtimpulsen zerrieben wird. Éléonore, aus einer gewaltsamen Beziehung geflohen, versucht in diesem urbanen Chaos ein neues Gleichgewicht zu finden. Félix bewegt sich zugleich durch dieselbe Stadt wie durch ein deformiertes Farblabyrinth, tastend, verletzlich, aber empfänglich für jedes Leuchten. Das Street-Art-Porträt von Éléonore, geschaffen von der jungen Künstlerin Vérité, wird zum zentralen Signum dieser Welt: ein flüchtiges Bild, das im brüchigen Stadtraum aufscheint, überschrieben wird, wiederkehrt – und die Möglichkeit eröffnet, inmitten der Erschöpfung ein anderes Selbst sichtbar zu machen. So formt der Roman eine Anti-Dystopie, die nicht mit totalitären Schreckensbildern arbeitet, sondern mit den Mikroverletzungen des Alltags, den psychischen Erschütterungen und der ästhetischen Durchlässigkeit einer Stadt im Zustand schleichender Desintegration. – Die Rezension betont diese doppelte Bewegung: einerseits die zeichnerische Härte, mit der der Roman den urbanen Druck sichtbar macht, andererseits das poetische Aufleuchten, das den Figuren einen Raum der Reorientierung schenkt. Sie hebt die körpernahe Sprache hervor, die Kälte, Erschöpfung und innere Zersetzung unmittelbar erfahrbar macht, und unterstreicht die Bedeutung der Licht- und Farbsymbolik, die Éléonore, Félix und Vérité miteinander verbindet. Die soziale Dimension der Street-Art-Motivik erweist Sichtbarkeit als Machtressource, die im übermalten, verwischten, wiedererscheinenden Porträt verhandelt wird. Schließlich zeigt die Besprechung, wie der Roman ästhetische Intensität in eine fragile Hoffnung verwandelt: Die Begegnung der beiden beschädigten Existenzen am Ende wirkt nicht wie ein Happy End, sondern wie ein Aufglimmen von Möglichkeit – ein kurzer Moment, in dem eine erfrorene Welt Wärme freisetzt.

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Tiefenstrukturen des Antiliberalismus: die alternative Moderne der französischen Rechten

Baptiste Roger-Lacans Sammelband „Nouvelle histoire de l’extrême droite (France, 1780–2025)“ erzählt die Geschichte der französischen extremen Rechten als langlebige kulturelle Formation, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder an Modernisierungsschüben, republikanischen Selbstbildern und gesellschaftlichen Konflikten reibt. Anstatt einzelne Organisationen oder Epochen isoliert zu betrachten, entwirft das Buch ein Panorama ideologischer Tiefenstrukturen – Antiliberalismus, ethnokulturelle Nationsvorstellungen, ästhetisierte Politik –, die sich über zweieinhalb Jahrhunderte hinweg erneuern, ohne zu verschwinden. Die extreme Rechte erscheint so nicht als Randphänomen, sondern als produktive Gegenbewegung zur französischen Moderne, die deren Versprechen und Brüche widerspiegelt. Die Rezension würdigt diesen Ansatz als präzise genealogische Arbeit, die zeigt, wie rechte Ideologeme sich an veränderte Medien, Akteure und politische Situationen anpassen und daraus ihre historische Beständigkeit beziehen. Zugleich deutet der Band die Gegenwart nicht als Ausnahmezustand, sondern als Kulminationspunkt eines langen Transformationsprozesses: Durch metapolitische Strategien, kulturelle Verschiebungen und digitale Beschleunigung ist die extreme Rechte zu einem dauerhaft anschlussfähigen Akteur geworden. Ihre Normalisierung erklärt sich aus langfristigen Kontinuitäten, in denen alte Diskurse – Bedrohungsnarrative, Identitätspolitik, Krisensensibilitäten – in neuen Formen wiederkehren. Damit zeigt das Buch, dass die politische Stärke der extremen Rechten im Frankreich des 21. Jahrhunderts nur vor dem Hintergrund einer longue durée verständlich wird, in der kulturelle Unruhe, Modernitätskritik und nationale Imaginationen fortwährend neu konfiguriert werden.

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Moralistik und Misstrauensgemeinschaft: Lise Charles, François de La Rochefoucauld und Aladin El-Mafaalani

Der Artikel liest Lise Charles’ Roman „Paranoïa“ (P.O.L., 2025) einerseits durch die moralistische Optik La Rochefoucaulds (der im Roman als Prince Marsillac erscheint), andererseits mit El-Mafaalanis soziologischer Diagnose moderner „Misstrauensgemeinschaften“ (Kiepenheuer & Witsch, 2025). Auf dieser Achse erscheint Charles’ Werk als literarisches Labor der Post-Wahrheit, in dem die siebzehnjährige Louise Milton exemplarisch jene „zu schwere Selbstwahrnehmung“ verkörpert, die sowohl moralistisch-demaskierend als auch soziologisch-systemisch beschrieben werden kann. Hier wird Louises Paranoia nicht als pathologische Einzelstörung gelesen, sondern als strukturelle Erfahrung einer von medialen Rückkopplungen deformierten Moderne begriffen: Ihre permanente Überwachungsangst, die Enteignung ihres Ichs durch Mutter, Medien und sogar Autorin sowie die Zersetzung ihrer Identität im zweiteiligen System des Romans werden als literarische Verdichtung eines gesellschaftlichen Grundmodus gelesen. Die romanimmanente Metafiktionalität – Louise als „Romanheldin, verfolgt von einem Autor, der ihr Böses will“ – wird dabei zum stärksten Bild für eine Gegenwart, in der sich Kontrollverlust, Selbstverlust und Wirklichkeitsverlust überschneiden. Gleichzeitig zeigt der Artikel, wie Charles die Moralistik des 17. Jahrhunderts in das Herz ihrer Paranoia-Poetik transponiert. Der Prince de Marsillac fungiert als literarischer Wiedergänger La Rochefoucaulds und strukturiert die zweite Romanhälfte als hermeneutisches Regime des Argwohns. Seine Lehre vom amour-propre liefert Louise ein System, das Misstrauen nicht pathologisiert, sondern rationalisiert – und damit an El-Mafaalanis Beschreibung moderner Misstrauensgemeinschaften anschließt: Misstrauen wird zur Funktionsbedingung von Handlungsfähigkeit in einer unübersichtlichen, überkomplexen Welt. Die Besprechung argumentiert, dass Charles in dieser Verbindung von barocker Demaskierung und spätmoderner Vertrauenskrise den Kern einer neuen paranoiden Ästhetik freilegt. „Paranoïa“ steht so nicht nur im Dialog mit der klassischen französischen Moralistik, sondern kann als zeitdiagnostisches Schlüsselwerk gedeutet werden, das die Identitätskrise der Gegenwart – zwischen Überwachung, Performanz und moralischem Dogmatismus – in eine literarische Versuchsanordnung überführt, in der die Grenze zwischen Wahrheit und Täuschung endgültig porös geworden ist.

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Zum Mut wie zur Feigheit: Jérôme Garcin über Literatur in der Zeit der Occupation

Jérôme Garcin legt in „Des mots et des actes: les belles-lettres sous l’Occupation“ (Gallimard, 2024) eine moralisch zugespitzte Analyse der französischen Literaturszene während der deutschen Besatzung vor und zeigt, wie Worte zu Werkzeugen der Unterwerfung oder des Widerstands werden konnten. In pointierten Porträts von Kollaborateuren wie Brasillach, Céline, Morand oder Chardonne sowie Widerstandsfiguren wie Prévost, Decour und Lusseyran demonstriert er, dass literarisches Genie moralische Schuld nicht relativiert, sondern verschärft. Leitend ist die von ihm entwickelte „échelle de Prévost“, ein Maßstab, der die Verbindung von ethischer Haltung und schriftstellerischer Praxis bewertet. Garcin zeigt, wie eine kulturelle Elite trotz Massenmord und Repression ein schillerndes Pariser Kulturleben pflegte und wie bis heute ein ästhetischer Kult um kollaborationistische Autoren besteht, während Widerstandsschriftsteller marginalisiert werden. Das Buch ist zugleich historische Abrechnung, moralischer Appell und intellektuelles Selbstporträt eines Lesers, der das „unschuldige Lesen“ aufgibt. Die Rezension hebt die doppelte Bewegung des Werks hervor: die historische Rekonstruktion des literarischen Feldes unter der Besatzung und Garcins selbstkritische Revision seiner eigenen Lektürehaltung. Sie betont, dass Garcin gegen die tradierte Trennung von Werk und Autor anschreibt und die Persistenz einer französischen „ästhetischen Amnesie“ sichtbar macht, die Kollaborateuren Bewunderung und Résistants nur pflichtschuldigen Respekt entgegenbringt. Die Besprechung arbeitet heraus, wie Garcin literarische Porträts mit strukturellen Argumenten (CNE, Generationenkonflikte, soziale Milieus) verbindet und damit eine moralische Re-Kanonisierung anstößt, die Verantwortung als unverzichtbare literaturkritische Kategorie rehabilitiert. Insgesamt liest die Rezension das Buch als dringlichen Beitrag gegen die Verharmlosung des kulturellen Verrats – und als Manifest gegen den fortwirkenden mythischen Glanz, der sich um die „Genies“ des Hasses spannt.

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Neue Phase französischer Erinnerungsliteratur: Matthieu Niango und Benny Malapa

„Le Fardeau“ von Matthieu Niango und „Un nègre qui parle yiddish“ von Benny Malapa (beide 2025) zeichnen zwei Familiengeschichten, in denen das 20. Jahrhundert als genealogische Erschütterung sichtbar wird. Niangos Roman verfolgt die archivgestützte Spurensuche eines Sohnes, der die Lebensborn-Herkunft seiner Mutter und das paradoxe Erbe aus jüdischer Opferlinie und NS-Täterlinie freilegt. Malapas epochenumspannendes Familienepos erzählt die Liebes- und Überlebensgeschichte eines kamerunisch-deutschen Mannes und einer polnisch-jüdischen Frau als Widerlegung jedes ethnischen Reinheitsmythos. Beide Bücher zeigen, wie Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus ineinandergreifen und wie Hybridität zur Gegenfigur totalitärer Ideologien wird. In unterschiedlicher Ästhetik – dokumentarisch-analytisch bei Niango, mündlich-episch bei Malapa – demonstrieren sie, dass Identität ein offener Prozess der Erinnerung ist: ein Geflecht aus Brüchen, Weitergabe und Verantwortung. – Die Rezension argumentiert, dass beide Romane eine neue Phase der französischen Erinnerungsliteratur markieren, in der nationale Geschichte nicht mehr über große kollektive Narrative, sondern über intime Familienarchive, Minderheitenbiografien und transgenerationale Traumata erschlossen wird. Sie liest die beiden Werke als Gegenentwürfe zu identitären, ethnonationalen Deutungen von „französischer“ Herkunft. Niango und Malapa legen genealogische Assemblagen frei, die die Gewaltgeschichte Europas relational denken. Die Romanformen modellieren zwei Ethiken des Erinnerns: Verantwortung durch Analyse (Niango) und Verantwortung durch Weitergabe (Malapa).

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Licht, Klang, Schweigen – Philippe Jaccottet zum 100. Geburtstag

De sorte que chaque mot tracé ici sur la page serait comme une de ces brindilles dont Char lui-même avait rêvé de se bâtir un rempart.
Tracer encore des lignes comme on jetterait des filins à la surface d’une étendue d’eau, mare infime ou mer à perte de vue,
afin qu’ils supportent une espèce de filet qui nous éviterait la noyade.
“Poèmes de sauvetage”… Paroles, n’importe lesquelles même peut-être, pour différer l’effondrement.
(La Clarté Notre-Dame, II)

So wäre also jedes hier auf die Seite gesetzte Wort wie eines jener Reiser, aus denen Char einst träumte, sich ein Schutzwehr zu errichten.
Noch einmal Linien ziehen, wie man Taue über spiegelndes Wasser spannt, ob kleiner Weiher oder grenzenloses Meer,
damit sie eine Art Netz tragen, das uns bewahren könnte vor dem Ertrinken.
„Rettungsgedichte“ … Worte, irgendwelche vielleicht, um noch Verfallen zu verzögern

Der Nachklang des Gesangs

Liest man Philippe Jaccottets Le dernier livre de Madrigaux und La Clarté Notre-Dame gemeinsam, betritt man die äußerste Schwelle eines dichterischen Lebens, das stets auf der Suche nach der „clarté“ war, nach jenem Durchscheinen des Weltlichen, das der Schweizer Dichter als den einzigen legitimen Ort einer Transzendenz ohne Dogma verstand. Beide Sammlungen, obwohl durch Jahrzehnte getrennt in ihrer Entstehung, bilden in der Edition (mit Anmerkungen des Dichters von 2020) von 2021 (dem Todesjahr des vor hundert Jahren geborenen Künstlers) eine kompositorische Einheit: Das lyrische Nachleuchten des einen Buchs öffnet sich in die meditative Prosa des anderen, und beide zusammen bilden eine letzte Variation des großen Themas Jaccottets – der unsicheren Helligkeit, die Sprache nur suchend, fast widerwillig, zu bezeugen vermag.

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Neue Proben

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Reserve: wieder aufgeblättert

Versöhnung ist mitten im Streit: Christine de Mazières

Christine de Mazières’ „Trois jours à Berlin“ (Wespieser, 2019, ich fand etwas ungläubig keine deutsche Übersetzung) verwandelt den 9. November 1989 in ein poetisches Mosaik aus Stimmen, Erinnerungen und Blicken. Eine Französin, Anna, reist in die geteilte Stadt, um den Mann wiederzufinden, dem sie einst begegnete – Micha, Sohn eines ostdeutschen Funktionärs. Zwischen Stasi-Protokollen, inneren Monologen und der überirdischen Perspektive des Engels Cassiel entfaltet der Roman eine polyphone Erzählung der Geschichte als ‘Faltung’: Berlin wird zur vibrierenden Metapher Europas, zur „plaine immense“ voller Ruinen, Sprachen und Sehnsüchte. Der Fall der Mauer erscheint nicht als heroischer Moment, sondern als zarter Augenblick der Durchlässigkeit, in dem Schweigen, Missverständnis und Poesie die Macht der Ideologien unterwandern. „Trois jours à Berlin“ ist als poetische Reflexion eines französischen Blicks auf Deutschland zu interpretieren – als Werk, das die Teilung nicht nur politisch, sondern existentiell erfahrbar macht. De Mazières’ wechselnde Erzählformen, ihr Spiel zwischen lyrischer Innenschau und bürokratischer Kälte, lassen das Ereignis selbst zur Sprache werden: die Versöhnung als ästhetische Bewegung, nicht als historischer Abschluss. In der Spannung zwischen Anna und Micha, zwischen dem Engel Cassiel und den Menschen, findet sich das Bild eines Europas, das seine „part manquante“ sucht – eine verlorene Zärtlichkeit, die sich im Moment der Öffnung wiederfindet.

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Nackte Realität: zur Neuausgabe des frühen Claude Simon

Claude Simons Roman „La corde raide“ (1947) ist ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Reflexionen, die vom Bad im Meer mit der jungen Véra über Kindheitserinnerungen und Kriegserlebnisse bis hin zu kunsttheoretischen Betrachtungen reichen. Das „straff gespannte Seil“ im Titel steht für eine heikle Balance zwischen Vitalität und Todesbewusstsein, zwischen chaotischer Lebenserfahrung und deren künstlerischer Formung. Die 2025 von den Éditions de Minuit in einem Band mit „Le tricheur“ (1945) neu herausgegebenen Frühwerke des Autors, präsentiert von Mireille Calle-Gruber, waren lange vergriffen, da Simon ihre Wiederauflage zu Lebzeiten nicht wünschte. Calle-Gruber deutet die Texte als poetologisches Laboratorium, in dem bereits Montage, Fragmentierung, Simultaneität der Zeiten und Vorrang der Sinneswahrnehmung vor Handlung erkennbar sind – Techniken, die sein späteres Werk prägen. Die Neuauflage schließt eine Lücke in der Werkgeschichte, indem sie diesen Moment der literarischen Entwicklung wieder zugänglich macht (beide Texte fehlen in der Pléiade-Ausgabe). – Der Artikel interpretiert „La corde raide“ als nicht-lineare Erzählung, als assoziatives Netz von Szenen und Leitmotiven, die durch semantische Felder wie Wasser, Licht, Vegetation, Körper und Bewegung verknüpft sind. Kriegserfahrungen werden nicht heroisch, sondern als chaotische, körperlich-sensorische Realität geschildert; Kindheitsszenen dienen als Ursprungsschicht der Wahrnehmung und Kontrastfolie zur existenziellen Gegenwart. Das Spannungsverhältnis von Schein und Realität ist zentral: Simon kritisiert „Fälschung“ in Kunst und Gesellschaft und sucht eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, wobei Cézanne als positives Gegenmodell zur akademischen Malerei gilt. Architektur, Farb- und Lichtgestaltung werden wie in der Malerei eingesetzt, um Erinnerung und Wahrnehmung zu strukturieren. Insgesamt wird „La corde raide“ als frühe, aber bereits konsequente Erprobung einer Poetik verstanden, die Wahrnehmung, Erinnerung und Form auf einem „Drahtseil“ zwischen Chaos und Struktur balanciert.

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Choreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.

Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.

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Walzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl

Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.

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Anmerkungen
  1. Les rubriques en français

    Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;

    Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;

    Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;

    Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.

    Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.

    Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.

    Judéité | La littérature juive française est un territoire imaginaire où l’appartenance, la mémoire et l’identité sont renégociées, à travers notamment la recherche de traces généalogiques et des questions d’identité culturelle/linguistique, politiques et historiques.

    Rendre justice | La littérature est ici un instrument qui permet non seulement d’aborder les thèmes du droit et de la justice, mais aussi de les traiter et de les remettre en question sur le plan esthétique.

    Dialogues | Des textes contemporains qui dialoguent avec des œuvres de l’histoire littéraire, de manière intertextuelle, tantôt dans une actualisation critique, tantôt sous forme d’hommage ou de transformation.>>>

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