Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

Rubriken
(Les rubriques en français1 ):
Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart
Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.
Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.
Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.
Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.
Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.
Judéité | Französisch-jüdische Literatur ist ein imaginäres Territorium, in dem Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität neu verhandelt werden, etwa genealogische Spurensuche und Fragen kultureller/sprachlicher Identität, politische und historische Fragen.
Recht schaffen | Literatur ist hier ein Instrument, mit dem Recht und Gerechtigkeit nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch verhandelt und hinterfragt werden.
Dialoge | Texte der Gegenwart, die einen Dialog mit Werken der Literaturgeschichte führen, intertextuell, mal kritisch aktualisierend, mal als Hommage oder Transformation.
Inhalt
- Neue Artikel und Besprechungen
- Neue Phase französischer Erinnerungsliteratur: Matthieu Niango und Benny Malapa
- Licht, Klang, Schweigen – Philippe Jaccottet zum 100. Geburtstag
- Der Nachklang des Gesangs
- Boualem Sansal begnadigt und freigelassen
- Poetik des Erzitterns: Maria Pourchet
- Terrorismusfiktionen
- Narrative Verarbeitung der Terroranschläge von 2015
- Guillaume Dustans Abdriften und Christophe Beaux’ literarische Befreiung
- Künstlerroman und tiefes Selbst: Patrice Jean
- Neue Proben
- Reserve: wieder aufgeblättert
Neue Artikel und Besprechungen
Neue Phase französischer Erinnerungsliteratur: Matthieu Niango und Benny Malapa
„Le Fardeau“ von Matthieu Niango und „Un nègre qui parle yiddish“ von Benny Malapa (beide 2025) zeichnen zwei Familiengeschichten, in denen das 20. Jahrhundert als genealogische Erschütterung sichtbar wird. Niangos Roman verfolgt die archivgestützte Spurensuche eines Sohnes, der die Lebensborn-Herkunft seiner Mutter und das paradoxe Erbe aus jüdischer Opferlinie und NS-Täterlinie freilegt. Malapas epochenumspannendes Familienepos erzählt die Liebes- und Überlebensgeschichte eines kamerunisch-deutschen Mannes und einer polnisch-jüdischen Frau als Widerlegung jedes ethnischen Reinheitsmythos. Beide Bücher zeigen, wie Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus ineinandergreifen und wie Hybridität zur Gegenfigur totalitärer Ideologien wird. In unterschiedlicher Ästhetik – dokumentarisch-analytisch bei Niango, mündlich-episch bei Malapa – demonstrieren sie, dass Identität ein offener Prozess der Erinnerung ist: ein Geflecht aus Brüchen, Weitergabe und Verantwortung. – Die Rezension argumentiert, dass beide Romane eine neue Phase der französischen Erinnerungsliteratur markieren, in der nationale Geschichte nicht mehr über große kollektive Narrative, sondern über intime Familienarchive, Minderheitenbiografien und transgenerationale Traumata erschlossen wird. Sie liest die beiden Werke als Gegenentwürfe zu identitären, ethnonationalen Deutungen von „französischer“ Herkunft. Niango und Malapa legen genealogische Assemblagen frei, die die Gewaltgeschichte Europas relational denken. Die Romanformen modellieren zwei Ethiken des Erinnerns: Verantwortung durch Analyse (Niango) und Verantwortung durch Weitergabe (Malapa).
➙ Zum ArtikelLicht, Klang, Schweigen – Philippe Jaccottet zum 100. Geburtstag
De sorte que chaque mot tracé ici sur la page serait comme une de ces brindilles dont Char lui-même avait rêvé de se bâtir un rempart.
Tracer encore des lignes comme on jetterait des filins à la surface d’une étendue d’eau, mare infime ou mer à perte de vue,
afin qu’ils supportent une espèce de filet qui nous éviterait la noyade.
“Poèmes de sauvetage”… Paroles, n’importe lesquelles même peut-être, pour différer l’effondrement.
(La Clarté Notre-Dame, II)So wäre also jedes hier auf die Seite gesetzte Wort wie eines jener Reiser, aus denen Char einst träumte, sich ein Schutzwehr zu errichten.
Noch einmal Linien ziehen, wie man Taue über spiegelndes Wasser spannt, ob kleiner Weiher oder grenzenloses Meer,
damit sie eine Art Netz tragen, das uns bewahren könnte vor dem Ertrinken.
„Rettungsgedichte“ … Worte, irgendwelche vielleicht, um noch Verfallen zu verzögern
Der Nachklang des Gesangs
Liest man Philippe Jaccottets Le dernier livre de Madrigaux und La Clarté Notre-Dame gemeinsam, betritt man die äußerste Schwelle eines dichterischen Lebens, das stets auf der Suche nach der „clarté“ war, nach jenem Durchscheinen des Weltlichen, das der Schweizer Dichter als den einzigen legitimen Ort einer Transzendenz ohne Dogma verstand. Beide Sammlungen, obwohl durch Jahrzehnte getrennt in ihrer Entstehung, bilden in der Edition (mit Anmerkungen des Dichters von 2020) von 2021 (dem Todesjahr des vor hundert Jahren geborenen Künstlers) eine kompositorische Einheit: Das lyrische Nachleuchten des einen Buchs öffnet sich in die meditative Prosa des anderen, und beide zusammen bilden eine letzte Variation des großen Themas Jaccottets – der unsicheren Helligkeit, die Sprache nur suchend, fast widerwillig, zu bezeugen vermag.
Boualem Sansal begnadigt und freigelassen
Der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune hat Boualem Sansal begnadigt (vgl. die vorangegangenen Artikel zu Sansal auf diesem Blog). Die Begnadigung erfolgte auf eine ausdrückliche Bitte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hin, der sich persönlich für den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels (2011) eingesetzt hatte.
Sansal ist 81 Jahre alt und leidet an Prostatakrebs. Steinmeier hatte in seiner Bitte den „fragilen Gesundheitszustand“ Sansals betont. Nach seiner Begnadigung traf Boualem Sansal am Abend des 12. November 2025 in Deutschland ein und befindet sich auf dem Weg zur medizinischen Versorgung in einem Krankenhaus. Die Freilassung wird international, insbesondere in Deutschland und Frankreich, als wichtige humanitäre Geste und Erfolg diplomatischer Bemühungen gewertet, nachdem frühere Bitten aus Frankreich abgelehnt worden waren.
Eine Analyse der medialen Narrative zeigt jedoch eine deutliche Spaltung zwischen einer primär humanitären Perspektive und einer geopolitischen Interpretation des Ereignisses.
Poetik des Erzitterns: Maria Pourchet
Maria Pourchets „Tressaillir“ (2025) entfaltet das „Erzittern“ als poetischen Erkenntnismodus – ein vibrierendes Zusammenspiel von Körper, Sprache und Umwelt. Im Zentrum steht Michelle Darras, Kinderbuchautorin und Mutter, die nach dem Ende ihrer Beziehung zu Sirius in die Schwebe gerät. Der Roman beginnt im Mikrokosmos des Banalen – mit dem Gießen von Pflanzen auf einem Pariser Balkon – und dehnt sich zu einer kartographischen Bewegung der Angst aus: über den Körper, die Sprache und das Wetter. Michelles Haut, die sich entzündet und schält, wird zur sprechenden Membran zwischen Innen und Außen, zur Oberfläche der Erinnerung. Wasser, Erde, Wind und Haut bilden das Vokabular einer organischen Poetik, in der die Angst selbst Erkenntnis wird. Das Trauma eines Sturms in der Kindheit und das nationale Trauma um den Fall „Grégory“ durchziehen den Text als mythologische Tiefenschicht. In der Konfrontation mit diesen Urängsten, mit der Mutterrolle, der Krankheit und der unauflöslichen Spannung zwischen Fürsorge und Zerstörung findet Michelle schließlich zu einer Form des Wissens, die nicht rational, sondern sensibel ist. Die Rezension liest „Tressaillir“ als ein vibrierendes Organ aus Sprache – ein Text, der selbst bebt. Sie betont Pourchets Poetik der Porosität, in der Körper und Text, Krankheit und Erkenntnis, Wetter und Gefühl ineinander übergehen. Besonders hervorgehoben wird die Fähigkeit der Autorin, analytische Präzision und eruptive Emotionalität zu verschränken: Das Messbare (Wasser, Temperatur, Haut) trifft auf das Unkontrollierbare (Angst, Begehren, Erinnerung). Die Kritik erkennt im Namen des männlichen Partners, „Sirius“, das Gegenprinzip zum Erzittern – Licht ohne Wärme, Kontrolle statt Resonanz – und deutet die Trennung Michelles als kosmologische Befreiung aus einer starren Umlaufbahn. Stilistisch würdigt sie Pourchets parataktische, atmende Syntax als Spiegel des physischen Zitterns und die Körpermetaphorik als ethische Aussage: Verletzlichkeit ist Erkenntnisform. So versteht die Rezension den Roman nicht als psychologische Fallstudie, sondern als literarisches Experiment über das Lebendige selbst.
➙ Zum ArtikelTerrorismusfiktionen
Themenheft „Récits et fictions du terrorisme“, Revue des sciences humaines 359 (2025).
Narrative Verarbeitung der Terroranschläge von 2015
Das vorliegende Themenheft der Revue des sciences humaines versammelt Beiträge, die aus einem Kolloquium vom 15. bis 17. November 2023 in Paris hervorgegangen sind. Die zentrale Fragestellung ist, wie die französische Gesellschaft die Terroranschläge von 2015 durch Erzählungen – seien es Zeugnisse oder fiktive Werke – verarbeitet. Das Heft bietet eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den narrativen, ethischen und psychologischen Herausforderungen, die der Terrorismus für die Literatur und die Gesellschaft darstellt.
Guillaume Dustans Abdriften und Christophe Beaux’ literarische Befreiung
Christophe Beaux’ „Un tombeau pour Dustan“ ist eine autobiografische Liebeserinnerung und zugleich ein literarischer Nachruf auf Guillaume Dustan, der einst William Baranès hieß. Beaux schildert ihre Beziehung im Paris der späten 1980er Jahre, gezeichnet von Faszination, Dominanz und Schuld, vor dem Hintergrund der AIDS-Krise. Aus dem intellektuellen und sexuellen Einfluss Williams auf den jüngeren Christophe entsteht eine ungleiche Beziehung, die zugleich prägte und zerstörte. Nach der Trennung und Williams HIV-Diagnose verwandelt sich dieser in den provokativen Schriftsteller Guillaume Dustan, der mit radikaler Offenheit über Sexualität, Krankheit und gesellschaftliche Doppelmoral schreibt. Das Buch dient Beaux als „Grabmal“ und Exorzismus zugleich: Er versucht, die jahrzehntelange Schuld und Faszination zu bannen, indem er die gemeinsame Vergangenheit mit literarischer Klarheit neu erzählt und sich so symbolisch von dem Geliebten befreit, der sein Leben beherrschte. – Die Rezension deutet Beaux’ Text als doppelte Befreiung – biografisch wie literarisch. Sie liest „Un tombeau pour Dustan“ nicht bloß als private Beichte, sondern als dialogischen Gegenentwurf zu Dustans radikalem Werk: Beaux übernimmt dessen Poetik der Wahrhaftigkeit („véracité“), aber verwandelt sie von einer destruktiven zu einer heilenden Kraft. Der Rezensent betont die Spannung zwischen Bewunderung und Abrechnung, zwischen Liebe und Rache, die das Buch strukturiert. Beaux’ Schreiben wird als Akt der Parrhesia – einer mutigen, schonungslosen Rede – gedeutet, der zugleich psychoanalytische und ästhetische Funktion erfüllt. Die Rezension verknüpft das Werk mit den historischen Diskursen über AIDS, Sexualität und gesellschaftliche Rebellion, um es als literarische Antwort auf Dustans Skandalästhetik zu positionieren: Wo Dustan provozierte, reflektiert Beaux; wo jener den Tabubruch suchte, sucht dieser Versöhnung. Das „Tombeau“ erscheint so als Requiem für eine Epoche und als Selbsttherapie eines Überlebenden, der seine Stimme durch das Schreiben wiederfindet.
➙ Zum ArtikelKünstlerroman und tiefes Selbst: Patrice Jean
Der Artikel porträtiert Patrice Jean in seinen Romanen als kompromisslosen Verteidiger der literarischen Autonomie in einer Zeit, in der der Roman von Aktivismus und Ideologie geprägt ist. Im Anschluss an Balzacs „Illusions perdues“, die die „Kapitalisierung des Geistes“ entlarvten, wird gezeigt, wie Jean diese Diagnose auf die Gegenwart überträgt: Heute gefährden Militantismus, moralischer Aktivismus und die Logik der Sichtbarkeit die Freiheit der Literatur. Jeans Romane – von „La France de Bernard“ bis „La vie des spectres“ – stellen Schriftstellerfiguren ins Zentrum, die in Einsamkeit und Skepsis das „tiefe Selbst“ gegen das „soziale Ich“ behaupten. Literatur entsteht dort, wo Konversation und Konformismus enden – als Suche nach der unsichtbaren, inneren Wahrheit des Individuums. Die Argumentation entfaltet sich als kritische Bestandsaufnahme der geistigen Lage der Gegenwart: Patrice Jeans Künstlerromane sind nicht nostalgisch, sondern rebellisch; sie reagieren auf den Verlust des Tragischen und Ambivalenten in der Kunst. Gegen die glättende Moral des „engagierten“ oder „feel-good“-Romans setzt Jean den Roman als Erkenntnisform, die Widersprüche und Dunkelzonen sichtbar macht. Damit führt die Rezension Jean in die Linie Balzacs zurück, verschiebt den Konflikt aber von der ökonomischen zur existenziellen Ebene: Die wahre Krise der Literatur liegt nicht mehr im Markt, sondern in der Verflachung des Selbst. Der Künstlerroman wird so zur Bühne einer inneren Revolte gegen Ideologie und Sentimentalität.
➙ Zum ArtikelAlle Artikel | Alle Besprechungen
Neue Proben
Reserve: wieder aufgeblättert
Versöhnung ist mitten im Streit: Christine de Mazières
Christine de Mazières’ „Trois jours à Berlin“ (Wespieser, 2019, ich fand etwas ungläubig keine deutsche Übersetzung) verwandelt den 9. November 1989 in ein poetisches Mosaik aus Stimmen, Erinnerungen und Blicken. Eine Französin, Anna, reist in die geteilte Stadt, um den Mann wiederzufinden, dem sie einst begegnete – Micha, Sohn eines ostdeutschen Funktionärs. Zwischen Stasi-Protokollen, inneren Monologen und der überirdischen Perspektive des Engels Cassiel entfaltet der Roman eine polyphone Erzählung der Geschichte als ‘Faltung’: Berlin wird zur vibrierenden Metapher Europas, zur „plaine immense“ voller Ruinen, Sprachen und Sehnsüchte. Der Fall der Mauer erscheint nicht als heroischer Moment, sondern als zarter Augenblick der Durchlässigkeit, in dem Schweigen, Missverständnis und Poesie die Macht der Ideologien unterwandern. „Trois jours à Berlin“ ist als poetische Reflexion eines französischen Blicks auf Deutschland zu interpretieren – als Werk, das die Teilung nicht nur politisch, sondern existentiell erfahrbar macht. De Mazières’ wechselnde Erzählformen, ihr Spiel zwischen lyrischer Innenschau und bürokratischer Kälte, lassen das Ereignis selbst zur Sprache werden: die Versöhnung als ästhetische Bewegung, nicht als historischer Abschluss. In der Spannung zwischen Anna und Micha, zwischen dem Engel Cassiel und den Menschen, findet sich das Bild eines Europas, das seine „part manquante“ sucht – eine verlorene Zärtlichkeit, die sich im Moment der Öffnung wiederfindet.
➙ Zum ArtikelNackte Realität: zur Neuausgabe des frühen Claude Simon
Claude Simons Roman „La corde raide“ (1947) ist ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Reflexionen, die vom Bad im Meer mit der jungen Véra über Kindheitserinnerungen und Kriegserlebnisse bis hin zu kunsttheoretischen Betrachtungen reichen. Das „straff gespannte Seil“ im Titel steht für eine heikle Balance zwischen Vitalität und Todesbewusstsein, zwischen chaotischer Lebenserfahrung und deren künstlerischer Formung. Die 2025 von den Éditions de Minuit in einem Band mit „Le tricheur“ (1945) neu herausgegebenen Frühwerke des Autors, präsentiert von Mireille Calle-Gruber, waren lange vergriffen, da Simon ihre Wiederauflage zu Lebzeiten nicht wünschte. Calle-Gruber deutet die Texte als poetologisches Laboratorium, in dem bereits Montage, Fragmentierung, Simultaneität der Zeiten und Vorrang der Sinneswahrnehmung vor Handlung erkennbar sind – Techniken, die sein späteres Werk prägen. Die Neuauflage schließt eine Lücke in der Werkgeschichte, indem sie diesen Moment der literarischen Entwicklung wieder zugänglich macht (beide Texte fehlen in der Pléiade-Ausgabe). – Der Artikel interpretiert „La corde raide“ als nicht-lineare Erzählung, als assoziatives Netz von Szenen und Leitmotiven, die durch semantische Felder wie Wasser, Licht, Vegetation, Körper und Bewegung verknüpft sind. Kriegserfahrungen werden nicht heroisch, sondern als chaotische, körperlich-sensorische Realität geschildert; Kindheitsszenen dienen als Ursprungsschicht der Wahrnehmung und Kontrastfolie zur existenziellen Gegenwart. Das Spannungsverhältnis von Schein und Realität ist zentral: Simon kritisiert „Fälschung“ in Kunst und Gesellschaft und sucht eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, wobei Cézanne als positives Gegenmodell zur akademischen Malerei gilt. Architektur, Farb- und Lichtgestaltung werden wie in der Malerei eingesetzt, um Erinnerung und Wahrnehmung zu strukturieren. Insgesamt wird „La corde raide“ als frühe, aber bereits konsequente Erprobung einer Poetik verstanden, die Wahrnehmung, Erinnerung und Form auf einem „Drahtseil“ zwischen Chaos und Struktur balanciert.
➙ Zum ArtikelChoreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.
Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.
➙ Zum ArtikelWalzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl
Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.
➙ Zum Artikel
- Anmerkungen
- Les rubriques en français
Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;
Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;
Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;
Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.
Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.
Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.
Judéité | La littérature juive française est un territoire imaginaire où l’appartenance, la mémoire et l’identité sont renégociées, à travers notamment la recherche de traces généalogiques et des questions d’identité culturelle/linguistique, politiques et historiques.
Rendre justice | La littérature est ici un instrument qui permet non seulement d’aborder les thèmes du droit et de la justice, mais aussi de les traiter et de les remettre en question sur le plan esthétique.
Dialogues | Des textes contemporains qui dialoguent avec des œuvres de l’histoire littéraire, de manière intertextuelle, tantôt dans une actualisation critique, tantôt sous forme d’hommage ou de transformation.>>>