Welt im Taumel: Emmanuel Carrère

Emmanuel Carrères „Kolkhoze“ (P.O.L., 2025) ist ein Familien- und Geschichtsepos, das sich über vier Generationen erstreckt. Es verbindet die russisch-georgischen Wurzeln des Autors mit seiner französischen Identität und stellt persönliche Schicksale in den Kontext großer politischer Umbrüche: von stalinistischer Gewalt und Kollaboration im Zweiten Weltkrieg bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine. Carrère verwebt autobiographische Reflexion, Genealogie, politische Philosophie und Geschichtsschreibung, wobei er die Spannung zwischen Erinnern und Verschweigen, Wahrheitssuche und Mythos, privater Intimität und historischer Katastrophe zum literarischen Verfahren erhebt. – Im Zentrum steht die Metapher der Kolchose – historisch Symbol für stalinistische Zwangskollektivierung, im Roman aber zugleich Bild für die Familie als Kollektiv, in dem Wahrheit, Identität und individuelle Freiheit unter kollektive Narrative von Herkunft und Geschichte gedrängt werden. So wird die Familiengeschichte, insbesondere das Schweigen um den kollaborierenden Großvater von Carrère, zum Spiegel für die Mechanismen von Verdrängung und Uchronie in totalitären Systemen. – Die Interpretation arbeitet heraus, wie Carrère die sowjetische Praxis der Geschichtsverfälschung und das Fortleben solcher Mechanismen in Putins Russland thematisiert. Der Roman bindet die Realität des Ukrainekriegs direkt ein und zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit heute militärisch wie symbolisch fortgeführt wird. Carrère schildert Putins Regime als „gigantische Dystopie“, in der die Propaganda eine perverse Umkehrung der Realität betreibt. Damit verbindet sich auch ein Bruch mit der Nachsicht gegenüber seiner Mutter, Hélène Carrère d’Encausse, die lange glaubte, Putin sei brutal, aber rational: Der Roman insistiert auf einer klaren moralischen Position, die Aggression und Imperialismus als solche benennt. Schließlich betont der Aufsatz, dass „Kolkhoze“ über die Familienchronik hinaus ein Buch über die Fragilität europäischer Identität ist. Frankreich wird als Gegenpol eingeführt – Ort offizieller Ehrung und Integration –, während Georgien durch Carrères Cousine Salomé als Hoffnung auf Selbstbestimmung gegen imperiale Ansprüche erscheint. „Kolkhoze“ ist eine doppelte Erkundung: genealogisch und politisch, intim und historisch, ein Plädoyer für die Suche nach Wahrheit und moralischer Klarheit im Angesicht einer von Mythen und Gewalt geprägten Vergangenheit.

Poetiken der Kindheit: Emmanuel Carrère, La classe de neige (1995)

Emmanuel Carrères 1995 erschienener Roman „La classe de neige“ ist ein psychologischer Roman, der in einem scheinbar harmlosen Setting – einer Klassenfahrt in ein Skilager – die existenzielle Angst eines Kindes entblößt. Was wie eine einfache Kindheitsgeschichte beginnt, entpuppt sich als düsterer Trip durch die Innenwelt eines Jungen, der sich mehr und mehr vom realen Geschehen entfernt und in einem Albtraum aus Schuld, Furcht, Fremdheit und Gewalt versinkt. Carrères Roman entwirft eine dunkle Poetik der Kindheit: Keine verlorene Unschuld, sondern ein permanenter Ausnahmezustand, in dem das Kind mit Erfahrungen konfrontiert ist, die es kaum zu verarbeiten vermag.

Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère

Emmanuel Carrère beschreibt Jahrzehnte nach der Publikation seines Buchs „Le Détroit de Behring“ (1986, dt. „Kleopatras Nase: kleine Geschichte der Uchronie“, 1993.) in seiner Wiederveröffentlichung von 2025, „Uchronie“, mit eigenem Vorwort, seine Bewegung als eine von der Imagination zur Akzeptanz, vom Spiel zur Verantwortung, vom uchronischen Möglichkeitsüberschuss zur gelebten Realität. Die Uchronie bei Carrère ist nicht nur Gattungsbezeichnung, sondern auch ein poetologischer Kommentar: Der Text selbst ist eine Uchronie, reflektiert aber zugleich, was eine Uchronie leisten kann – und wo ihre Grenzen liegen, etwa in seinen Büchern „La Moustache“ oder „Le Royaume“.

Tippübungen

Ausgerechnet schreiben gegen seine Depression! Un écrivain qui passe six heures par jour enfermé dans sa chambre quand tout le monde se baigne ou se balade, que voudrait-on qu’il fasse d’autre ? Des réussites ? Des jeux vidéo ? Pourtant je m’en défends. Je proteste : « Non, les amis, vous n’y êtes pas ! Pas du tout ! Si je m’enferme …

Weiterlesen

rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.