Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

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Rubriken
(
Les rubriques en français1 ):

Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart

Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.

Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.

Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.

Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.

Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.

Judéité | Französisch-jüdische Literatur ist ein imaginäres Territorium, in dem Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität neu verhandelt werden, etwa genealogische Spurensuche und Fragen kultureller/sprachlicher Identität, politische und historische Fragen.

Recht schaffen | Literatur ist hier ein Instrument, mit dem Recht und Gerechtigkeit nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch verhandelt und hinterfragt werden.

Dialoge | Texte der Gegenwart, die einen Dialog mit Werken der Literaturgeschichte führen, intertextuell, mal kritisch aktualisierend, mal als Hommage oder Transformation.


Neue Artikel und Besprechungen

Nürnberger Prozesse ohne Schlussstrich: Alfred de Montesquiou

Der Artikel liest Alfred de Montesquious Roman „Le crépuscule des hommes“ (2025, Prix Renaudot Essai) als Gegenentwurf zu popularisierenden Darstellungen der Nürnberger Prozesse, wie sie etwa James Vanderbilts Film „Nuremberg“ (2025) bietet. Während der Film das Geschehen auf ein psychologisches Duell zwischen Hermann Göring und seinem amerikanischen Psychiater verengt und damit einem personalisierenden „Kino der großen Männer“ folgt, entfaltet Alfred de Montesquiou ein vielstimmiges Panorama. Sein Roman interessiert sich nicht für Urteile oder Täterpsychologie, sondern für die Peripherie des Tribunals: Journalisten, Fotografen, Übersetzer und Beobachter, die Nürnberg als Übergangsraum erfahren. Die Stadt erscheint als semantisch überladener Ort zwischen nationalsozialistischer Selbstinszenierung, juristischer Zäsur und moralischer Ungewissheit. Sprache, Übersetzung und mediale Vermittlung werden dabei als fragile Instrumente sichtbar, die an der Aufgabe, das Ungeheure erzählbar zu machen, notwendig scheitern. Argumentativ verortet die Rezension den Roman im Denkraum von Karl Jaspers und Hannah Arendt. Wie bei Jaspers verschiebt sich der Fokus weg von der rein juristischen Schuld hin zu einer moralischen Selbstprüfung der Beobachter, die sich ihrer eigenen Verstrickung bewusst werden. Arendts Skepsis gegenüber abschließenden Erklärungen spiegelt sich in der konsequenten Verweigerung eines narrativen oder moralischen Abschlusses. Der roman vrai erscheint dabei als epistemische Form, die dort ansetzt, wo Akten und Urteile an ihre Grenzen stoßen. Nürnberg wird nicht als Endpunkt der Geschichte erzählt, sondern als Schwebezustand: als „Menschendämmerung“, in der das Ende der Täter keine moralische Klarheit garantiert. Die Lektüre macht deutlich, dass de Montesquiou Nürnberg nicht abschließt, sondern offenhält – als Raum des Übergangs, in dem Recht, Erinnerung und Erzählen selbst auf dem Prüfstand stehen.

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Mutterverlust als Metamorphose bei Constance Joly und als Dokument bei Annie Ernaux

Der Romanvergleich stellt Constance Jolys Roman „Reverdir“ (Flammarion, 2025) und Annie Ernaux’ „Je ne suis pas sortie de ma nuit“ (Gallimard, 1997) als zwei radikal unterschiedliche literarische Bearbeitungen der Alzheimer-Erkrankung der Mutter gegenüber und entfaltet ihre Argumentation konsequent entlang der Pole Metamorphose versus Dokumentation. Während Jolys Roman den geistigen Verfall der Mutter in eine dichte Metaphorik aus Botanik, Carrolls Alice im Wunderland und zyklischer Zeitstruktur einbettet und die Krankheit als Katalysator einer existentiellen Neuerfindung der Tochter deutet, beschreibt Ernaux in ihrem fragmentarischen Tagebuch den körperlichen und sprachlichen Zerfall der Mutter ohne jede tröstende Sinnstiftung als ausweglose Bewegung in eine zeitlose „Nacht“. Die Rezension arbeitet diese Differenz systematisch aus, indem sie Erzählhaltung, Zeitstruktur, Kommunikationsformen und Metaphorik kontrastiert: Jolys poetische Einhegung des Schmerzes zielt auf Resilienz, „Spätblühen“ und Selbstwerdung, während Ernaux’ Schreiben sich der „Gewalt der Empfindungen“ aussetzt und den Text bewusst als bloßen „Überrest eines Schmerzes“ versteht. Argumentativ folgt die Rezension dabei einer komparatistischen Logik, die nicht wertend, sondern typologisch verfährt: Sie zeigt, wie beide Texte unterschiedliche ethische und ästhetische Antworten auf denselben Erfahrungskern geben. Der Schluss pointiert diese Gegenüberstellung, indem er die divergierenden Romanenden als Ausdruck zweier unvereinbarer Zeit- und Sinnmodelle liest – hier das symbolische Wiederergrünen nach der Katastrophe, dort das endgültige Versinken in der Nacht –, und macht so deutlich, dass literarische Alzheimer-Narrative weniger über die Krankheit selbst als über die Möglichkeiten und Grenzen narrativer Bewältigung Auskunft geben.

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Von der Fußnote zur Gegengeschichte: Olivier Rolin zu Victor Hugo

Olivier Rolin entwickelt in „Jusqu’à ce que mort s’ensuive“ (Gallimard, 2025) aus einer randständigen Passage der „Misérables“ eine konsequente Gegengeschichte. Bei Hugo erscheinen Emmanuel Barthélemy und Frédéric Cournet nur als exemplarische Figuren innerhalb der Barrikadenmythologie von 1848, deren Schicksal in wenigen Sätzen moralisch geschlossen wird. Rolin löst sie aus dieser symbolischen Funktion und rekonstruiert ihre Lebenswege von den Junikämpfen über das Londoner Exil bis zu Duell und Galgen. Aus Hugos Miniatur entsteht eine materialreiche Chronik, in der Barthélemy als Produkt des Bagno und Cournet als widersprüchlicher Republikaner erscheinen – nicht als Typen, sondern als historische Existenzen ohne Erlösungslogik. Die Rezension liest Rolins Buch als Entmythologisierung durch Präzision. Rolin widerspricht Hugo nicht offen, sondern setzt dort an, wo dessen epische Ordnung brüchig wird. Gegen Hugos Verdichtung stellt er Chronologie, Archivmaterial und erzählerische Nüchternheit. So verschiebt sich der Maßstab von Sinnstiftung zu Beschreibung: Jean Valjeans Erlösung steht Barthélemys Verhärtung gegenüber, der emphatische Titel „Les Misérables“ der administrativen Kälte von „Jusqu’à ce que mort s’ensuive“. Der nüchterne Schluss am Galgen wird als methodische Setzung gelesen: Geschichte erzeugt keinen Sinn von selbst. Literatur kann sie sichtbar machen – aber nicht erlösen.

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Shakespeare als Leerstelle: Philippe Forest

Philippe Forests „Shakespeare: quelqu’un, tout le monde et puis personne“ (Flammarion, 2025) ist ein ebenso radikales wie poetisches Buch, das sich bewusst gegen jede traditionelle Biografie richtet und stattdessen das Konzept der „Antibiografie“ formuliert. Ausgehend von der fast vollständigen biografischen Leere Shakespeares begreift Forest diese Leerstelle nicht als Mangel, sondern als produktiven Raum literarischer Erkenntnis. Shakespeare erscheint darin weniger als historisches Individuum denn als Figur des „Jemand, Jeder und Niemand“ – ein Resonanzraum menschlicher Existenz, in dem sich Fragen nach Identität, Macht, Liebe, Zeit, Tod und dem Nichts bündeln. Forest schreibt dabei nicht nur über Shakespeare, sondern durch ihn hindurch und zugleich über sich selbst; jede Biografie wird zur verdeckten Autobiografie, jede Analyse zur Fabel, in der sich Leben und Werk, Theorie und persönliche Erinnerung unauflöslich verschränken. Die Analyse hebt hervor, wie Forest Shakespeare als Denker der Existenz, als radikal skeptischen Dichter eines leeren Himmels und eines theatralen Weltverständnisses liest, in dem Identität Maske, Geschichte Illusion und Literatur ein sanftes, tröstendes Sprechen im Angesicht des Nichts ist. Es ist ein Buch, das keine bloße Wissensvermittlung anstrebt, sondern vielmehr eine existenzielle Erfahrung des Lesens darstellt.

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Sternenhimmel über Rom: Renaud Rodier

Vor dem Hintergrund eines politisch verfallenden Roms am Wahlabend Giorgia Melonis begibt sich in Renaud Rodiers drittem Buch „Si Rome meurt“ (Anne Carrière, 2025) der angehende Filmemacher Pietro auf eine obsessive Suche nach seinem verschollenen Vater, den er in der Gestalt eines prophetischen Obdachlosen an den Rändern der Gesellschaft wiederzuentdecken glaubt. Geleitet von der astrophysikalischen Theorie des holografischen Universums gestaltet Pietro sein zentrales Filmvorhaben als einen Prozess filmischen Schreibens, der in grobkörnigen Super-8-Aufnahmen versucht, die urbane Entropie Roms in ein kohärentes ästhetisches Konstrukt zu transformieren. Renaud Rodiers Roman entwickelt sich als ein intermediales Palimpsest, das die existentielle Frage nach dem, was gerettet werden kann, wenn Rom stirbt, in einer dichten Verwebung von traumatischer Erinnerung und filmischer Vision verhandelt. Indem der Roman die astrophysikalische Metaphorik zur Weltraumdichtung erhebt, transformiert er die soziale Entropie Roms in eine transzendente, astronomische Topografie, die den Diskurs um die „Ewige Stadt“ als unzerstörbaren Informationscode jenseits des zeitlichen Verfalls neu verortet.

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Globale Orte, geteilte Bedeutungen: Olivier Wieviorka und Michel Winock

Die Rezension widmet sich dem Sammelband „Les lieux mondiaux de l’Histoire de France“ (Perrin, 2025), der sich mit der Frage auseinandersetzt, wie bestimmte Orte zu globalen Bezugspunkten werden und welche kulturellen, literarischen, historischen und politischen Bedeutungen sich an ihnen verdichten. Der Band versammelt interdisziplinäre Beiträge, die „Orte in der Welt“ nicht nur als geografische Fixpunkte, sondern als dynamische Räume der Erinnerung, der Macht, der Migration und der Imagination analysieren. Die Rezension arbeitet die zentralen theoretischen Prämissen des Bandes heraus, insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen lokaler Verankerung und globaler Zirkulation von Bedeutungen. Zugleich diskutiert sie die methodische Vielfalt der Beiträge sowie deren Ertrag für aktuelle raumtheoretische und kulturwissenschaftliche Debatten. Ein besonderes Augenmerk gilt der Frage, inwiefern „Les lieux mondiaux“ neue Perspektiven auf die symbolische Konstruktion von Weltläufigkeit eröffnet und welche Impulse der Band für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Raum, Globalisierung und kultureller Übersetzung liefert.

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Die profane Geburt: Kindheit, Hoffnung und uneingelöste Erlösung

Philippe Forests Roman Et personne ne sait (Gallimard, 2025) erzählt von einem jungen, gescheiterten Maler im winterlichen New York, der an einem Weihnachtsabend einem rätselhaften, alleinstehenden Mädchen begegnet, dessen Herkunft, Status und Wirklichkeit ungewiss bleiben. Diese Begegnung wird zum Ausgangspunkt eines poetischen Nachdenkens über Kunst, Erinnerung und Verlust, das sich zwischen Roman, Filmvorlage und persönlicher Erfahrung des Erzählers entfaltet. Während der Maler versucht, das Kind – später die Frau – in einem Bild festzuhalten, reflektiert der Text zugleich die Bedingungen des Darstellens selbst: das Scheitern von Sinn, die Wiederholung von Motiven und die Unmöglichkeit, Leben oder Tod durch Kunst zu bewahren. So entwickelt sich eine melancholische Erzählung über das Vergehen der Zeit, die Fragilität von Hoffnung und die Rolle der Kunst als einziger, stets unzureichender Ort, an dem das Verlorene noch einmal erscheinen kann. Der Roman entwirft eine Schwebe, in der Realität, Erinnerung und Imagination unaufhörlich ineinander übergehen, ohne je stabil unterscheidbar zu werden. In der Figur des Malers und in der Erscheinung des Kindes verdichtet sich eine ästhetische Existenzform, die aus Verlust, Wiederholung und der Erfahrung eines radikal entleerten Sinnhorizonts hervorgeht. Weihnachten, Winter und Kindheit verheißen hier nicht Erlösung, sondern die fragile Möglichkeit von Bedeutung im Moment des Erzählens selbst. Kunst entsteht nicht als Offenbarung, sondern als vorsichtiger Versuch, dem Unverfügbaren für einen Augenblick Gestalt zu verleihen.

Mais un enfant seul dans la nuit – et surtout si cette nuit est celle de Noël –, on ne le laisse pas sans compagnie. Il appartient au premier venu de se soucier de lui. C’est une règle universelle et à laquelle nul ne saurait se soustraire. Le monde confie aux grands le salut de tous les petits. Parce que les seconds ne survivraient pas sans les soins que leur prodiguent les premiers. On dirait cette enfant née de nulle part en cette nuit de Noël. Conçue par l’opération du Saint-Esprit, déposée sur terre par quelques anges descendus du ciel. Afin d’y porter la possible bonne nouvelle qu’expèrent les hommes. La petite fille joue à la marelle. Sur l’échelle qu’à la craie, en écartant la neige, elle a tracée à même le trottoir et où elle jette le gros caillou qu’elle a ramassé sous un arbre. En prenant garde à ne surtout pas mordre sur les lignes qui séparent les cases, elle saute à cloche-pied. Montant de la Terre au Ciel. Elle accompagne sa routine d’une petite chanson étrange dont chaque syllabe sonne à chacun de ses pas qui se pose sur l’une des cases de la marelle et qui résonne sur le pavé.

Aber ein Kind allein in der Nacht – und erst recht, wenn diese Nacht die des Weihnachtsfestes ist –, lässt man nicht ohne Begleitung. Es ist Sache des Erstbesten, sich seiner anzunehmen. Das ist eine universelle Regel, der sich niemand entziehen kann. Die Welt legt das Heil aller Kleinen in die Hände der Großen. Denn die einen würden ohne die Fürsorge der anderen nicht überleben. Man könnte meinen, dieses Kind sei in jener Weihnachtsnacht aus dem Nichts geboren. Empfangen durch das Wirken des Heiligen Geistes, von ein paar Engeln, die vom Himmel herabstiegen, auf die Erde gesetzt. Um hier die mögliche gute Nachricht zu tragen, auf die die Menschen hoffen. Das kleine Mädchen spielt Himmel und Hölle. Auf der Leiter, die sie mit Kreide, den Schnee beiseiteschiebend, direkt auf den Gehweg gezeichnet hat und auf die sie den großen Stein wirft, den sie unter einem Baum aufgelesen hat. Sorgfältig darauf bedacht, die Linien zwischen den Feldern ja nicht zu berühren, hüpft sie auf einem Bein. Von der Erde zum Himmel hinauf. Ihre Bewegungen begleitet sie mit einem seltsamen kleinen Lied, dessen Silben je mit einem ihrer Schritte erklingt, der in eines der Felder setzt und auf dem Pflaster widerhallt.

Die Weihnachtsszene wirkt im Gesamtroman nicht primär als religiöses Motiv, sondern als kulturell tief codierter Ausnahmezustand: Weihnachten markiert einen Moment, in dem soziale Regeln nicht nur gelten, sondern in besonderer Weise aktiviert werden. Die emphatische Behauptung einer „universellen Regel“, wonach ein Kind in dieser Nacht nicht allein gelassen werden dürfe, hebt das Fest aus dem bloß Kalenderhaften heraus und macht es zum moralischen Prüfstein der Welt. Weihnachten steht hier für ein Versprechen kollektiver Verantwortung, für eine fragile Übereinkunft, dass Schutz, Fürsorge und Solidarität zumindest einmal im Jahr unverhandelbar seien.

Die subtile Anspielung auf die Geburt Christi – das „aus dem Nichts geborene“ Kind, die Engel, die „mögliche gute Nachricht“ – wird dabei bewusst entmythologisiert und in eine weltliche, prekäre Gegenwart überführt. Das spielende Mädchen wird nicht zur Erlöserfigur, sondern zur Chiffre einer Hoffnung, die sich nur im Spiel, in der Bewegung zwischen Erde und Himmel, artikulieren kann. Das Himmel-und-Hölle-Spiel übersetzt die christliche Heilserzählung in ein kindliches Ritual, das weder Erlösung garantiert noch Transzendenz erreicht, sondern lediglich deren Möglichkeit imaginiert. Weihnachten erscheint so als poetischer Schwebezustand: zwischen Glauben und Zweifel, Sinnstiftung und Leere, zwischen dem Wunsch nach einer „guten Nachricht“ und dem Wissen, dass ihr Eintreten allein von den „Großen“ abhängt, die Verantwortung übernehmen – oder versagen.

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Neue Proben

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Reserve: wieder aufgeblättert

Versöhnung ist mitten im Streit: Christine de Mazières

Christine de Mazières’ „Trois jours à Berlin“ (Wespieser, 2019, ich fand etwas ungläubig keine deutsche Übersetzung) verwandelt den 9. November 1989 in ein poetisches Mosaik aus Stimmen, Erinnerungen und Blicken. Eine Französin, Anna, reist in die geteilte Stadt, um den Mann wiederzufinden, dem sie einst begegnete – Micha, Sohn eines ostdeutschen Funktionärs. Zwischen Stasi-Protokollen, inneren Monologen und der überirdischen Perspektive des Engels Cassiel entfaltet der Roman eine polyphone Erzählung der Geschichte als ‘Faltung’: Berlin wird zur vibrierenden Metapher Europas, zur „plaine immense“ voller Ruinen, Sprachen und Sehnsüchte. Der Fall der Mauer erscheint nicht als heroischer Moment, sondern als zarter Augenblick der Durchlässigkeit, in dem Schweigen, Missverständnis und Poesie die Macht der Ideologien unterwandern. „Trois jours à Berlin“ ist als poetische Reflexion eines französischen Blicks auf Deutschland zu interpretieren – als Werk, das die Teilung nicht nur politisch, sondern existentiell erfahrbar macht. De Mazières’ wechselnde Erzählformen, ihr Spiel zwischen lyrischer Innenschau und bürokratischer Kälte, lassen das Ereignis selbst zur Sprache werden: die Versöhnung als ästhetische Bewegung, nicht als historischer Abschluss. In der Spannung zwischen Anna und Micha, zwischen dem Engel Cassiel und den Menschen, findet sich das Bild eines Europas, das seine „part manquante“ sucht – eine verlorene Zärtlichkeit, die sich im Moment der Öffnung wiederfindet.

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Nackte Realität: zur Neuausgabe des frühen Claude Simon

Claude Simons Roman „La corde raide“ (1947) ist ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Reflexionen, die vom Bad im Meer mit der jungen Véra über Kindheitserinnerungen und Kriegserlebnisse bis hin zu kunsttheoretischen Betrachtungen reichen. Das „straff gespannte Seil“ im Titel steht für eine heikle Balance zwischen Vitalität und Todesbewusstsein, zwischen chaotischer Lebenserfahrung und deren künstlerischer Formung. Die 2025 von den Éditions de Minuit in einem Band mit „Le tricheur“ (1945) neu herausgegebenen Frühwerke des Autors, präsentiert von Mireille Calle-Gruber, waren lange vergriffen, da Simon ihre Wiederauflage zu Lebzeiten nicht wünschte. Calle-Gruber deutet die Texte als poetologisches Laboratorium, in dem bereits Montage, Fragmentierung, Simultaneität der Zeiten und Vorrang der Sinneswahrnehmung vor Handlung erkennbar sind – Techniken, die sein späteres Werk prägen. Die Neuauflage schließt eine Lücke in der Werkgeschichte, indem sie diesen Moment der literarischen Entwicklung wieder zugänglich macht (beide Texte fehlen in der Pléiade-Ausgabe). – Der Artikel interpretiert „La corde raide“ als nicht-lineare Erzählung, als assoziatives Netz von Szenen und Leitmotiven, die durch semantische Felder wie Wasser, Licht, Vegetation, Körper und Bewegung verknüpft sind. Kriegserfahrungen werden nicht heroisch, sondern als chaotische, körperlich-sensorische Realität geschildert; Kindheitsszenen dienen als Ursprungsschicht der Wahrnehmung und Kontrastfolie zur existenziellen Gegenwart. Das Spannungsverhältnis von Schein und Realität ist zentral: Simon kritisiert „Fälschung“ in Kunst und Gesellschaft und sucht eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, wobei Cézanne als positives Gegenmodell zur akademischen Malerei gilt. Architektur, Farb- und Lichtgestaltung werden wie in der Malerei eingesetzt, um Erinnerung und Wahrnehmung zu strukturieren. Insgesamt wird „La corde raide“ als frühe, aber bereits konsequente Erprobung einer Poetik verstanden, die Wahrnehmung, Erinnerung und Form auf einem „Drahtseil“ zwischen Chaos und Struktur balanciert.

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Choreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.

Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.

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Walzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl

Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.

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Anmerkungen
  1. Les rubriques en français

    Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;

    Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;

    Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;

    Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.

    Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.

    Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.

    Judéité | La littérature juive française est un territoire imaginaire où l’appartenance, la mémoire et l’identité sont renégociées, à travers notamment la recherche de traces généalogiques et des questions d’identité culturelle/linguistique, politiques et historiques.

    Rendre justice | La littérature est ici un instrument qui permet non seulement d’aborder les thèmes du droit et de la justice, mais aussi de les traiter et de les remettre en question sur le plan esthétique.

    Dialogues | Des textes contemporains qui dialoguent avec des œuvres de l’histoire littéraire, de manière intertextuelle, tantôt dans une actualisation critique, tantôt sous forme d’hommage ou de transformation.>>>

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