Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

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Rubriken
(
Les rubriques en français1 ):

Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart

Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.

Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.

Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.

Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.

Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.

Judéité | Französisch-jüdische Literatur ist ein imaginäres Territorium, in dem Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität neu verhandelt werden, etwa genealogische Spurensuche und Fragen kultureller/sprachlicher Identität, politische und historische Fragen.

Recht schaffen | Literatur ist hier ein Instrument, mit dem Recht und Gerechtigkeit nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch verhandelt und hinterfragt werden.

Dialoge | Texte der Gegenwart, die einen Dialog mit Werken der Literaturgeschichte führen, intertextuell, mal kritisch aktualisierend, mal als Hommage oder Transformation.


Neue Artikel und Besprechungen

Überwachen und Erschöpfen: Guillaume Poix nach Michel Foucault

Guillaume Poix‘ Roman „Perpétuité“ (2025, Auswahlliste für den Prix Goncourt) erweitert den Begriff der lebenslangen Haft über das Strafrecht hinaus zu einer existenziellen Dauer, die nicht nur Insassen, sondern auch das Gefängnispersonal erfasst, gefangen in einem System aus Routine, Traumata und unentrinnbarer Zeit. Der Aufseher Pierre hört das metallische „clac“ des Tors in Albträumen. Der alte Pförtner Abraham verbringt seine Nachtwachen gefangen in Erinnerungen an die Vergewaltigung seiner Tochter durch Ex-Häftlinge, wobei Vergangenheit und Gegenwart in einer quälenden Endlosschleife verschmelzen. Selbst Gefängnisleiterin Bianca Mariani, obwohl eine „Kriegerin“ gegen die Überbelegung, ist durch den Suizidversuch ihrer Tochter und die manipulative Konfrontation mit dem Serienmörder Duquesne zutiefst verletzlich. Das Gefängnis, das der Roman als ein überlastetes und dysfunktionales System zeigt, in dem Überwachung zu einem Kaleidoskop individueller Erschöpfung und institutionellen Zerfalls führt, wird in der Aufsatzargumentation als Gesellschaftsdiagnose gedeutet, die es als Brennspiegel einer überlasteten und strukturell ungerechten Spätmoderne darstellt. Dabei wird insbesondere herausgearbeitet, wie Poix Michel Foucaults Konzeption der Disziplinargesellschaft aktualisiert und überwindet, indem er Figuren wie die psychisch zerrütteten Aufseherinnen Houda und Maëva, oder die von Schuldgefühlen geplagte Stellvertreterin Émilie Lavorel in den Mittelpunkt rückt, die alle zeigen, wie das Personal selbst zu Objekten der Macht wird. Der Roman zeigt das Gefängnis somit nicht als Modell disziplinierender Macht, sondern als Symbol für gesellschaftlichen Zerfall, die Unfähigkeit zur Resozialisierung und die teilprivatisierte Verwaltung von Leid, welche alle Beteiligten in einer „Perpétuité“ gefangen hält.

Invasive Pflanzen und drittes Geschlecht: Caroline Lamarche

Caroline Lamarches Roman „Le bel obscur“ (2025, Auswahlliste für den Prix Goncourt) ist eine Erkundung von Liebe, Erinnerung und Geschlechteridentitäten, in der eine Erzählerin nach dem Zerbrechen ihrer Ehe ihre eigene Identität und genealogische Vergangenheit ergründet. Der zentrale Titel „Le bel obscur“ ist eng mit dem verborgenen, queeren Leben ihres Vorfahren Edmond verbunden, dessen Auslöschung aus dem Stammbaum die Unterdrückung seiner irritierende Zwischenstellung repräsentiert. Der Roman dekonstruiert binäre Geschlechterordnungen, indem er Liebe als fluides, unsichtbares Band neu definiert, wobei die Erzählerin die Notwendigkeit des „Dritten“ gegenüber der exklusiven Zweierkonstellation auch für sich selbst als Ehefrau eines homosexuellen Mannes betont. In seiner hybriden Form aus Roman, Essay und Traumprosa transformiert „Le bel obscur“ persönliches Leid in eine universelle poetische Erfahrung, die die Fragilität menschlicher Beziehungen, die Unsichtbarkeit bestimmter Identitäten und die schöpferische Kraft des Erzählens bekräftigt.

Stille nach dem Sturm: Cécile Guilbert

Cécile Guilbert hat sich in früheren Werken wie dem Roman „Les Républicains“ (2017) und der Chroniksammlung „Roue libre“ (2020) als scharfsinnige Diagnostikerin des politischen, intellektuellen und stilistischen Niedergangs Frankreichs und der Gesellschaft etabliert. Ihr jüngstes Buch „Feux sacrés“ (2025) stellt jedoch eine bemerkenswerte Verschiebung dar, indem es sich einer autobiografischen und spirituellen Selbstreflexion zuwendet, die durch persönliche Verluste und die Suche nach Sinn in indischer Philosophie ausgelöst wird. Dieser Aufsatz untersucht, wie diese Hinwendung zu einer „radikalen Innerlichkeit“ in „Feux sacrés“ nicht als Resignation, sondern als eine fortgesetzte, wenn auch andersartige Form des Widerstands gegen die diagnostizierten Dekadenzerscheinungen der modernen Welt verstanden werden kann.

1968 – das Ende der Utopie und der Beginn des Selbst: Bernard Pellegrin und Maren Sell

Bernard Pellegrins Roman „Printemps fragile“ (2025) und Maren Sells memoirenartige Erzählung „Tout est là“ (2025) inszenieren je eine persönliche Geschichtsschreibung von 1968, die grundlegend unterschiedliche Interpretationen des „Mai 68“ zutage fördert: Pellegrins „Printemps fragile“ ist ein fiktionales Werk, das die Lebenswege mehrerer Charaktere über ein halbes Jahrhundert hinweg verfolgt und 1968 als einen kollektiven, aber schließlich desillusionierenden Aufbruch zeichnet. Demgegenüber interpretiert Maren Sell, deutsche Journalistin, Schriftstellerin und Verlegerin, die seit den 1960er Jahren in Paris lebt, die Zeit nach 1968 als eine persönliche Befreiung von der Last des deutschen Schweigens über den Holocaust und eine Abkehr von der „revolutionären Hysterie“ des Terrorismus.

Hinter der Maske: David Thomas

David Thomas’ „Un frère“ (2025, Auswahlliste prix Goncourt) stellt sich einer doppelten Herausforderung: einerseits erzählt der Autor vom Leben und Sterben seines Bruders Édouard, der vier Jahrzehnte an Schizophrenie litt; andererseits reflektiert er zugleich die Schwierigkeit, über psychische Krankheit literarisch zu schreiben, ohne das Subjekt auf seine Diagnose zu reduzieren. Wie kann ein fiktionaler oder literarisch verarbeiteter Text der Erfahrung psychischer Krankheit gerecht werden? Wie lassen sich Leid, Fremdheit und die fragmentierte Wahrnehmung, die Schizophrenie mit sich bringt, in narrative Formen übersetzen, ohne voyeuristisch oder vereinfachend zu wirken?

Brand, Meer, Sandkorn, Stein: Antoine Wauters

Antoine Wauters’ Roman „Haute-Folie“ (Gallimard, 2025) erzählt die Geschichte von Josef, der in eine bäuerliche Familie voller Brüche, Schweigen und Tragödien hineingeboren wird und sein Leben lang gegen die unsichtbaren Lasten seiner Herkunft kämpft. Ausgangspunkt ist ein verheerender Brand, der Hof und Tiere zerstört und eine Kette von Verlusten, Verrat und Tod auslöst, die schließlich in Gewalt, Selbstmord und Schuld mündet. Josef wächst im Schatten dieser Katastrophen auf, zwischen stummen Erwachsenen, zerstörerischen Wiederholungen und dem Zwang, die verdrängte Familiengeschichte mit sich zu tragen – womit sich die Frage verbindet, ob das Aufschreiben eine Form von Befreiung oder eine Wiederholung des Schmerzes darstellt. Wauters’ Prosa arbeitet dabei immer wieder mit lyrisch verdichteten Passagen, die Erinnerungen, Stimmen und Orte ineinanderfließen lassen und die Erfahrung von Verrücktheit (folie) als poetische wie existentielle Grenzerfahrung erfahrbar machen.

Welt im Taumel: Emmanuel Carrère

Emmanuel Carrères „Kolkhoze“ (P.O.L., 2025) ist ein Familien- und Geschichtsepos, das sich über vier Generationen erstreckt. Es verbindet die russisch-georgischen Wurzeln des Autors mit seiner französischen Identität und stellt persönliche Schicksale in den Kontext großer politischer Umbrüche: von stalinistischer Gewalt und Kollaboration im Zweiten Weltkrieg bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine. Carrère verwebt autobiographische Reflexion, Genealogie, politische Philosophie und Geschichtsschreibung, wobei er die Spannung zwischen Erinnern und Verschweigen, Wahrheitssuche und Mythos, privater Intimität und historischer Katastrophe zum literarischen Verfahren erhebt. – Im Zentrum steht die Metapher der Kolchose – historisch Symbol für stalinistische Zwangskollektivierung, im Roman aber zugleich Bild für die Familie als Kollektiv, in dem Wahrheit, Identität und individuelle Freiheit unter kollektive Narrative von Herkunft und Geschichte gedrängt werden. So wird die Familiengeschichte, insbesondere das Schweigen um den kollaborierenden Großvater von Carrère, zum Spiegel für die Mechanismen von Verdrängung und Uchronie in totalitären Systemen. – Die Interpretation arbeitet heraus, wie Carrère die sowjetische Praxis der Geschichtsverfälschung und das Fortleben solcher Mechanismen in Putins Russland thematisiert. Der Roman bindet die Realität des Ukrainekriegs direkt ein und zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit heute militärisch wie symbolisch fortgeführt wird. Carrère schildert Putins Regime als „gigantische Dystopie“, in der die Propaganda eine perverse Umkehrung der Realität betreibt. Damit verbindet sich auch ein Bruch mit der Nachsicht gegenüber seiner Mutter, Hélène Carrère d’Encausse, die lange glaubte, Putin sei brutal, aber rational: Der Roman insistiert auf einer klaren moralischen Position, die Aggression und Imperialismus als solche benennt. Schließlich betont der Aufsatz, dass „Kolkhoze“ über die Familienchronik hinaus ein Buch über die Fragilität europäischer Identität ist. Frankreich wird als Gegenpol eingeführt – Ort offizieller Ehrung und Integration –, während Georgien durch Carrères Cousine Salomé als Hoffnung auf Selbstbestimmung gegen imperiale Ansprüche erscheint. „Kolkhoze“ ist eine doppelte Erkundung: genealogisch und politisch, intim und historisch, ein Plädoyer für die Suche nach Wahrheit und moralischer Klarheit im Angesicht einer von Mythen und Gewalt geprägten Vergangenheit.

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Neue Proben

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Reserve: wieder aufgeblättert

Nackte Realität: zur Neuausgabe des frühen Claude Simon

Claude Simons Roman „La corde raide“ (1947) ist ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Reflexionen, die vom Bad im Meer mit der jungen Véra über Kindheitserinnerungen und Kriegserlebnisse bis hin zu kunsttheoretischen Betrachtungen reichen. Das „straff gespannte Seil“ im Titel steht für eine heikle Balance zwischen Vitalität und Todesbewusstsein, zwischen chaotischer Lebenserfahrung und deren künstlerischer Formung. Die 2025 von den Éditions de Minuit in einem Band mit „Le tricheur“ (1945) neu herausgegebenen Frühwerke des Autors, präsentiert von Mireille Calle-Gruber, waren lange vergriffen, da Simon ihre Wiederauflage zu Lebzeiten nicht wünschte. Calle-Gruber deutet die Texte als poetologisches Laboratorium, in dem bereits Montage, Fragmentierung, Simultaneität der Zeiten und Vorrang der Sinneswahrnehmung vor Handlung erkennbar sind – Techniken, die sein späteres Werk prägen. Die Neuauflage schließt eine Lücke in der Werkgeschichte, indem sie diesen Moment der literarischen Entwicklung wieder zugänglich macht (beide Texte fehlen in der Pléiade-Ausgabe). – Der Artikel interpretiert „La corde raide“ als nicht-lineare Erzählung, als assoziatives Netz von Szenen und Leitmotiven, die durch semantische Felder wie Wasser, Licht, Vegetation, Körper und Bewegung verknüpft sind. Kriegserfahrungen werden nicht heroisch, sondern als chaotische, körperlich-sensorische Realität geschildert; Kindheitsszenen dienen als Ursprungsschicht der Wahrnehmung und Kontrastfolie zur existenziellen Gegenwart. Das Spannungsverhältnis von Schein und Realität ist zentral: Simon kritisiert „Fälschung“ in Kunst und Gesellschaft und sucht eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, wobei Cézanne als positives Gegenmodell zur akademischen Malerei gilt. Architektur, Farb- und Lichtgestaltung werden wie in der Malerei eingesetzt, um Erinnerung und Wahrnehmung zu strukturieren. Insgesamt wird „La corde raide“ als frühe, aber bereits konsequente Erprobung einer Poetik verstanden, die Wahrnehmung, Erinnerung und Form auf einem „Drahtseil“ zwischen Chaos und Struktur balanciert.

Choreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.

Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.

Walzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl

Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.

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Anmerkungen
  1. Les rubriques en français

    Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;

    Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;

    Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;

    Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.

    Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.

    Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.

    Judéité | La littérature juive française est un territoire imaginaire où l’appartenance, la mémoire et l’identité sont renégociées, à travers notamment la recherche de traces généalogiques et des questions d’identité culturelle/linguistique, politiques et historiques.

    Rendre justice | La littérature est ici un instrument qui permet non seulement d’aborder les thèmes du droit et de la justice, mais aussi de les traiter et de les remettre en question sur le plan esthétique.

    Dialogues | Des textes contemporains qui dialoguent avec des œuvres de l’histoire littéraire, de manière intertextuelle, tantôt dans une actualisation critique, tantôt sous forme d’hommage ou de transformation.>>>

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