Brandungsgischt und Resonanz: Maylis de Kerangal

Maylis de Kerangals jüngster Roman „Jour de ressac“ (2024) wird im vorliegenden Artikel primär durch das übergreifende Werkprinzip ihrer Bücher (u.a. „Naissance d’un pont“ 2010, „Réparer les vivants“ 2014, „À ce stade de la nuit“ 2014, „Un monde à portée de main“ 2018, „Kiruna“ 2019, „Canoës“ 2021, „Seyvoz“ 2022 mit Joy Sorman, „Un archipel“ 2022) der Analogie, Korrespondenz und Resonanz erschlossen, die als strukturelle Basis des Œuvres der Autorin dienen. – Die Handlung setzt mit einem Anruf der Kriminalpolizei aus Le Havre ein, der die Protagonistin mit dem Fund eines „nicht identifizierten Mannes“ konfrontiert und sie tief in ihre eigene Vergangenheit sowie die Historie ihrer Heimatstadt eintauchen lässt. Le Havre selbst erscheint dabei als „geisterhafte Stadt“, deren zerstörte und wiederaufgebaute Schichten, insbesondere die der alliierten Bombardierungen von 1944, eine palimpsestische Erinnerungslandschaft bilden, in der die Gegenwart von den Echos des Vergangenen durchdrungen ist. Die zentrale Metapher des Romans, der „ressac“ – die Rückbrandung oder das Brechen der Wellen am Ufer – symbolisiert, wie die Erinnerung in mächtigen Wellen heranrollt, sich bricht und dabei ein flirrendes Bild hinterlässt, das die Erzählerin passiv trifft und doch den Impuls zum Schreiben liefert. Der Text wird somit weniger zu einem konventionellen Kriminalroman, sondern durch eine ausgeprägte introspektive Dimension der Ich-Erzählerin zu einer poetologischen Reflexion über die Funktionsweise von Erinnerung und die Art und Weise, wie die Vergangenheit im Präsens nachhallt. – Die Faszination des Romans liegt in seiner tiefgehenden Untersuchung von Identität und Unbeständigkeit. Der unbekannte Tote am Strand avanciert dabei zu einem zentralen, leeren „Zeichen“, das für die Protagonistin als Katalysator zur Sinnstiftung dient. Sie wird nicht zur klassischen Ermittlerin, sondern zu einem „Medium“, das die Spuren des Toten als Projektionsfläche für existentielle Fragen nach Verlust und Identität nutzt. Ihre Profession als Synchronsprecherin, die das Einfühlen in „fremde Stimmen“ und das Verschmelzen mit anderen Identitäten erfordert, wird durch die existenzielle Bedrohung der Künstlichen Intelligenz und die Möglichkeit des Stimmklonens bedroht. – Das Schreiben selbst wird zu einer „Schreibweise des Kontakts“, die darauf abzielt, die Erfahrung der Realität und des tieferen Zusammenhänge in ihren Analogien sinnlich greifbar zu machen. Der Sinn wird nicht krimigemäß in einer finalen Identifizierung des Toten gefunden, sondern in der narrativen Reise selbst. Die Erzählerin findet Halt und Identität in der Bewegung des Erzählens, wodurch das Erzählen selbst zum „Überlebensmechanismus und zur Quelle des Sinns“ in einer von Verlust und Unsicherheit geprägten Welt wird.

Bestie Mensch: Emile Zola und Stéphanie Artarit

Sowohl Émile Zolas „La Bête humaine“ als auch Stéphanie Artarits „On ne mange pas les cannibales“ erforschen das Verhältnis zwischen dem Bestialischen und dem Menschlichen, obwohl sie dies aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunkten tun. Artarits Roman insgesamt spielt mit der Idee, wer die „Bestie“ ist. „On ne mange pas les cannibales“ (Belfond, 2025) ist eine düstere Geschichte, die die Grenzen zwischen menschlicher Bestialität und tierischer Humanität verwischt und dabei existenzielle Fragen nach Trauma, Rache, Liebe und Identität aufwirft. Der Zoo ist mehr als nur ein Schauplatz; er ist ein symbolischer Raum, in dem die menschliche Gesellschaft mit ihren Hierarchien, ihrer Gewalt, ihrem Elend und ihren Versuchen der Kontrolle abgebildet wird. Die Tiere werden zu Projektionsflächen für menschliche Ängste und Wünsche, während die „zivilisierte“ Welt außerhalb oft wilder und unbarmherziger erscheint als die „Bestien“ im Käfig. Menschliche Verhaltensweisen (Rache, Besitzgier, Gewalt) werden als „bestialisch“ und tierische Reaktionen (Schutzinstinkt, Anpassungsfähigkeit, die „Philosophie“ eines Schimpansen) als „menschlich“ darstellt. Dies gipfelt in der Figur des „Kannibalen“ Martin, der die ultimative Grenzüberschreitung verkörpert, und Rivières endgültiger Aussage, dass man „keine Kannibalen isst“, was die Frage aufwirft, ob dies eine moralische Grenze ist oder eine Anerkennung der inhärenten, nicht verdaulichen Wildheit.

Manierismus als Symptom: Laurent Binet

Laurent Binets „Perspective(s)“ ist ein historischer Kriminalroman als polyperspektivischer Briefroman, der sich in die ästhetischen, politischen und erkenntnistheoretischen Debatten im Italien des 16. Jahrhunderts vertieft, dabei jedoch eine eminent moderne Frage stellt: Wie konstruiert sich Wahrheit im Zusammenspiel von Perspektive, Macht und Medium? Wie kann Kunst – sei sie gemalt oder erzählt – aufrichtig und gleichzeitig wirksam sein? Die Perspektive bildet dabei einen epistemologischen Leitfaden und stilistischen Organisationsmodus. Sie steht zugleich für den maltechnischen Durchbruch der Renaissance wie für dessen manieristische Verformung und Verunsicherung, aber auch für den erzählstrategischen Zugriff Binets, der als „Übersetzer“ alter Briefe auftritt und damit sowohl Historiographie als auch Fiktion als narrative Konstrukte entlarvt.

Kindheit und Selbsttransformation: Edouard Louis und Didier Eribon

Edouard Louis stellt in „Changer : méthode“ (Seuil, 2021) die Kindheit als fundamentales Ursprungsmilieu des Schmerzes, der Ausgrenzung und des unaufhaltsamen Drangs nach Flucht dar; die Erfahrungen von Armut, die Rauheit des sozialen Umfelds und insbesondere die ständige Demütigung und Schmähung aufgrund wahrgenommener Weiblichkeit und Homosexualität schaffen beim Erzähler eine tiefe Wunde und das Bewusstsein für ein vorbestimmtes, zu meidendes Schicksal. Dieser existenzielle Zwang zur Flucht wird zum Motor einer lebenslangen und radikalen Selbsttransformation, die nicht als natürliche Entwicklung, sondern als bewusste, disziplinierte und methodische „Arbeit“ am eigenen Körper und Sein begriffen wird, die oft durch Rollenspiel und Nachahmung erlernt wird. Die Kindheit liefert nicht nur die Motivation für den Wandel, sondern auch – durch frühe Überlebensstrategien – die ersten Ansätze dieser „Methode“, während spätere kindliche und jugendliche Begegnungen (z.B. mit Bibliothekaren und Elena) als Katalysatoren und Wegbereiter für den Bruch mit der Herkunftswelt dienen. Auch im Erwachsenenalter bleibt die Kindheit eine ständige, oft schmerzhafte Referenz, die die fortlaufende Notwendigkeit der Veränderung antreibt und das Ringen um Identität und Zugehörigkeit prägt.

Zum Gedächtnis: Pierre Nora (1931–2025)

Am 2. Juni 2025 ist der bedeutende französische Historiker Pierre Nora im Alter von 93 Jahren in Paris gestorben. Als Herausgeber der monumentalen siebenteiligen Werkreihe „Les Lieux de mémoire“ (1984–1993) prägte er entscheidend das Verständnis der nationalen Erinnerungskultur und trug maßgeblich zur Reflexion über die französische Identität bei. Geboren 1931 in Paris, entkam Pierre Nora als Kind der Verfolgung durch die Gestapo. Diese frühe Erfahrung prägte sein Denken über Geschichte, Gedächtnis und Nation tiefgreifend. In zwei Büchern aus den letzten Jahren legte Nora Memoiren vor, „Jeunesse“ (2022) und „Une étrange obstination“ (2023), um frei über sein Leben als Verleger und Historiker zu berichten und insbesondere seinen Werdegang nachzuzeichnen.

Trump, Musk, Putin: politische Farce bei Philippe Claudel

„Wanted“ (2025) von Philippe Claudel ist eine politische Satire, die zeitgenössische Personen und Machthaber wie Elon Musk, Donald Trump und Wladimir Putin in einer extrem überzeichneten Fabel inszeniert. Der Roman beginnt mit Musks absurd übersteigerter Ankündigung, ein Kopfgeld auf Putin auszusetzen, um das reale politische Spektakel der Gegenwart zu übertreffen und dadurch zu entlarven. Claudel nutzt dabei einen direkten, burlesken und komisch-tragischen Stil, der z.B. Elemente des Westerns aufgreift, um die Akteure als narzisstische „Clowns“ und „Fous“ darzustellen, die alle diplomatischen Usancen sprengen. Unter der Oberfläche von Klamauk und Parodie verbirgt sich eine scharfe Kritik am Einfluss des Geldes auf die Politik, der Erosion von Moral und Dialog in einer Ära der „wild diplomacy“ und der zunehmenden Verbreitung von Ignoranz und Dummheit. Aus einer spezifisch französischen Perspektive, die das Eindringen dieser Figuren in den Alltag empfindet, bietet der Roman eine dystopische Sicht auf eine Welt, in der Fiktion und Realität ununterscheidbar werden und die Macht des Kapitals über Leben und Tod entscheidet. Philippe Claudel, der als Präsident der Académie Goncourt eine wichtige Stimme im französischen Literaturbetrieb ist, setzt Humor als „Waffe“ ein, um dem „allgemeinen Durcheinander“ der Welt entgegenzutreten und den Leser zum Lachen statt zum Verzweifeln einzuladen. Ein Kernthema der Satire ist die Aufhebung der Grenze zwischen bizarrer Realität und plausibler Fiktion, die zeigt, wie Wahnsinn zur glaubwürdigen Realität werden kann. Unter der satirischen Oberfläche transportiert der Roman eine düstere und beunruhigende Botschaft über das kollektive Versagen, das solchen Figuren an die Macht verholfen hat, und die Gefahr einer Welt, die von „cinglés“ (Verrückten) beherrscht wird. Die knappe Form des Romans (ca. 140 Seiten), der begrenzte Personenkreis und die lineare Erzählweise unterstreichen die Direktheit des Angriffs auf die dargestellten Machtfiguren.

Schnitt ins Fleisch: Claire Berest über den Prozess Gisèle Pelicot

Claire Berests „La Chair des autres“ (2025) geht aus ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Dominique Pelicot im Herbst 2024 hervor, den sie zunächst als Reporterin begleitete. Der Ehemann hat über Jahre hinweg Männer in sein Haus eingeladen, um seine mit Medikamenten sedierte Ehefrau, Gisèle Pelicot, ohne deren Wissen sexuell zu missbrauchen. Die Autorin verbindet juristische Protokollierung mit literarischer und philosophischer Reflexion und stellt grundlegende Fragen nach dem Wesen des Bösen, nach der Möglichkeit von Zeugenschaft und nach den kulturellen Voraussetzungen sexueller Gewalt. Dabei bezieht sie sich auf Theoretikerinnen wie Camille Froidevaux-Metterie und Simone Weil, ebenso wie auf Hannah Arendts Konzept der „Banalität des Bösen“ und Roland Barthes‘ Analyse des fait divers. Ein zentraler Vergleich gilt der Leerstelle des Bildes bei KZ-Überlebenden, denen Berest das „wiederhergestellte Bild“ der Vergewaltigungsvideos gegenüberstellt – als Medium der Anerkennung und Sichtbarmachung. Der Text ist keine lineare Reportage, sondern eine vielschichtige Untersuchung darüber, wie Recht, Körper und Sprache in einem kulturellen Kontext verhandelt werden, in dem das Bewusstsein für den Anderen erschreckend lückenhaft erscheint.

Transgression bei Guillaume Lebrun: Jeanne d’Arc und Héliogabale

Guillaume Lebruns Romane „Fantaisies guérillères“ (2022) und „Ravagés de splendeur“ (2025) erzählen Geschichte als Produkt von Fiktion, Macht und Inszenierung. Der Artikel analysiert, wie Lebrun Jeanne d’Arc zur feministischen Medienfigur umcodiert und den römischen Kaiser Héliogabale als transidente Mystikerin der Dekadenz stilisiert. Mittelalter und römische Antike dienen als ästhetischer und ideologischer Resonanzraum für Fragen von Identität und Fiktion: In „Fantaisies guérillères“ wird Jeanne von einer Frauenclique erfunden und strategisch in Szene gesetzt als Symbol weiblicher Gegenmacht. In „Ravagés de splendeur“ führt die Überschreitung in Anlehnung an Antonin Artauds „Héliogabale“ in einen brutalen Tod, dieser Tod markiert die Unvereinbarkeit von Héliogabales Existenz mit einer Ordnung, die das Andere auslöschen muss. Lebrun versteht Literatur als Affektmaschine und Störinstanz – seine Sprache will nicht abbilden, sondern destabilisieren und befreien, in diesen queeren, mythopoetischen Transgressionen.

Postkolonialer Pikaroroman: Zied Bakir

„La naturalisation“ ist ein Roman über den Akt der Einbürgerung, der für den Erzähler nicht den Eintritt in die nationale Gemeinschaft Frankreichs bedeutet, er legt deren groteske Kulissen frei. Elyas Z’Beybi, der Ich-Erzähler des Textes, berichtet in einem dichten, episch-atmenden, satirisch-ernsten Ton von seinem Weg aus einem tunesischen Dorf nach Paris, von seiner Kindheit im Schatten des autoritären Regimes Bourguibas, von gescheiterten Bildungsprojekten, sexueller Frustration, dem Versuch, ein Dichter zu werden, und seinem allmählichen Abrutschen in die Prekarität. Der vorliegende Artikel versteht den Text als Geschichte einer scheiternden Akkulturation und als Reaktivierung und Transformation eines literarischen Modells: des Pikaro, jenes illusionslosen Erzählers von unten, der sich durch eine fragmentierte Welt laviert, ohne je heimisch zu werden. Der Pikaro hat sich als äußerst anschlussfähig für postkoloniale, migrantische Erzählungen erwiesen. „La naturalisation“ verbindet die Elemente dieses Modells mit einer radikalen Gegenwartsanalyse: Der moderne Pikaro trägt ein Smartphone in der Tasche und rezitiert dennoch Victor Hugo. Statt in die französische Gesellschaft aufgenommen zu werden, erfährt der Erzähler immer wieder Ausschluss, Entfremdung und symbolische Erniedrigung. Seine Erzählung ist weder eine klassische Erfolgsgeschichte noch ein lineares Bildungsnarrativ. Vielmehr folgt sie den Umwegen, Sprüngen und Umständen eines postkolonialen Schelms, eines Pikaros in der Migrationsgesellschaft.

Poetiken der Kindheit: Anouk Grinberg, Respect (2025)

Am 13. Mai 2025 wurde Gérard Depardieu vom Pariser Strafgericht wegen sexueller Übergriffe auf zwei Frauen während eines Filmdrehs im Sommer 2021 zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem wird er in das Register für Sexualstraftäter aufgenommen. Die Lektüre von Anouk Grinbergs Buch „Respect“ ist von diesem Prozess nicht zu lösen, die Schauspielerin hat sich während der Verhandlungen mehrfach öffentlich dazu geäußert. Anouk Grinbergs autobiografisches Werk „Respect“ (2025) konfrontiert Leserinnen und Leser mit einer Kindheit, die von Gewalt, Vernachlässigung und der systematischen Zerstörung des Selbst geprägt ist. Die Kindheit ist in diesem Text nicht nur Thema, sondern Ursprung und Motivationsquelle der literarischen Bewegung selbst. Grinberg geht über eine bloße Darstellung von Leid hinaus: Sie untersucht die Mechanismen des Schweigens, der Scham und des Überlebens und entwickelt daraus eine radikale Erzählform, die private Traumata in ein politisches Zeugnis verwandelt. Ausgangspunkt ihres öffentlichen Sprechens war die Unterstützung der Schauspielerin Charlotte Arnould im Verfahren gegen Gérard Depardieu, was schließlich dazu führte, dass Grinberg sich auch ihrer eigenen Geschichte stellte.

Himmlers Zuchtbefehl: Caroline de Mulder

Caroline De Mulders Roman „La pouponnière d’Himmler“ erzählt das Lebensborn-Programm des Nationalsozialismus als Schrecken einer durchideologisierten Kindheit: Kindheit wird nicht als schützenswerte Lebensphase gezeigt, sondern als Produkt eines rassistischen Zuchtprogramms – verwaltet, vermessen, umbenannt und ihrer Herkunft beraubt. Die Körper von Frauen, Kindern und Männern erscheinen nicht als Subjekte, sondern als biopolitisches Material im Dienst einer totalitären Ideologie. Die Frau wird als „Gebärmaschine“ dargestellt, deren Wert sich ausschließlich aus ihrer Reproduktionsfähigkeit für die „Rasse“ ergibt. Renée, die als junge schwangere Französin im Lebensborn-Heim entrechtet wird, Helga, die als Oberschwester zwischen Pflichterfüllung und Schuld taumelt, und Marek, der als Zwangsarbeiter entmenschlicht wird, verkörpern drei Varianten existenzieller Ausgeliefertheit an ein System, das Körper zählt, aber Leben entwertet. Gleichzeitig deutet der Roman an, dass die völlige Indienstnahme der Körper nicht gelingt: In poetischen Momenten innerer Bilder, sinnlicher Erfahrung und zwischenmenschlicher Nähe blitzen Möglichkeiten von Subjektivität auf. Die Erzählerin des Romans versucht im Rückblick, das Schweigen der Vergangenheit zu durchbrechen, und begegnet der historischen Leerstelle mit Sprache, Imagination und dokumentarischen Fragmenten. Die vielstimmige Struktur des Romans – zwischen innerem Monolog, Archivtexten und Gegenwartserzählung – spiegelt die Fragmentierung traumatisierter Kindheiten wider und macht literarisch erfahrbar, was historisch mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945 ausgelöscht werden sollte.

Entwicklung im Negativ: Audrey Jarre

Audrey Jarres Debütroman „Les négatifs“ (2025) ist nicht nur ein Großstadtroman und eine Erkundung weiblicher Subjektivität, sondern zugleich ein Beitrag zur gegenwärtigen Literatur über das Sehen, Gesehenwerden und die Rolle der Bilder. Die fotografische Metaphorik durchzieht den gesamten Roman. Bereits im Motto – einem Zitat aus Roland Barthes‘ „La Chambre claire“ über die Fotografie als „micro-expérience de la mort“ – deutet Jarre an, dass ihr Text in engem Dialog mit der Bildtheorie steht. Die Fotografie wird nicht nur thematisch verhandelt, sondern strukturell implementiert. Erzählt wird die Geschichte der jungen Französin Alice, die ein Auslandspraktikum in New York absolviert und dort in eine intensive und zunehmend toxische Beziehung mit dem Fotografiestudenten Nathan gerät. Das narrative Grundmotiv des Romans ist das Sichtbar-Werden und zugleich das Sich-Entziehen. Zwischen dem Wunsch, sichtbar zu werden, Teil einer urbanen Bohème zu sein, und der Angst, sich selbst zu verlieren, schwankt Alice in einer Welt aus Kunst, Oberfläche, Emotionalität und Bildlichkeit. Die Beziehung zu Nathan, aber auch zu dessen charismatischer Freundin Léonore, wird zur Projektionsfläche für Alices Unsicherheiten und Sehnsüchte.

Paris, Stadt in Ruinen: Philippe Bordas

Philippe Bordas’ Roman „Les Parrhésiens“ (2025) ist eine Hommage an die alten „Parrhésiens“ – jene Pariser, die Rabelais zufolge die Gabe der freien Rede (parrhêsia) mit dem Mut verbanden, alles auszusprechen. Bordas’ Erzähler entdeckt diese ausgestorben geglaubte Spezies in einer verlassenen Turnhalle am Boulevard Montparnasse wieder. Die Begegnung mit diesen wortgewaltigen, körperlich deformierten, aber heroisch auftretenden Männern wird zur literarischen Urszene: Ein sozialer Abstieg, ein körperlicher Aufstieg, eine poetische Wiedergeburt. In der Konfrontation mit der Pariser Marginalität inszeniert Bordas eine Poetik der „parrhêsia“ – widerständig, archaisch, körperlich, ekstatisch. Von der ersten Seite an ist Paris kein Hintergrund, sondern ein Organismus: atmend, schwitzend, alternd. Der Erzähler lebt über dem Friedhof Montparnasse, in einem „belvédère à vertiges“, und blickt auf ein Paris, das sich seiner Auflösung entgegen neigt. Diese Stadt lebt – aber anders als das klischeehafte Paris der Romane, Filme und Reiseführer. Sie lebt als corps malade, als Körper, der von Gentrifizierung, Sprachverfall und sozialer Entwurzelung befallen ist. Dennoch trägt sie Spuren eines alten Lebens, das wieder aufflackert: in den Stimmen der „Parrhésiens“, in den Bewegungen der Körper, in der Gewalt der Rede.

Alchimie des Worts: Hugues Jallon

In „Le cours secret du monde“ (2025) widmet sich Hugues Jallon einer radikalen Revision dessen, was als „geheim“ oder „verborgen“ gilt – nicht aus esoterischem Interesse, sondern als kontrapunktische Suchbewegung gegen das hegemoniale, rationale Weltwissen. Das „Geheime“ ist bei Jallon keine fixe Kategorie, kein abgeschlossener Inhalt oder dogmatisches System. Es ist vielmehr ein Denkraum, eine Öffnung, eine Leerstelle, aus der sich alternative Formen von Geschichte, Wahrnehmung und Weltdeutung ergeben. Die Zuschreibungen an das „Geheime“ im Roman sind vielfältig und bewusst widersprüchlich. Sie zielen darauf, das Verhältnis zwischen Sichtbarkeit, Wahrheit, Wissen und Macht neu zu justieren. Mit einer Einordnung in Bezug auf seine bisherigen Romane.

Tonino Benacquista: Der letzte Verleger

Seine Verlagsfirma ist bankrott, die letzten Mittel sind verbraucht. Die Handlung setzt an einem Wendepunkt ein – dem letzten Tag vor dem Gerichtstermin zur offiziellen Liquidation. Rückblickend erzählt der Protagonist von seiner Verlagsgeschichte, von Autorinnen und Autoren, die er entdeckte oder ablehnte, von Erfolgen und Niederlagen, aber vor allem von seinem Glauben an die Kraft der Literatur. Tonino Benacquistas 2025 erschienener Roman „Tiré de faits irréels“ ist eine tiefmelancholische und zugleich ironisch gebrochene Auseinandersetzung mit der Frage, was Literatur heute noch vermag. Der Text erzählt vom Ende eines unabhängigen Literaturverlags in Paris. Benoît Clerc ist ein egomanischer Autor, der seine banalen Lebenskrisen zu Literatur verklärt und damit den Verfall der literarischen Substanz exemplarisch spiegelt. Die Figur Pierre-Antoine Réa erhält im Verlauf des Romans eine emblematische Bedeutung. Sie steht für das Ideal des wahren Schriftstellers und verkörpert in der Perspektive des Ich-Erzählers – des Verlegers Bertrand Dumas – die Hoffnung auf ein literarisches Wunder, das seine kriselnde Verlagswelt vielleicht noch retten könnte. Wie lässt sich angesichts eines beschleunigten, digitalisierten, ökonomisierten Alltags noch erzählen? Die Antworten, die der Roman gibt, sind fragil, tastend – aber gerade dadurch literarisch glaubwürdig. Der Text ist ein würdiger, stiller, nachdenklicher Beitrag zur späten Moderne, der das Erzählen als kulturellen Überrest und ethische Möglichkeit verteidigt.

Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère

Emmanuel Carrère beschreibt Jahrzehnte nach der Publikation seines Buchs „Le Détroit de Behring“ (1986, dt. „Kleopatras Nase: kleine Geschichte der Uchronie“, 1993.) in seiner Wiederveröffentlichung von 2025, „Uchronie“, mit eigenem Vorwort, seine Bewegung als eine von der Imagination zur Akzeptanz, vom Spiel zur Verantwortung, vom uchronischen Möglichkeitsüberschuss zur gelebten Realität. Die Uchronie bei Carrère ist nicht nur Gattungsbezeichnung, sondern auch ein poetologischer Kommentar: Der Text selbst ist eine Uchronie, reflektiert aber zugleich, was eine Uchronie leisten kann – und wo ihre Grenzen liegen, etwa in seinen Büchern „La Moustache“ oder „Le Royaume“.

Malerei war also Sprache: Intermedialität bei Elsa Gribinski

Nach eigenem Bekunden schreibt Elsa Gribinski Kurzgeschichten, weil sie dicht und kurz schreibt. Dafür kam sie in die Auswahlliste für den Prix Goncourt de la nouvelle 2024. Die sechzehn Texte, die sie in „Toiles: nouvelles“ (Mercure de France, 2024) gesammelt hat, sind besonders unter intermedialen Gesichtspunkten interessant: Jede Fiktion, oder jede „Leinwand“, thematisiert Malerei in einem ästhetischen Kontext, häufig im Alltagszusammenhang. Elsa Gribinski verwendet für jede Geschichte ein spezifisches künstlerisches und intermediales Verfahren, das mit der Thematik und Ästhetik der Erzählung verknüpft ist. Die Erzählungen setzen sich mit Wahrnehmung, künstlerischer Repräsentation und der Flüchtigkeit von Eindrücken auseinander. Jede Geschichte greift dabei nicht nur eine bestimmte malerische Technik auf, sondern überträgt diese in eine literarische Form, sodass sich das Buch als ein intermediales Experiment lesen lässt.

Etwas Unsichtbares streicheln: Debora Levyh

Debora Levyhs Erstlingsroman „La version“ (2023) erforscht die radikale Fremdheit einer Welt, deren Sprache, Zeitverständnis und soziale Organisation sich grundlegend von der unseren unterscheiden. Dieser Artikel zeigt, wie der Text eine literarische Reflexion über die Grenzen der Sprache unternimmt: Die Erzählerin kann die fremde Kultur zwar beobachten und ihre Muster erkennen, doch die Übersetzung in ihre eigene Sprache bleibt unzureichend. Durch das Fehlen fester Identitäten, konstanter Objekte und linearer Erzählstrukturen der fremden Welt erzeugt der Roman eine Atmosphäre der Desorientierung, die Leser dazu zwingt, ihre gewohnten Denkweisen zu hinterfragen. Levyhs Werk wird in den Kontext literarischer Traditionen der poetischen Anthropologie gestellt und mit Werken wie Henri Michaux’ „Voyage en Grande Garabagne“ oder Julio Cortázars „Historias de Cronopios y de Famas“ verglichen, die ebenfalls mit surrealen Gesellschaftsentwürfen experimentieren. Levyhs Poetik der Periphrase bewirkt eine immer leicht verfehlte Annäherung an die Konzepte, wodurch die Sprache nicht als festes System der Bedeutung, sondern als ein fluides Medium erscheint, das der Erfahrung des Unübersetzbaren gerecht wird. Während etwa Dantes Paradiso XXXIII die Unzulänglichkeit menschlicher Sprache angesichts des Göttlichen thematisiert, Edwin Abbotts „Flatland“ anhand eines mathematischen Gedankenexperiments über die verschiedenen Dimensionen veranschaulicht, wie begrenzte Wahrnehmungskategorien die Vorstellungskraft einschränken, verknüpft der Film „Arrival“ von Denis Villeneuve die Entzifferung einer nicht-linearen Schrift von Außerirdischen mit der Erfahrung einer veränderten Zeitwahrnehmung. Das Besondere an „La version“ von Debora Levyh liegt in seiner radikalen Erkundung sprachlicher und kultureller Fremdheit, die den Leser nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch herausfordert. Die Schönheit dieses Schreibens liegt in einer dichten, fast meditativen Atmosphäre, aus der Unmöglichkeit heraus, das völlig Fremde vollständig zu begreifen. Ein Buch für Leser, die sich auf eine intellektuelle und sinnliche Erkundung der Grenzen des Übersetzbaren einlassen möchten.

Der Moment der Wahrheit: Karine Tuil

Karine Tuils „La Guerre par d’autres moyens“ seziert den Zerfall von Macht, Identität und öffentlicher Wahrnehmung: Im Mittelpunkt steht Dan Lehman, ein ehemaliger Präsident Frankreichs der Linken, der nach einer Wahlniederlage in Alkoholismus und Bedeutungslosigkeit versinkt, während seine Ex-Frau Marianne Bassani in der Literatur und seine zweite Frau Hilda Müller im Filmgeschäft neue Karrieren aufbauen. Der Artikel zeigt, wie Tuil subtil Fiktion und Realität verschränkt: Mariannes Roman „À la recherche du désastre“, der als Film adaptiert wird, reflektiert Lehmans Fall und entzieht ihm neben der medialisierten Öffentlichkeit auf andere Weise die Kontrolle über seine eigene Geschichte – eine raffinierte Spiegelung der Mechanismen öffentlicher Demontage. Die Analyse betont zudem die intertextuelle Verbindung zu Philip Roths „My Life as a Man“, die jüdische Identität Lehmans und die Frage nach toxischer Männlichkeit in Politik und Kultur. Tuils Roman erscheint so als eine kluge Reflexion über die Zerstörung öffentlicher Figuren in einer mediengesteuerten Gesellschaft – ein tragikomisches Drama über Macht, Narzissmus und den Kampf um die Deutungshoheit der eigenen Existenz.

Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik: Benjamin de Laforcade

In „Berlin pour elles“ (2024), dem zweiten Roman von Benjamin de Laforcade, bildet die Freundschaft zwischen Hannah und Judith das Zentrum einer Erzählung, die zwischen individueller Nähe und staatlicher Kontrolle entlangführt. Durch die Perspektive zweier Mädchen in der DDR entwickelt der Roman ein anschauliches Bild der ostdeutschen Gesellschaft, das sich zwischen Anpassung, Widerstand und alltäglicher Solidarität bewegt. Laforcade, als französischer Autor mit Außenperspektive auf Ostberlin und als Wahlberliner, nutzt die Freundschaft nicht nur als Erzählmotiv, sondern auch als Mittel zur Untersuchung von Gesellschaftsstrukturen und menschlichen Werten.

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