Der verwaiste Künstlereingang: Patrick Modiano und Christian Mazzalai

„70 bis, entrée des artistes“ (Gallimard, 2025), entstanden in einer unerwarteten Zusammenarbeit zwischen dem Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano und dem Musiker Christian Mazzalai, präsentiert sich als akribische Untersuchung, die die verborgene Geschichte einer einzelnen Pariser Adresse im Herzen des Montparnasse enthüllt: der 70 bis rue Notre-Dame-des-Champs. Basierend auf einem Schatz an Archiven, Fotografien und Kleinanzeigen, rekonstituiert das Werk die Periode vom Zweiten Kaiserreich (ab 1850) bis in die 1960er Jahre. Dieser Ort fungierte jahrzehntelang als ein vibrierendes und äußerst kosmopolitisches Zentrum für über zweihundert Künstlerinnen und Künstler, Musiker, Schriftsteller und Poeten. Die Erzählung beginnt mit der Künstlerkneipe „La Boîte à Thé“ (gegründet um 1850), deren ausschweifendes Treiben – komplettiert durch das Maskottchen, den Affen Jacques – die spätere, nächtliche und internationale Animation Montparnasses vorwegnahm. Illustre und ungleiche Namen, wie der offiziöse Maler Jean-Léon Gérôme, Robert Louis Stevenson (der die dortigen Feste beschrieb), der Dichter Ezra Pound (der von 1921 bis 1924 dort lebte) sowie Pablo Picasso, kreuzten sich in den Ateliers des Gebäudes. Ebenso beleuchtet das Buch das Leben weniger bekannter Künstler und die Kolonien amerikanischer, skandinavischer und japanischer Immigranten, die in den für Frauen geöffneten Akademien der Umgebung malen lernten. In seiner melancholischen Gedächtnisarbeit knüpft „70 bis“ unmittelbar an Patrick Modianos literarisches Oeuvre an, indem es präzise Adressen und die flüchtigen Spuren der Vergangenheit nutzt, um die Geschichte der verschwundenen Existenzen freizulegen. Die detektivische Suche (die Modiano und Mazzalai als „chasse au trésor“ bezeichnen) erweckt Figuren zum Leben, die in den Schatten der offiziellen Geschichte verblieben. Dazu gehören die rebellische und surrealistisch orientierte Künstlerin Claude Cahun oder der mysteriöse Georges Ivanovitch Gurdjieff, ein Guru, dessen Auftritte in Modianos Werk („Souvenirs dormants“) nachhallen. Besonders pointiert ist die Erzählung über den ukrainischen Maler Samuel Granowsky, den „Cow-boy de Montparnasse“, der 1942 bei der Razzia des Vél’d’Hiv verhaftet und in Auschwitz ermordet wurde. Die Gedächtnisarbeit reicht bis in die dunklen Jahre der Besatzung (Années noires), in denen im 70 bis eine amerikanische Bildhauerin Masken für entstellte Soldaten fertigte, und die das Viertel seiner einstigen Brillanz beraubten. Der Text schließt mit der Feststellung, dass das Viertel Montparnasse seine künstlerische Seele weitgehend verloren hat, was sich in der existentiellen Frage am Ende des Buches kristallisiert: „Où sont les artistes?“

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Choreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.

Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.

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