Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

Rubriken
(Les rubriques en français1 ):
Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart
Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.
Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.
Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.
Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.
Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.
Judéité | Französisch-jüdische Literatur ist ein imaginäres Territorium, in dem Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität neu verhandelt werden, etwa genealogische Spurensuche und Fragen kultureller/sprachlicher Identität, politische und historische Fragen.
Recht schaffen | Literatur ist hier ein Instrument, mit dem Recht und Gerechtigkeit nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch verhandelt und hinterfragt werden.
Dialoge | Texte der Gegenwart, die einen Dialog mit Werken der Literaturgeschichte führen, intertextuell, mal kritisch aktualisierend, mal als Hommage oder Transformation.
Inhalt
- Neue Artikel und Besprechungen
- Mystik und Résistance: Jean de Saint-Cheron mit Georges Bernanos
- Rehabilitation der Mutter: Émilie Lanez über Hervé Bazins „Vipère au poing“
- Ruhe in einer Welt der Gespenster: Cyrille Falisse
- Die Form in ihrer Fülle: zum Werk von Laurent Mauvignier
- Der Naive und die Spießer bei Voltaire und Dominique Fernandez
- Okzitanische Transgression: Alain Guiraudie
- Schönheit durch Bedrohung: Camille Goudeau
- Neue Proben
- Reserve: wieder aufgeblättert
Neue Artikel und Besprechungen
Mystik und Résistance: Jean de Saint-Cheron mit Georges Bernanos
Jean de Saint-Cherons „Malestroit: vie et mort d’une résistante mystique“ (2025) rekonstruiert das außergewöhnliche Leben der bretonischen Ordensfrau Yvonne Beauvais, die zwischen karitativem Einsatz, mystischer Erfahrung und politischer Résistance agierte. Der Roman verbindet akribische Archivarbeit mit literarischer Imagination, indem er dokumentarische Recherche, biographische Erzählung und mystische Innenperspektive miteinander verschränkt. Yvonnes Weg führt von frühkindlicher Religiosität über den Aufbau einer Klinik bis zu ihrer aktiven Rolle im Widerstand: Sie versteckt Verfolgte, organisiert Fluchten, erleidet Verhöre und Folter durch die Gestapo. Zugleich zeigt der Roman ihre mystischen Phänomene – Bluttränen, Visionen, stigmatische Wunden – und die kirchliche Skepsis, die schließlich 1960 im Abbruch ihres Seligsprechungsverfahrens kulminiert („trop de miracles“). Saint-Cheron markiert, wo historische Dokumente sprechen und wo erzählerische Rekonstruktion beginnt; so entsteht das Porträt einer Frau, deren Leben an der Schnittstelle von Geschichte, Glaube und politischer Gefahr verläuft und deren Bedeutung sich bis heute nicht eindeutig fassen lässt. – Die Besprechung hebt hervor, wie Saint-Cheron die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion reflektiert, ohne sie zu verwischen: Der Roman ist weder Hagiographie noch skeptische Demystifikation, sondern ein hybrider Text, der dem Leser zumutet, die Spannungen zwischen persönlicher Heiligkeitserfahrung, institutioneller Kontrolle und politischer Realität mitzudenken. Es wird gezeigt, wie der Roman religiös-mystische Aspekte (Leiden, Stigma, Wunder) mit der Brutalität der Besatzungszeit (Folter, Deportationsdrohung, Untergrundarbeit) verschränkt und dadurch eine doppelte Form des Martyriums sichtbar macht. Die Rezension betont zudem die Relevant erzählerischer Mehrstimmigkeit – dokumentierende Ich-Perspektive, Tagebuchfragmente, Zeugenaussagen – und die intertextuellen Bezüge, u.a. zu Bernanos’ „Sous le soleil de Satan“, für das Verständnis der Figur sind. Insgesamt erscheint Malestroit als literarisches Experiment über die Möglichkeit, ein mystisches Leben historisch zu erzählen, und die Besprechung macht deutlich, dass seine größte Stärke in dieser reflektierten Ambivalenz liegt: Heiligkeit, Trauma, Widerstand und Erinnerung treten in ein komplexes Verhältnis, das weit über den biographischen Stoff hinausführt.
➙ Zum ArtikelRehabilitation der Mutter: Émilie Lanez über Hervé Bazins „Vipère au poing“
Émilie Lanez’ Enthüllungsbuch „Folcoche: le Secret de Vipère au poing“ zeigt, dass Hervé Bazins berühmter Roman „Vipère au poing“ weniger eine autobiografische Anklage gegen eine monströse Mutter als vielmehr eine kalkulierte literarische Rache eines kriminell belasteten Sohnes war, der damit seine Vergangenheit tilgen und sein Erbe erzwingen wollte: Während Bazin in seinem Bestseller die Mutter Paule als sadistische „Folcoche“ inszeniert, die ihre Kinder quält, rekonstruiert Lanez auf Basis von Polizeiakten, psychiatrischen Dossiers und Familienkorrespondenzen, dass Jean Hervé-Bazin ein mythomaner Betrüger war, dessen Roman als Erpressungsinstrument diente und dessen Darstellung der Mutter ein „Mord auf Papier“ war; zugleich zeigen Lanez’ weitere Werke „La Garçonnière de la République“, eine Recherche über die geheimen, kaum rechenschaftspflichtigen Machtpraktiken der politischen Elite rund um die präsidiale Residenz La Lanterne, und „Noël à Chambord“, eine Analyse von Emmanuel Macrons monarchisch anmutender Selbstdarstellung im Schloss Chambord, dass die Autorin systematisch die Lücke zwischen öffentlicher Inszenierung und verborgener Wahrheit offenlegt – so dass die Rezension argumentiert, Lanez zerstöre nicht nur den Mythos des heroischen Sohnes in „Vipère au poing“, sondern entlarve grundsätzlich die moralische Blindheit französischer Institutionen, die Täter schützen und Opfer zum Schweigen bringen.
➙ Zum ArtikelRuhe in einer Welt der Gespenster: Cyrille Falisse
Cyrille Falisses Debütroman „Seuls les fantômes“ (Belfond, 2025) beginnt mit einem abrupten Zusammenbruch: Melvile, von seiner Partnerin verlassen, verliert jede innere Stabilität. Die Trennung wird nicht als Liebesleid, sondern als körperlich-psychischer Kollaps dargestellt, in dem das Verstummen des Begehrens durch die wiederkehrende Formel „Je ne jouis plus“ sichtbar wird. Melviles Rückzug, seine fragmentierten Alltagsfunktionen und die Stimmen, die seinen inneren Monolog verdichten, markieren eine Überreizung der Psyche. Zentral ist die Figur des „Gespenstischen“ – die „fantômes“ – als Metapher für intrusive Erinnerungen und unerledigte emotionale Prägungen, die Melvile zu einer systematischen Aufarbeitung seiner Vergangenheit treiben. Verfall, körperliche Impotenz, obsessive Gedanken und die bedrückende Wohnung spiegeln seine Krise. Zugleich strukturiert er seine innere Welt über Schreiben und digitale Identität, wobei Natur- und Wasserbilder die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen illustrieren. Das narrative Zentrum bleibt die Suche nach verlorenen Bezugspersonen, die Konfrontation mit Schuld und die allmähliche Integration von Verlust, während die Geschichte zu einem Reise- und Suchnarrativ hinführt, das weniger geografisch als psychologisch motiviert ist. – Falisses Argumentation liegt in der engen Verknüpfung von innerer Krise, psychischer Verarbeitung und narrativer Form. Die präzise, unpathetische Sprache macht emotionale Erschütterungen unmittelbar erfahrbar und verbindet metaphorische Dichte mit konkreter Körperlichkeit. Digitale Kommunikationsformen, mentale Schleifen und fragmentierte Zeitstruktur bilden ein erzählerisches System, das Melviles Isolation, Reflexion und langsame Stabilisierung sichtbar macht. Das Buch zeigt, dass Erinnerung, Verlust und Begehren nicht aufgehoben, sondern bearbeitet und integriert werden müssen. Falisse gelingt es, existenzielle Erfahrungen in einer Balance zwischen Verletzlichkeit und formaler Strenge darzustellen: Die Geister der Vergangenheit bleiben, verlieren aber ihre zerstörerische Macht, und Melvile erkennt seine Zerbrechlichkeit als Stärke – ein Schluss, der psychologisches Verständnis und literarische Präzision miteinander verbindet.
➙ Zum ArtikelDie Form in ihrer Fülle: zum Werk von Laurent Mauvignier
Die Besprechung widmet sich einem Buch, das seinen Autor beim Denken, Erinnern und Formulieren begleitet. „Quelque chose d’absent qui me tourmente: entretiens avec Pascaline David“ (Minuit, 2025) fasst Gespräche zwischen Laurent Mauvignier und Pascaline David zu einem vielschichtigen Selbstporträt zusammen. David strukturiert den Band als chronologisch-thematische Durchquerung eines literarischen Lebenswegs: von den traumatisch geprägten Anfängen über den mühsam errungenen Zugriff auf die Form bis hin zu einer Poetik, die das Schreiben als tätige, materialbewusste Suche nach Wahrhaftigkeit begreift. Immer wieder schärfen die Dialoge Mauvigniers Einsicht, dass Literatur nur dort entsteht, wo der Autor die kompromittierende Trägheit der gebräuchlichen Sprache hinter sich lässt – ein Gedanke, den er unter anderem mit einem kunsttheoretischen Lehrsatz verbindet, den er aus seiner Jugend erinnert: „Wenn die Farbe ihren Wert hat, ist die Form in ihrer Fülle.“ – Die Gespräche zeigen den Schriftsteller als jemanden, der sich seiner Herkunft ebenso verpflichtet fühlt wie er sich von deren Festlegungen zu lösen sucht, und der das Reale nicht dokumentarisch, sondern durch die organische Logik des Satzes zu erfassen versucht. Mauvigniers Reflexionen über den ersten Sprung ins Leere beim Schreiben von „Loin d’eux“, seine bildhauerisch verstandene Überarbeitungstechnik, sein Umgang mit Räumen, Körpern und Stimmen, aber auch seine Selbstkritik im Dialog mit David lassen das Werk als intime Werkstatt und als Labor literarischer Form sichtbar werden. Die Rezension macht Mauvigniers ästhetisches Denken – das Kreisen um die Fülle der Form, um die Unruhe der fehlenden Sache – in der Spannung zwischen biographischer Erfahrung, ethischer Haltung und poetischer Disziplin sichtbar.
➙ Zum ArtikelDer Naive und die Spießer bei Voltaire und Dominique Fernandez
In „Un jeune homme simple“ (2024) zeichnet Dominique Fernandez den Weg des jungen Auvergnaten Arthur nach, der als unverbildeter Provinzler in das hyperideologisierte Paris gerät. Seine Begegnungen u.a. mit radikal-feministischen, ökologischen und literarischen Milieus machen die Gegenwartsgesellschaft als von Moralismus, Woke-Dogmen und kulturellem Konformismus durchdrungen sichtbar. Die Naivität des Helden fungiert dabei als Prüfstein moderner Eliten: Gerade weil Arthur die „Codes“ der Hauptstadt nicht versteht, legt er deren Heuchelei frei und entscheidet sich am Ende für die Rückkehr in die Auvergne, wo „valeurs sûres, éprouvées“ und eine einfache Liebe auf ihn warten. – Die Rezension ordnet den Roman explizit in eine intertextuelle Linie zu Voltaires „L’Ingénu“ ein und deutet Arthur als gegenwärtige Reinkarnation des aufgeklärten Außenseiters. Wie Voltaires Hurone entlarvt auch Arthur durch sein unverstelltes Urteil die Absurditäten der jeweiligen Epoche – einst der religiösen Riten, heute der ideologischen Orthodoxien. Dabei kehrt sich Voltaires Impuls jedoch um: Wo der Ingénu zum Widerstand in der Welt gezwungen wird, erscheint bei Fernandez der Rückzug als einzige verbleibende Form von Integrität. Die Argumentation der Rezension arbeitet folglich mit einem doppelten Vergleich: Sie liest Fernandez’ Satire als moderne Fortsetzung voltairischer Kritik – und zugleich als ironische Antithese, in der der naive Held nicht mehr kämpft, sondern die korrumpierte Zivilisation hinter sich lässt. – Zentral für die Rezension ist zudem die Beobachtung, dass Fernandez die sexuelle Befreiung der Gegenwart nicht als Fortschritt, sondern als neue Form des Konformismus zeichnet: Was einst transgressiv war, erscheint im Pariser Milieu als kommerzialisiertes Ritual, das seine rebellische Energie verloren hat. Die Werkgeschichte der Homosexualität bei Fernandez zeigt diesen Verlust der „gloire du paria“ als wiederkehrendes Motiv: Seit „L’Étoile rose“ (1978) und „La Gloire du Paria“ (1987) über den Doppelroman „L’homme de trop“ (2021/2022) beschreibt er die Assimilation der einst widerständigen Minderheit als kulturelle Nivellierung, die Wünsche nach einer neuen radikalen Differenz – zuletzt im Transgender – hervorbringt.
➙ Zum ArtikelOkzitanische Transgression: Alain Guiraudie
Die vier Romane des Filmemachers und Schriftstellers Alain Guiraudie bilden eine zusammenhängende Saga, in der sich die Logik des Roman-Flux entfaltet: „Ici commence la nuit“ (2014) eröffnet das Universum mit einem düsteren Dreieck aus Gewalt, Begehren und okzitanisch grundierter Außenseiterexistenz; „Rabalaïre“ (2021) radikalisiert dies zu einer tausendseitigen, delirierenden Odyssee, die den ländlichen Süden Frankreichs in ein zugleich realistisches und mythisches Terrain verwandelt, in dem sexuelle, kriminelle und fantastische Energien ineinanderströmen; „Pour les siècles des siècles“ (2024) verschiebt das Projekt ins Metaphysische, indem die Fusion von Jacques und dem Priester Jean-Marie zu einer theologischen, erotischen und philosophischen Reflexion über Identität, Körper und Koexistenz wird; „Persona non grata“ (2025) schließlich zeigt die Konsequenzen dieser Fusion auf institutioneller Ebene und vertieft das Motiv der Ausgrenzung, während es den paranoid-politischen Resonanzraum der Reihe erweitert. Als Werkganzes bilden die Bände einen immer weiter mäandrierenden Fluss, in dem Genregrenzen, moralische Kategorien und ontologische Fixpunkte systematisch aufgelöst werden. – Die Rezension argumentiert, dass Guiraudies Werk aus dem Prinzip der radikalen Entgrenzung heraus zu deuten ist: Die poétique du flux wirkt als ästhetischer, politischer und anthropologischer Schlüssel, der die Verschmelzung von Oralität, okzitanischer Sprachsubversion, sexueller Transgression und philosophischer Spekulation glaubwürdig macht. Ihre Argumentation setzt auf die konsequente Rückbindung der erzählerischen Exzesse an ein strukturelles Programm – die Aufhebung von Identität als stabiler Kategorie, die erzählerische Durchlässigkeit zwischen Realem und Fantastischem sowie die Verbindung von ländlichem Terroir und utopischer Sehnsucht. Durch diese Perspektive erscheinen selbst die extremsten Motive nicht als Provokationen um ihrer selbst willen, sondern als Bausteine einer literarischen Utopie, die das Begehren als verbindende, politisch wirksame Kraft begreift. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Zusammenhang von Trobadors und Sade fassen: Guiraudie aktualisiert die mittelalterliche Dichtung des Begehrens, die bei den Trobadors als kultivierte, oft unerfüllte und zugleich transzendierende Kraft erscheint, und verschränkt sie mit de Sades Erforschung der Körpergrenzen, der Ambivalenz von Lust und Grausamkeit und der radikalen Freiheit jenseits moralischer Kodifikationen.
➙ Zum ArtikelSchönheit durch Bedrohung: Camille Goudeau
Camille Goudeaus „Crache le soleil“ entwirft ein Paris am Rand des Zusammenbruchs: eine Stadt aus Kälte, Wut und erstarrter Infrastruktur, in der Menschenmassen zu drängenden Körpern werden und das Individuum in Angst, Atemlosigkeit und Fluchtimpulsen zerrieben wird. Éléonore, aus einer gewaltsamen Beziehung geflohen, versucht in diesem urbanen Chaos ein neues Gleichgewicht zu finden. Félix bewegt sich zugleich durch dieselbe Stadt wie durch ein deformiertes Farblabyrinth, tastend, verletzlich, aber empfänglich für jedes Leuchten. Das Street-Art-Porträt von Éléonore, geschaffen von der jungen Künstlerin Vérité, wird zum zentralen Signum dieser Welt: ein flüchtiges Bild, das im brüchigen Stadtraum aufscheint, überschrieben wird, wiederkehrt – und die Möglichkeit eröffnet, inmitten der Erschöpfung ein anderes Selbst sichtbar zu machen. So formt der Roman eine Anti-Dystopie, die nicht mit totalitären Schreckensbildern arbeitet, sondern mit den Mikroverletzungen des Alltags, den psychischen Erschütterungen und der ästhetischen Durchlässigkeit einer Stadt im Zustand schleichender Desintegration. – Die Rezension betont diese doppelte Bewegung: einerseits die zeichnerische Härte, mit der der Roman den urbanen Druck sichtbar macht, andererseits das poetische Aufleuchten, das den Figuren einen Raum der Reorientierung schenkt. Sie hebt die körpernahe Sprache hervor, die Kälte, Erschöpfung und innere Zersetzung unmittelbar erfahrbar macht, und unterstreicht die Bedeutung der Licht- und Farbsymbolik, die Éléonore, Félix und Vérité miteinander verbindet. Die soziale Dimension der Street-Art-Motivik erweist Sichtbarkeit als Machtressource, die im übermalten, verwischten, wiedererscheinenden Porträt verhandelt wird. Schließlich zeigt die Besprechung, wie der Roman ästhetische Intensität in eine fragile Hoffnung verwandelt: Die Begegnung der beiden beschädigten Existenzen am Ende wirkt nicht wie ein Happy End, sondern wie ein Aufglimmen von Möglichkeit – ein kurzer Moment, in dem eine erfrorene Welt Wärme freisetzt.
➙ Zum ArtikelAlle Artikel | Alle Besprechungen
Neue Proben
Reserve: wieder aufgeblättert
Versöhnung ist mitten im Streit: Christine de Mazières
Christine de Mazières’ „Trois jours à Berlin“ (Wespieser, 2019, ich fand etwas ungläubig keine deutsche Übersetzung) verwandelt den 9. November 1989 in ein poetisches Mosaik aus Stimmen, Erinnerungen und Blicken. Eine Französin, Anna, reist in die geteilte Stadt, um den Mann wiederzufinden, dem sie einst begegnete – Micha, Sohn eines ostdeutschen Funktionärs. Zwischen Stasi-Protokollen, inneren Monologen und der überirdischen Perspektive des Engels Cassiel entfaltet der Roman eine polyphone Erzählung der Geschichte als ‘Faltung’: Berlin wird zur vibrierenden Metapher Europas, zur „plaine immense“ voller Ruinen, Sprachen und Sehnsüchte. Der Fall der Mauer erscheint nicht als heroischer Moment, sondern als zarter Augenblick der Durchlässigkeit, in dem Schweigen, Missverständnis und Poesie die Macht der Ideologien unterwandern. „Trois jours à Berlin“ ist als poetische Reflexion eines französischen Blicks auf Deutschland zu interpretieren – als Werk, das die Teilung nicht nur politisch, sondern existentiell erfahrbar macht. De Mazières’ wechselnde Erzählformen, ihr Spiel zwischen lyrischer Innenschau und bürokratischer Kälte, lassen das Ereignis selbst zur Sprache werden: die Versöhnung als ästhetische Bewegung, nicht als historischer Abschluss. In der Spannung zwischen Anna und Micha, zwischen dem Engel Cassiel und den Menschen, findet sich das Bild eines Europas, das seine „part manquante“ sucht – eine verlorene Zärtlichkeit, die sich im Moment der Öffnung wiederfindet.
➙ Zum ArtikelNackte Realität: zur Neuausgabe des frühen Claude Simon
Claude Simons Roman „La corde raide“ (1947) ist ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Reflexionen, die vom Bad im Meer mit der jungen Véra über Kindheitserinnerungen und Kriegserlebnisse bis hin zu kunsttheoretischen Betrachtungen reichen. Das „straff gespannte Seil“ im Titel steht für eine heikle Balance zwischen Vitalität und Todesbewusstsein, zwischen chaotischer Lebenserfahrung und deren künstlerischer Formung. Die 2025 von den Éditions de Minuit in einem Band mit „Le tricheur“ (1945) neu herausgegebenen Frühwerke des Autors, präsentiert von Mireille Calle-Gruber, waren lange vergriffen, da Simon ihre Wiederauflage zu Lebzeiten nicht wünschte. Calle-Gruber deutet die Texte als poetologisches Laboratorium, in dem bereits Montage, Fragmentierung, Simultaneität der Zeiten und Vorrang der Sinneswahrnehmung vor Handlung erkennbar sind – Techniken, die sein späteres Werk prägen. Die Neuauflage schließt eine Lücke in der Werkgeschichte, indem sie diesen Moment der literarischen Entwicklung wieder zugänglich macht (beide Texte fehlen in der Pléiade-Ausgabe). – Der Artikel interpretiert „La corde raide“ als nicht-lineare Erzählung, als assoziatives Netz von Szenen und Leitmotiven, die durch semantische Felder wie Wasser, Licht, Vegetation, Körper und Bewegung verknüpft sind. Kriegserfahrungen werden nicht heroisch, sondern als chaotische, körperlich-sensorische Realität geschildert; Kindheitsszenen dienen als Ursprungsschicht der Wahrnehmung und Kontrastfolie zur existenziellen Gegenwart. Das Spannungsverhältnis von Schein und Realität ist zentral: Simon kritisiert „Fälschung“ in Kunst und Gesellschaft und sucht eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, wobei Cézanne als positives Gegenmodell zur akademischen Malerei gilt. Architektur, Farb- und Lichtgestaltung werden wie in der Malerei eingesetzt, um Erinnerung und Wahrnehmung zu strukturieren. Insgesamt wird „La corde raide“ als frühe, aber bereits konsequente Erprobung einer Poetik verstanden, die Wahrnehmung, Erinnerung und Form auf einem „Drahtseil“ zwischen Chaos und Struktur balanciert.
➙ Zum ArtikelChoreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.
Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.
➙ Zum ArtikelWalzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl
Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.
➙ Zum ArtikelAnmerkungen
- Les rubriques en français
Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;
Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;
Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;
Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.
Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.
Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.
Judéité | La littérature juive française est un territoire imaginaire où l’appartenance, la mémoire et l’identité sont renégociées, à travers notamment la recherche de traces généalogiques et des questions d’identité culturelle/linguistique, politiques et historiques.
Rendre justice | La littérature est ici un instrument qui permet non seulement d’aborder les thèmes du droit et de la justice, mais aussi de les traiter et de les remettre en question sur le plan esthétique.
Dialogues | Des textes contemporains qui dialoguent avec des œuvres de l’histoire littéraire, de manière intertextuelle, tantôt dans une actualisation critique, tantôt sous forme d’hommage ou de transformation.>>>