Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

Rubriken
(Les rubriques en français1 ):
Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart
Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.
Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.
Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.
Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.
Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.
Inhalt
- Neue Artikel und Besprechungen
- Frantz Fanon-Rezeption in der Kunst – eine Lektüre zum 100.
- Das verletzte Recht: Nelly Alard
- Er ist es, der mich hält: Simon Chevrier
- Pierre Bayard korrigiert Alfred Hitchcock
- Frankreichs Topologie der Gewalt. Narrative Modellierungen im extrême contemporain: Markus Alexander Lenz
- Das Übernatürliche als Ausdruck der Zeit im Roman: Anne-Sophie Donnarieix
- Poetiken der Kindheit: Annie Ernaux
- Neue Proben
- Reserve: wieder aufgeblättert
Neue Artikel und Besprechungen
Frantz Fanon-Rezeption in der Kunst – eine Lektüre zum 100.
Wir blicken in Rentrée littéraire auf einige Beispiele künstlerischer Rezeption des Psychiaters, Denkers und Schriftstellers, der am 20. Juli 1925 auf Martinique (das bis heute politisch ein Übersee-Département und eine Region Frankreichs bleibt) geboren wurde.
Das verletzte Recht: Nelly Alard
Nelly Alards Roman „La manif“ (Gallimard, 2025), inspiriert von realen Ereignissen, beleuchtet die verheerenden Auswirkungen staatlicher Gewalt und institutioneller Ungerechtigkeit auf eine Familie. Alards Erzählweise ist dezentral, vielstimmig, von intimer Nähe zu den Figuren geprägt. Es ist eine Poetik der Verlangsamung und des psychologischen Tiefenblicks, die der juristischen wie politischen Verhärtung die Weichheit der Subjektivität entgegensetzt. Die Kapitel springen zwischen Angehörigen, erzeugen eine zersplitterte, aber kohärente Erzählung familiären Schmerzes. Der Roman zeigt, wie politisches Unrecht sich in privaten Biografien einnistet, wie der Körper des Opfers (Romain) zum stummen Archiv einer gesellschaftlichen Verwerfung wird. In dieser Vielstimmigkeit liegt das ethisch-ästhetische Engagement des Textes: Er schreibt sich nicht auf die Seite einer simplen Anklage, sondern erzeugt – durch genaue Recherchen, detailreiche medizinische und juristische Szenen sowie psychologisch glaubwürdige Innenwelten – ein literarisches Verfahren der Wahrheitsproduktion. „La Manif“ ist kein Traktat, sondern ein Verfahren: Literatur als Anhörung, als Untersuchung, als Prozessform, die Gerechtigkeit als offene, noch zu erreichende Größe behandelt. [Ein Beitrag in der Rubrik „Recht schaffen“.]
Er ist es, der mich hält: Simon Chevrier
„Photo sur demande“ (Stock, 2025) von Simon Chevrier ist ein autofiktionaler Roman, der das Leben eines jungen Mannes über ein Jahr hinweg beleuchtet. Der Roman wurde mit dem Prix Goncourt du Premier Roman 2025 ausgezeichnet, war auch Finalist für andere Preise. Das Buch zeichnet die prekäre Lebenswelt eines jungen Mannes nach, der zwischen abgebrochenen Studien, Escort-Diensten und einer belastenden familiären Situation taumelt. Diese Existenz mündet in eine tiefe persönliche Krise, ausgelöst durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf und Tod seines Vaters während der COVID-Pandemie, was eine intensive Sinnsuche und eine fast obsessive Auseinandersetzung mit der „gelöschten“ Geschichte eines Mannes auf einer Fotografie auslöst.
Pierre Bayard korrigiert Alfred Hitchcock
Pierre Bayard bietet in seinem Buch „Hitchcock s’est trompé“ (Editions Minuit, 2023) eine umfassende Neuinterpretation des Films „Fenster zum Hof“ (Originaltitel: „Rear Window“) von Alfred Hitchcock. Die zentrale These Bayards ist, dass Hitchcock sich in seinem Meisterwerk geirrt hat und die allgemein anerkannte Lösung des Verbrechens – dass der Nachbar Lars Thorwald seine Frau ermordet und zerstückelt hat – nicht zutrifft. Stattdessen lenkt der Film die Aufmerksamkeit von einem tatsächlich geschehenen Verbrechen ab, ein weiteres Beispiel für Bayards Bücher der „polizeilichen Kritik“.
Frankreichs Topologie der Gewalt. Narrative Modellierungen im extrême contemporain: Markus Alexander Lenz
Die vorliegende Studie Die verletzte Republik: erzählte Gewalt im Frankreich des 21. Jahrhunderts (Mimesis 101, Berlin: De Gruyter Brill, 2022) widmet sich einer hochaktuellen und gesellschaftlich drängenden Thematik: der Darstellung und Reflexion von Gewalt in der französischen Gegenwartsliteratur. Der Autor, Markus Alexander Lenz, bietet eine tiefgehende Analyse aktueller Erzähltexte, die größtenteils in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts erschienen sind. Die Arbeit ist von besonderer Relevanz, da sie einen komplementären Blick auf das Phänomen der Gewalt in Frankreich eröffnet, der über rein soziologische und historische Ansätze hinausgeht und die einzigartigen Erkenntnismöglichkeiten der Literatur in den Vordergrund rückt. Angesichts der zahlreichen…
Das Übernatürliche als Ausdruck der Zeit im Roman: Anne-Sophie Donnarieix
Anne-Sophie Donnarieix‘ Monographie Puissances de l’ombre: le surnaturel du roman contemporain (Presses universitaires du Septentrion, 2022) bietet eine differenzierte Analyse der Präsenz des Übernatürlichen in der französischen Gegenwartsliteratur. Das Buch verfolgt das ambitionierte Ziel, die vielfältigen Erscheinungsformen und Funktionen des Übernatürlichen in einem literarischen Kontext zu verorten, der einerseits von einer Krise des Rationalismus gezeichnet ist und andererseits Phänomene der Destabilisierung und Dezentrierung logischer Prämissen begünstigt. Das Vorhaben als Ganzes In der Einleitung legt Donnarieix dar, dass das Übernatürliche im zeitgenössischen Roman eine „Singularität der Formen“ aufweist und als „starkes zeitgenössisches Syndrom“ zu verstehen ist, das bisher im Schatten geblieben…
Poetiken der Kindheit: Annie Ernaux
Annie Ernaux‘ Poetik der Kindheit ist eine sich entwickelnde, zentrale Dimension ihres Werks, die persönliche Erinnerung untrennbar mit kollektiven, sozialen und historischen Dimensionen verknüpft. Ihre Kindheit im elterlichen Café-Lebensmittelgeschäft in Yvetot prägte ein tiefes Gefühl des „Dazwischenseins“ und der „Zerrissenheit“ – entstanden durch fehlende Privatsphäre, frühe Konfrontation mit Armut und sozialen Unterschieden, die sich in ihrer Privatschulzeit verstärkten und einen Bruch mit dem Herkunftsmilieu bewirkten. Anstatt eine lineare, traditionelle Erzählung der Kindheit zu präsentieren, zerlegt Ernaux ihre Erinnerungen, analysiert die prägenden Einflüsse von Sprache, sozialer Herkunft, Geschlechterrollen und kulturellen Normen und beleuchtet, wie diese Faktoren ihre Identität als Kind und junge Frau formten. Sie ist bemüht, die „unsagbare Szene“ ihrer Kindheit aufzulösen und sie in die Allgemeinheit von Gesetzen und Sprache einzubetten, oft indem sie sich selbst als „Ethnologin ihrer selbst“ präsentiert. Ihre Kindheitsdarstellungen sind daher keine idealisierten oder nostalgischen Rückblicke, sondern scharfe, oft schmerzhafte Untersuchungen, die die Ambivalenz und die sozialen Spannungen ihrer Herkunft offenlegen.
Alle Artikel | Alle Besprechungen
Neue Proben
Reserve: wieder aufgeblättert
Frantz Fanon-Rezeption in der Kunst – eine Lektüre zum 100.
Wir blicken in Rentrée littéraire auf einige Beispiele künstlerischer Rezeption des Psychiaters, Denkers und Schriftstellers, der am 20. Juli 1925 auf Martinique (das bis heute politisch ein Übersee-Département und eine Region Frankreichs bleibt) geboren wurde.
Poetiken der Kindheit: Annie Ernaux
Annie Ernaux‘ Poetik der Kindheit ist eine sich entwickelnde, zentrale Dimension ihres Werks, die persönliche Erinnerung untrennbar mit kollektiven, sozialen und historischen Dimensionen verknüpft. Ihre Kindheit im elterlichen Café-Lebensmittelgeschäft in Yvetot prägte ein tiefes Gefühl des „Dazwischenseins“ und der „Zerrissenheit“ – entstanden durch fehlende Privatsphäre, frühe Konfrontation mit Armut und sozialen Unterschieden, die sich in ihrer Privatschulzeit verstärkten und einen Bruch mit dem Herkunftsmilieu bewirkten. Anstatt eine lineare, traditionelle Erzählung der Kindheit zu präsentieren, zerlegt Ernaux ihre Erinnerungen, analysiert die prägenden Einflüsse von Sprache, sozialer Herkunft, Geschlechterrollen und kulturellen Normen und beleuchtet, wie diese Faktoren ihre Identität als Kind und junge Frau formten. Sie ist bemüht, die „unsagbare Szene“ ihrer Kindheit aufzulösen und sie in die Allgemeinheit von Gesetzen und Sprache einzubetten, oft indem sie sich selbst als „Ethnologin ihrer selbst“ präsentiert. Ihre Kindheitsdarstellungen sind daher keine idealisierten oder nostalgischen Rückblicke, sondern scharfe, oft schmerzhafte Untersuchungen, die die Ambivalenz und die sozialen Spannungen ihrer Herkunft offenlegen.
Zum Gedächtnis: Pierre Nora (1931–2025)
Am 2. Juni 2025 ist der bedeutende französische Historiker Pierre Nora im Alter von 93 Jahren in Paris gestorben. Als Herausgeber der monumentalen siebenteiligen Werkreihe „Les Lieux de mémoire“ (1984–1993) prägte er entscheidend das Verständnis der nationalen Erinnerungskultur und trug maßgeblich zur Reflexion über die französische Identität bei. Geboren 1931 in Paris, entkam Pierre Nora als Kind der Verfolgung durch die Gestapo. Diese frühe Erfahrung prägte sein Denken über Geschichte, Gedächtnis und Nation tiefgreifend. In zwei Büchern aus den letzten Jahren legte Nora Memoiren vor, „Jeunesse“ (2022) und „Une étrange obstination“ (2023), um frei über sein Leben als Verleger und Historiker zu berichten und insbesondere seinen Werdegang nachzuzeichnen.
Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère
Emmanuel Carrère beschreibt Jahrzehnte nach der Publikation seines Buchs „Le Détroit de Behring“ (1986, dt. „Kleopatras Nase: kleine Geschichte der Uchronie“, 1993.) in seiner Wiederveröffentlichung von 2025, „Uchronie“, mit eigenem Vorwort, seine Bewegung als eine von der Imagination zur Akzeptanz, vom Spiel zur Verantwortung, vom uchronischen Möglichkeitsüberschuss zur gelebten Realität. Die Uchronie bei Carrère ist nicht nur Gattungsbezeichnung, sondern auch ein poetologischer Kommentar: Der Text selbst ist eine Uchronie, reflektiert aber zugleich, was eine Uchronie leisten kann – und wo ihre Grenzen liegen, etwa in seinen Büchern „La Moustache“ oder „Le Royaume“.
Anmerkungen
- Les rubriques en français
Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;
Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;
Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;
Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.
Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.
Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.>>>