Etwas Unsichtbares streicheln: Debora Levyh

Debora Levyhs Erstlingsroman „La version“ (2023) erforscht die radikale Fremdheit einer Welt, deren Sprache, Zeitverständnis und soziale Organisation sich grundlegend von der unseren unterscheiden. Dieser Artikel zeigt, wie der Text eine literarische Reflexion über die Grenzen der Sprache unternimmt: Die Erzählerin kann die fremde Kultur zwar beobachten und ihre Muster erkennen, doch die Übersetzung in ihre eigene Sprache bleibt unzureichend. Durch das Fehlen fester Identitäten, konstanter Objekte und linearer Erzählstrukturen der fremden Welt erzeugt der Roman eine Atmosphäre der Desorientierung, die Leser dazu zwingt, ihre gewohnten Denkweisen zu hinterfragen. Levyhs Werk wird in den Kontext literarischer Traditionen der poetischen Anthropologie gestellt und mit Werken wie Henri Michaux’ „Voyage en Grande Garabagne“ oder Julio Cortázars „Historias de Cronopios y de Famas“ verglichen, die ebenfalls mit surrealen Gesellschaftsentwürfen experimentieren. Levyhs Poetik der Periphrase bewirkt eine immer leicht verfehlte Annäherung an die Konzepte, wodurch die Sprache nicht als festes System der Bedeutung, sondern als ein fluides Medium erscheint, das der Erfahrung des Unübersetzbaren gerecht wird. Während etwa Dantes Paradiso XXXIII die Unzulänglichkeit menschlicher Sprache angesichts des Göttlichen thematisiert, Edwin Abbotts „Flatland“ anhand eines mathematischen Gedankenexperiments über die verschiedenen Dimensionen veranschaulicht, wie begrenzte Wahrnehmungskategorien die Vorstellungskraft einschränken, verknüpft der Film „Arrival“ von Denis Villeneuve die Entzifferung einer nicht-linearen Schrift von Außerirdischen mit der Erfahrung einer veränderten Zeitwahrnehmung. Das Besondere an „La version“ von Debora Levyh liegt in seiner radikalen Erkundung sprachlicher und kultureller Fremdheit, die den Leser nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch herausfordert. Die Schönheit dieses Schreibens liegt in einer dichten, fast meditativen Atmosphäre, aus der Unmöglichkeit heraus, das völlig Fremde vollständig zu begreifen. Ein Buch für Leser, die sich auf eine intellektuelle und sinnliche Erkundung der Grenzen des Übersetzbaren einlassen möchten.

Der Moment der Wahrheit: Karine Tuil

Karine Tuils „La Guerre par d’autres moyens“ seziert den Zerfall von Macht, Identität und öffentlicher Wahrnehmung: Im Mittelpunkt steht Dan Lehman, ein ehemaliger Präsident Frankreichs der Linken, der nach einer Wahlniederlage in Alkoholismus und Bedeutungslosigkeit versinkt, während seine Ex-Frau Marianne Bassani in der Literatur und seine zweite Frau Hilda Müller im Filmgeschäft neue Karrieren aufbauen. Der Artikel zeigt, wie Tuil subtil Fiktion und Realität verschränkt: Mariannes Roman „À la recherche du désastre“, der als Film adaptiert wird, reflektiert Lehmans Fall und entzieht ihm neben der medialisierten Öffentlichkeit auf andere Weise die Kontrolle über seine eigene Geschichte – eine raffinierte Spiegelung der Mechanismen öffentlicher Demontage. Die Analyse betont zudem die intertextuelle Verbindung zu Philip Roths „My Life as a Man“, die jüdische Identität Lehmans und die Frage nach toxischer Männlichkeit in Politik und Kultur. Tuils Roman erscheint so als eine kluge Reflexion über die Zerstörung öffentlicher Figuren in einer mediengesteuerten Gesellschaft – ein tragikomisches Drama über Macht, Narzissmus und den Kampf um die Deutungshoheit der eigenen Existenz.

Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik: Benjamin de Laforcade

In „Berlin pour elles“ (2024), dem zweiten Roman von Benjamin de Laforcade, bildet die Freundschaft zwischen Hannah und Judith das Zentrum einer Erzählung, die zwischen individueller Nähe und staatlicher Kontrolle entlangführt. Durch die Perspektive zweier Mädchen in der DDR entwickelt der Roman ein anschauliches Bild der ostdeutschen Gesellschaft, das sich zwischen Anpassung, Widerstand und alltäglicher Solidarität bewegt. Laforcade, als französischer Autor mit Außenperspektive auf Ostberlin und als Wahlberliner, nutzt die Freundschaft nicht nur als Erzählmotiv, sondern auch als Mittel zur Untersuchung von Gesellschaftsstrukturen und menschlichen Werten.

Donald Trump, Geschichtspolitik und Wissenschaftsfreiheit bei Perrine Tripier

In ihrem zweiten Roman „Conque“ (2024) konfrontiert Perrine Tripier die Historikerin Martabée mit einem fanatischen Empereur, der die Geschichte für seine politischen Zwecke instrumentalisieren will. Die Handlung spielt in einer unbestimmten, windgepeitschten Küstenregion, wo archäologische Ausgrabungen Spuren der Morgonden zutage fördern – eines längst verschwundenen, als glanzvoll idealisierten Volkes: die Überreste der Morgondes, jahrtausendealter Seekrieger. Die Historikerin wird herangezogen, um die Funde zu interpretieren und eine narrative Verbindung zwischen den archäologischen Entdeckungen und dem nationalen Selbstverständnis herzustellen. Dabei steht jedoch nicht die wissenschaftliche Genauigkeit im Vordergrund, sondern die Konstruktion eines Gründungsmythos, der das zerfallende Reich stabilisieren soll. Während die Forscher eine komplexe Zivilisation freilegen, deren Spuren – darunter monumentale Walfangriten – faszinierend und zugleich verstörend sind, wird Martabée zur Schlüsselfigur in einem politischen Spiel. Sie erhält Privilegien, wird hofiert und in eine Rolle gedrängt, die sie dazu zwingt, fehlende Informationen mit spekulativen Elementen zu füllen. Doch es fällt auf, dass Frauen und Kinder in den Funden fehlen – eine Leerstelle, die Martabée zum Nachdenken bringt.

Ich will alles geschrieben haben und alles zerstören: Pierre Michon

Der Artikel verfolgt exemplarische Interpretationslinien von Pierre Michons „J’écris l’Iliade“, das Homers „Ilias“ nicht nur nacherzählt, sondern mit wuchtiger, bildgewaltiger Sprache neu erschafft, indem es epische Gewalt, mythisches Begehren und Fragmente des antiken Epos in die Zerrissenheit der Moderne überführt. In 14 relativ autonomen Episoden verdichten sich poetische Halluzination und historische Reflexion zu einer fiebrigen Auseinandersetzung mit dem Erbe des blinden Homer, während Figuren wie Achilles, Helena oder Alexander nicht als starre Mythen, sondern als lebendige Obsessionen erscheinen. Michon verbindet anthropologische Perspektiven – etwa Descolas Analogismus oder Heideggers Idee des Tempels als Wahrheitsraum – mit einer archaisch-modernen Spannung, die Schönheit und Schrecken gleichermaßen beschwört und entgrenzt. Besonders provokant sind Szenen, in denen Erotik und Gewalt, Kunst und Zerstörung in eine fiebrige Spannung geraten, etwa bei Persephones Entführung, oder wenn die abschließende Bücherverbrennung den Mythos gleichzeitig tilgt und fortschreibt. Die besondere Leistung des Buchs liegt darin, die „Ilias“ nicht als literarisches Monument zu feiern, sondern als ein unablässiges Ringen mit Sprache und Geschichte zu zeigen – eine atemlose, schmerzhafte, hypnotische Beschwörung, die das Epos neu erfindet und zugleich radikal infrage stellt.

Palästina, Wunde und Traum: Karim Kattan

Karim Kattans „L’Éden à l’aube“ erzählt eine Liebe in Palästina zwischen Isaac und Gabriel, die sich in einem von politischen, religiösen und gesellschaftlichen Konflikten durchzogenen Jerusalem entfaltet. Der Roman wechselt zwischen lyrischer Entrücktheit und politischer Realität, zwischen mythischer Überhöhung und der Brutalität des Alltags. Der Text entfaltet sich in einer traumhaften Erzählweise, während er zugleich die Spuren kolonialer Gewalt und territorialer Enge unübersehbar macht. Interessanterweise bleiben Utopie und Dystopie in „L’Éden à l’aube“ nicht klar getrennt. Vielmehr entsteht eine Hybridität, in der Hoffnung und Zerstörung ineinander übergehen. Isaac, der potenziell geopferte Sohn Abrahams, und Gabriel, der göttliche Bote, befinden sich in einer Welt, die am Rande des Paradieses steht.

Über die Pyrenäen, in umgekehrter Richtung: Jean Rolin

Jean Rolins „Tous passaient sans effroi“ der Winter-Rentrée 2024/25 ist weit mehr als eine bloße historische Rekonstruktion der Fluchtbewegungen über die Pyrenäen während der deutschen Besatzung Frankreichs. Es ist ein literarischer Streifzug durch Landschaften, Erinnerungen und individuelle Schicksale, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwebt. Rolin nähert sich der Thematik auf seine typische, fast beiläufige Weise – nicht als Historiker, sondern als literarischer Flaneur, der sich von den Spuren der Geschichte treiben lässt. Rolin sucht die Orte auf, durchstreift die Landschaften und rekonstruiert einzelne Fluchten, jedoch ohne den Pathos eines klassischen Erinnerungswerks. Seine Erzählweise ist geprägt von einer Mischung aus Neugier, ironischer Distanz und tiefem Respekt für die Menschen, deren Wege er nachvollzieht. Dabei sind es vor allem einzelne Schicksale, die das Buch durchziehen und ihm emotionale Tiefe verleihen. Walter Benjamin, der sich in Portbou das Leben nahm, Jean-Pierre Melvilles Bruder Jacques Grumbach, der von seinem eigenen Fluchthelfer ermordet wurde, oder der amerikanische Pilot Bud Owens, der erschöpft im Schnee starb – ihre Geschichten zeigen die existenzielle Dramatik dieser Fluchtversuche. Doch Rolin bleibt kein distanzierter Beobachter: Indem er selbst die Berge besteigt, sich mit der körperlichen Herausforderung des Aufstiegs konfrontiert, wird er zum stillen Zeugen dieser vergangenen Fluchten.

Fällt die großen Bäume: Gaël Faye, „Jacaranda“ nach dem Genozid in Ruanda

Nach der Lektüre von „Jacaranda“ (2024) erscheint der Erfolgsroman „Petit Pays“ (2016) nicht mehr nur als autobiografisch inspirierter Erinnerungsroman, sondern als Auftakt einer längeren Auseinandersetzung mit der postkolonialen Tragödie Ostafrikas. „Petit Pays“ folgte einer linearen, stark autobiografisch gefärbten Erzählstruktur, die von der kindlichen Perspektive des Protagonisten Gabriel geprägt ist. Die Handlung beginnt mit einer unbeschwerten Kindheit in Burundi und führt über politische Spannungen hin zu den schrecklichen Ereignissen des Genozids in Ruanda. Diese Zäsur verändert Gabriels Welt unwiderruflich und treibt ihn in die Entfremdung von seiner Herkunft. „Jacaranda“ hingegen ist fragmentierter, reflektierender und multiperspektivisch. Der Roman arbeitet mit Rückblenden und Erinnerungsfragmenten. In „Jacaranda“ gibt es weniger eine naive Hoffnung auf Heimkehr als eine tiefe, poetische Reflexion über Heimat als psychischen Raum.

Neue Wege für eine französisch-jüdische Literatur: Nathalie Azoulai

In „Toutes les vies de Théo“ erzählt Nathalie Azoulai die Geschichte von Théo, einem Bretonen mit deutscher Mutter, der sich in die jüdische Léa verliebt. Ihre Beziehung, zunächst geprägt von gegenseitigem Verständnis, gerät durch politische Ereignisse wie die Anschläge vom 7. Oktober und den Nahostkonflikt ins Wanken, was zu einer Entfremdung führt. Azoulai beleuchtet die Herausforderungen gemischter Partnerschaften und die komplexen Verflechtungen von persönlicher Identität und kollektiver Geschichte. Damit eröffnet sie neue Wege für eine französisch-jüdische Literatur, die nicht nur retrospektiv bleibt, sondern auch aktuelle Herausforderungen der Identitätsfindung und interkulturellen Begegnung verhandelt.

Leïla Slimani: die Wahrheit den fantasielosen Familien

Leïla Slimanis Romantrilogie „Le pays des autres“ mit dem gleichnamigen ersten Band, (2020), mit „Regardez-nous danser“ (2022) und „J’emporterai le feu“ (2024) zeichnet die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen hinweg nach und spiegelt zugleich die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche Marokkos wider. Im Zentrum stehen die Mitglieder der Familie Belhaj, deren Schicksale eng mit der wechselvollen Geschichte des Landes verbunden sind. Der erste Band, „Le pays des autres“, beginnt in der Zeit der französischen Kolonialherrschaft und endet mit der Unabhängigkeit Marokkos. Der zweite Band, „Regardez-nous danser“, setzt die Geschichte in den 1960er und 1970er Jahren fort, einer Periode der Modernisierung, aber auch politischer Repression. „J’emporterai le feu“, der abschließende dritte Teil, spielt in den 1980er bis 2000er Jahren und thematisiert die Herausforderungen zwischen Tradition und Globalisierung: Leïla Slimani begleitet die dritte Generation der Familie Belhaj-Daoud, insbesondere Mia, die zwischen Marokko und Frankreich nach ihrer Identität sucht. Während ihr Vater Mehdi durch einen politischen Skandal stürzt und ihre Mutter Aïcha um den Erhalt der Familie kämpft, erlebt Mia in Paris Exil, Ausgrenzung und den inneren Konflikt zwischen familiärer Loyalität und persönlicher Freiheit. Der Roman thematisiert gesellschaftliche Zwänge, die Bürde der Vergangenheit und die Schwierigkeit, in einem „anderen Land“ ganz man selbst zu sein.

Parataxe und Labyrinth: Traumapoetik bei Olivia Rosenthal

Olivia Rosenthals „Une femme sur le fil“ ist eine radikale literarische Reflexion über die Sprache, in der die Fragmentierung von Erinnerung, das Wiederholungsprinzip und die Unmöglichkeit eines linearen Erzählens die Zerrissenheit traumatischer Erfahrung erfahrbar machen. Zoés Geschichte wird in nummerierten Fragmenten erzählt, die oft abrupt abbrechen und keine klare narrative Kontinuität aufweisen. Dies spiegelt nicht nur ihre innere Zerrissenheit wider, sondern thematisiert auch die Grenzen der Sprache selbst. Zoé wird in ihrer Kindheit von ihrem Onkel missbraucht, was sie in ein Leben der Unsicherheit und Angst stürzt. Ihr Alltag ist geprägt von dem Versuch, der bedrängenden Erinnerung zu entkommen, indem sie sich Strategien des Vermeidens aneignet: Während Zoé versucht, ihre Vergangenheit zu verarbeiten, reflektiert sie über die Mechanismen von Erinnerung und Erzählung. Sie erkennt, dass Sprache eine begrenzte Möglichkeit bietet, Traumata auszudrücken, und bewegt sich zwischen Fragmenten von Mythen, Literatur und persönlichen Erfahrungen. Durch Wiederholung und Variation ihrer eigenen Geschichte versucht Zoé, ihr Trauma erzählbar zu machen.

Gaslighting und Autofiktion: Camille Laurens

Camille Laurens’ Roman „Ta promesse“ greift auf ihre Erfahrung im Bereich der Autofiktion zurück, um eine packende Geschichte von Liebe, Verrat und toxischen Abhängigkeiten zu entfalten. Der Roman schildert nicht nur eine leidenschaftliche Beziehung, sondern seziert auch die Dynamiken von Macht und Manipulation und bietet schlussendlich eine Reflexion über die kreative Schaffenskraft. Im Zentrum der Handlung stehen Claire, eine gefeierte Schriftstellerin, und der charismatische Gilles. Gilles entpuppt sich zunehmend als manipulativer Narzisst, der Claire emotional isoliert und zermürbt. Die Protagonistin Claire steht im Mittelpunkt einer Geschichte, die von Manipulationen und Lügen geprägt ist, was sie schließlich vor Gericht bringt. Die Suche nach der Wahrheit wird zur Hauptmotivation ihres Schreibens und ihrer Reflexionen. Die Eskalation gipfelt in einem Gerichtsdrama, das Laurens mit der Präzision einer Thriller-Autorin entfaltet.

Simon Liberati, Dämonen in Rom

Simon Liberatis Roman „La hyène du Capitole“ aus dem Jahr 2024 (Band zwei einer Trilogie über die Auflösung der 60er Jahre) ist eine Synthese aus dekadentem Stil, literarischer Reflexion und soziokultureller Analyse. Der Roman spielt im Jahr 1970 und folgt Alexis Tcherepakine, einem jungen Mann in Rom, dessen Leben von einer Mischung aus Exzentrik, intellektueller Suche und sozialem Abstieg geprägt ist. Alexis, der sich in der dekadenten High Society der Stadt bewegt, arbeitet als Assistent eines Fotografen und gerät in die Anziehungskraft von Persönlichkeiten wie dem Schauspieler Helmut Berger und seiner eigenen Schwester Taïné. Während Alexis durch die Straßen Roms wandert, begegnet er der Schönheit und dem Verfall der Stadt gleichermaßen.

Verwerfungslinien in uns: Mathias Énard, „Mélancolie des confins. Nord“

Mathias Énard ist einer der deutschlandaffinen Autoren der französischen Gegenwartsliteratur; wir begleiten den Erzähler in ein Berlin, in dem persönliche Verluste, kollektive Traumata und die literarische Tradition in einem eindrucksvollen Narrativ miteinander verschmelzen. Sein jüngstes Werk „Mélancolie des confins. Nord“ bildet den Auftakt einer Tetralogie über die Vergänglichkeit historischer Grenzen, verwebt erneut intime und historische Ebenen und verwischt in diesen einsamen Promenaden (denn das sind die Kapitel eher als Teile eines Romans) Literatur, Geschichte und Geografie.

Boualem Sansals Festnahme und ein Raumschiff

Boualem Sansals jüngster Roman „Vivre: le compte à rebours“ („Leben: der Countdown“, Gallimard, 2024) erzählt eine dystopische Geschichte in einer apokalyptischen Welt. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass der Text voller Anspielungen auf die politischen, sozialen und kulturellen Realitäten Algeriens ist. Durch seine metaphorische Erzählweise übt Sansal nicht nur Kritik an globalen Phänomenen wie Totalitarismus und Umweltzerstörung, sondern auch an spezifischen Missständen in seinem Heimatland. Angesichts der Verhaftung des Schriftstellers Boualem Sansal lesen wir den Roman „Vivre“ anders: Hier werden indirekt Themen wie Festnahmen und staatliche Repression angesprochen, jedoch oft in einem metaphorischen oder dystopischen Kontext.

Du, ja. Du, nicht. Laurent Gaudé über den 13. November 2015

Laurent Gaudé wählt für sein Buch über die Attentate des 13. November 2015 eine literarische Form, die sich zwischen Drama, Lyrik und dem Erzählerischen des Romans bewegt. „Terrasses“ ist kein Dokumentarstück, das die Fakten der Attentate auflistet. Stattdessen greift Gaudé auf die Mittel der literarischen Verfremdung und die Kraft der Sprache zurück, um einen tiefen menschlichen Zugang zu einem kollektiven Trauma zu finden.

Aurélien Bellanger als Lorenzaccio: Les derniers jours du Parti socialiste

Aurélien Bellanger bewegt sich mit dem jüngsten Roman „Les derniers jours du Parti socialiste“ in diesem Herbst 2024 zwischen politischer Fiktion, Schlüsselroman und gesellschaftlicher Satire, mit Elementen der Utopie, aber auch der Dystopie einer zunehmend autoritären Republik, in der die laizistischen Ideale instrumentalisiert werden, um eine islamophobe Politik durchzusetzen. Der Roman zeichnet ein Gesellschaftsbild, in dem die traditionellen politischen Lager der Republik bzw. die Grenzen zwischen links und rechts verschwimmen und in der nationalistische und identitäre Bewegungen das politische Spektrum dominieren.

Die Jungfrau im lebendigen Diesseits: Kamel Daouds Doppelroman

„Am Verhältnis zur Frau zeichnet sich das Verhältnis zur Fantasie, zum Begehren, zum Körper, zum Leben ab.“ Kamel Daouds Roman „Houris“ (2024) lässt sich als Gegengeschichte zu seinem Museumsdialog „Le peintre dévorant la femme“ (2018) lesen: Während hier ein fiktiver körperfeindlicher Djihadist mit der erotischen westlichen Malerei von Pablo Picasso konfrontiert ist, lässt in „Houris“ Daoud eine schwangere Überlebende des algerischen Bürgerkriegs über die Stummheit der Frauen nachdenken, als Geschichte einer einzelnen und kollektiven Wiederauferstehung.

Unheil der Reisenden: Jérôme Ferrari

Der Goncourt-Preisträger Jérôme Ferrari eröffnet 2024 mit „Nord Sentinelle“ eine Trilogie über die Begegnung mit dem Anderssein. Der Korsikaroman der Sippe Romani nimmt einen Mord zum Gegenstand, erweist sich aber zugleich als Gegenüberstellung einer traditional-archaischen Inselwelt mit einer vom Overtourism ruinierten Landschaft und Gesellschaft.

Ein besseres Gedächtnis als wir: Mathias Énard, Déserter

Mathias Énard schreibt über einen fiktiven ostdeutschen Mathematiker, der seinen KZ-Aufenthalt in Buchenwald und seine Liebe dichtend bewältigt und über einen Kriegs-Deserteur, der durch die Wildnis aus seinem Land flieht: 1. Vibrationen aus Odessa – 2. Gespenster in Weimar – 3. Konjekturen und Metafiktion