Verwerfungslinien in uns: Mathias Énard, „Mélancolie des confins. Nord“

Il y a en nous des lignes invisibles que nous franchissons sans espoir de retour, pensais-je alors que le grésil épaississait la nuit berlinoise. Il y a des mo­­ments où, com­me un pays déchiré soudain par la guerre, nous nous brisons, nous nous ouvrons en deux au gré d’une ligne de faille qui préexistait en nous, invisible. Des frontières devien­nent des béances qui nous séparent de nous-mêmes.

Mathias Énard, Mélancolie des confins. Nord. Im Folgenden: McN.

Es gibt unsichtbare Linien in uns, die wir ohne Hoffnung auf Rückkehr überschreiten, dachte ich, während der Graupelschauer die Berliner Nacht eintrübte. Es gibt Momente, in denen wir wie ein Land, das plötzlich vom Krieg zerrissen wird, zerbrechen, an einer unsichtbaren Verwerfungslinie, die schon vorher in uns existierte, und uns in zwei Teile aufspalten. Grenzen werden zu Gräben, die uns von uns selbst trennen.

Mathias Énard ist einer der deutschlandaffinen Autoren der französischen Gegenwartsliteratur; wir begleiten den Erzähler in ein Berlin, in dem persönliche Verluste, kollektive Traumata und die literarische Tradition in einem eindrucksvollen Narrativ miteinander verschmelzen. Sein jüngstes Werk, Mélancolie des confins. Nord, bildet den Auftakt einer Tetralogie über die Vergänglichkeit historischer Grenzen, verwebt erneut intime und historische Ebenen und verwischt in diesen einsamen Promenaden (denn das sind die Kapitel eher als Teile eines Romans) Literatur, Geschichte und Geografie. Das titelgebende Grenzmotiv ist mit Übergang verbunden. Diese physischen wie inneren Übergänge symbolisieren die komplexen inneren Kämpfe der Charaktere. Die Grenze zwischen Erinnerungen und Gegenwart wird immer wieder thematisiert, was zu einer ständigen Spannung führt zwischen dem, was war, und dem, was heute ist.

J’eus soudain la sensation, en grelottant dans la bruine aux abords de la gare de Beelitz, que seules la promenade et la marche convenaient à la littérature, com­me on rêve, l’automne venu, aux insectes dont le dernier vol erratique de fleur mourante en fleur morte et le bourdonnement terminal rappellent pour nous, sautant par-­dessus l’hiver, le printemps qui viendra. L’errance était la seule façon d’explorer les bordures, les marches de la littérature et des empires, les sillons où reposent les guerriers, littérature des limites et poésie des confins.

(Énard, McN.)

Als ich in der Nähe des Bahnhofs Beelitz im Nieselregen fror, hatte ich plötzlich das Empfinden, dass nur Flanieren und Wandern für die Literatur geeignet seien, so wie man im Herbst von den Insekten träumt, deren letzter Wanderflug von absterbender Blume zu abgestorbener Blume und deren endloses Summen uns über den Winter hinweg an den kommenden Frühling erinnert. Das Umherwandern war die einzige Möglichkeit, die Ränder zu erforschen, die Wanderrouten der Literatur und der Imperien, die Gräben, in denen die Krieger ruhen, Literatur der Frontlinien und Poesie der Grenzbereiche.

Enard verwendet eine nicht-lineare Erzählweise, die dem Leser eine fragmentarische Sicht auf die Gedanken und Erinnerungen des Protagonisten bietet. Diese Struktur spiegelt die Zerrissenheit und die Komplexität seiner inneren Welt wider. Die Erinnerungen erscheinen oft in Form von Assoziationen, die an ein flottierendes Bewusstseins erinnern, eine literarische Form, die Verwirrung und Schmerz, Verlust und Trauer nachvollziehen lassen. Schließlich greift Énard auch die romantische Ästhetik des Fragmentarischen auf, indem er mit offenen Erzählstrukturen und poetischen Einschüben arbeitet. Der Roman wechselt zwischen narrativen Episoden und lyrischen Reflexionen, was eine fragmentierte, aber dennoch intensive Wahrnehmung der Realität ermöglicht. Diese Struktur erinnert an das romantische Streben nach einer Unvollständigkeit, das als Ausdruck einer Weltanschauung dient, die das Unendliche im Endlichen sucht. Die Ambivalenzen des Buches werden etwa deutlich, wenn Enard in einem Kapitel die belgische Grenzstadt „Maubeuge im Mondschein“ betrachtet, als Raum des Übergangs und der Reflexion. Im Kapitel über den „Champagner der Freunde“ ist Freundschaft keine statische Harmonie, sondern durchaus geprägt von Distanz, Missverständnissen und unausgesprochenen Konflikten. Sie spiegelt die Grenzen zwischen Individuen wider und zeigt, dass Nähe nicht immer Überwindung bedeutet. Gleichzeitig wird Freundschaft zu einem Raum, in dem diese Grenzen sichtbar und verhandelbar werden. Und im Kapitel „Freude im Leichentuch“ lotet der Erzähler die Möglichkeit aus, selbst im Verlust, in der Endlichkeit und angesichts des Todes einen Sinn zu finden. Die Grenzerfahrungen, die das Werk durchziehen, führen letztlich zu einer Akzeptanz der eigenen Verortung in einem ständigen Fluss von Zeit, Raum und Identität.

Gefrorne Tränen

Ein gewaltsames Drängen, und dann erschöpft zurückgeschlagen; er lag in den heißesten Tränen. Und dann bekam er plötzlich eine Stärke und erhob sich kalt und gleichgültig, seine Tränen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter. Alles strömte wieder zusammen.

(Georg Büchner, Lenz.)

Wilhelm Müllers Gedicht „Gefrorne Tropfen fallen“ (das dritte Gedicht aus dem von Schubert vertonten Zyklus der Winterreise) und Mathias Énards Mélancolie des confins. Nord nutzen die Kälte als zentrale Metapher für emotionale und existenzielle Zustände, Énard zitiert Müllers Gedicht als „Larmes gelées“:

Gefrorne Tropfen fallen
Von meinen Wangen ab:
Und ist’s mir denn entgangen,
Daß ich geweinet hab’?

(Wilhelm Müller, Winterreise.)
Samuel Hasselhorn: „Gefrorne Tränen“, aus Schuberts Winterreise.

Beide Texte setzen Kälte ein, um die Spannungen zwischen innerer Wärme und äußerer Erstarrung, zwischen Emotion und Isolation sowie zwischen Leben und Tod zu erforschen. Die gefrorenen Tränen stehen bei Müller für die Diskrepanz zwischen der glühenden Hitze des inneren Schmerzes und der äußerlichen Objektivierung und Erstarrung. Diese Konstellation spiegelt sich in Énards Roman wider, insbesondere in der Beschreibung der herbstlich-winterlichen Erfahrung der Landschaften Brandenburgs und der deutschen Hauptstadt Berlin. Wie bei Müller steht die Kälte nicht nur für äußere Umstände, sondern auch für eine Erstarrung und Verletzlichkeit des Subjekts, welche durch Verlust und Erinnerung ausgelöst werden.

Die Verbindung zwischen der äußeren Welt und der inneren Verfassung von Büchners Lenz bei Mathias Énard schafft eine dichte, atmosphärische Erzählung der Rastlosigkeit: “Ich würde die Georg-Büchner-Buchhandlung wie Jakob Lenz in Waldersbach erreichen, nachdem ich den Berg überquert hatte. In Büchners Novelle Lenz ist alles eine Reise, alles eine Verlagerung. Lenz reist, Oberlin reist, Kaufmann reist; die Dämmerung und die Angst reisen.” 1  Während Autobiographisches traditionell als Ausdruck von Innerlichkeit verstanden wurde, thematisierte Manfred Schneiders einschlägige Studie Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert eine zunehmende Distanzierung der Autoren von der Herzensschrift. Die „erkaltete Herzensschrift“ deutet laut Schneider darauf hin, dass autobiografische Texte in der Moderne weniger als unmittelbare Selbstoffenbarungen, sondern vielmehr als literarisch konstruierte, reflektierte und oft ironisch gebrochene Werke wahrgenommen werden. Énard schreibt, das Licht der Erinnerung ist ein sehr kaltes: „Certes elle est bien froide, la lumière de la mé­moire, pensais-je, même lorsqu’elle éclaire des œu­­vres d’art.“ Die metaphorische „Kälte“ in Schneiders Titel steht für die Entfremdung vom romantischen Ideal der Authentizität und für die Betonung der künstlichen, fragmentarischen und oft spielerischen Natur moderner Autobiografien. Durchaus beides findet sich in Mélancolie des confins. Nord von Enard und der Weise, wie er unter anderem Büchners Lenz mit dem eigenen Buch verwebt: Die dunkle Psychologie des Dichters des Sturm und Drang, Jakob Michael Reinhold Lenz, wird in Enards Kapitel “Lenz” mit seinen eigenen melancholischen Erlebnissen in Berlin in Verbindung gesetzt; auch Enard verbindet die Themen Isolation und Wahn(sinn), auch er beobachtet die Natur als Seelenlandschaft, wie sie die innere Zerrissenheit von Lenz widerspiegelt. Einmal wird Énard bei der Betrachtung von arabischer Wolkenliteratur und ihrer Fortführung bei Goethe den Autor als Jupiter benennen, der den Himmel organisiert, so wie Énard selbst mit seiner Tetralogie die vier Himmelsrichtungen organisieren wird:

Le ciel se couvre de soupirs : toutes les poitrines déchirées fuient vers les nuées.

Goethe est notre Jupiter : il organise les cieux.

(Énard, McN.)

Der Himmel bedeckt sich mit Seufzern: jede zerrissene Brust flieht zu den Wolken.

Goethe ist unser Jupiter: Er organisiert den Himmel.

Enard zitiert auch Büchners Blick auf die Wolken, die wie wilde, ungezähmte Pferde durch den Himmel ziehen – wie durch die emotionale Not des Protagonisten. Seine Auseinandersetzung mit dem Lenz weist auf die grundlegende Verbindung zwischen Literatur, Erinnerung und der melancholischen Verfassung des Menschen in einer sich unaufhaltsam verändernden Welt.

La Dantziger­strasse, avec son tramway et son côté autoroute est-allemande m’enfonçait un peu plus dans la mé­­lancolie ; je me rendais compte, en observant les gens dans les vitrines des salons de thé, en suivant des yeux les cyclistes bringuebalant sur les pavés, que je n’avais envie de parler à personne, que je cherchais une forme de dissolution du moi dans le paysage urbain. Je résolus, face à la déprime de la Dantziger­strasse, d’aller me perdre dans les rayonnages de la librairie Georg Büchner toute proche, qui devait encore être ouverte : la présence des livres était toujours pour moi une consolation, un abîme heureux dans lequel s’oublier quel­ques se­­con­des ou quel­ques heures, à l’ombre attristée de l’auteur de Lenz.

(Énard, McN.)

Die Danziger Straße mit ihrer Straßenbahn und ihrer ostdeutschen Autostraße trieb mich noch tiefer in die Melancholie; ich merkte, als ich die Menschen in den Schaufenstern der Teestuben beobachtete und den über das Kopfsteinpflaster holpernden Radfahrern mit den Augen folgte, dass ich mit niemandem sprechen wollte, dass ich eine Form der Auflösung des Ichs in der Stadtlandschaft suchte. Ich beschloss, mich angesichts der Niedergeschlagenheit der Danziger Straße in den Regalen der nahe gelegenen Georg-Büchner-Buchhandlung zu verlieren, die noch geöffnet sein musste: Die Anwesenheit von Büchern war für mich immer ein Trost, ein glücklicher Abgrund, in dem man sich für ein paar Sekunden oder Stunden im traurigen Schatten des Autors von Lenz vergessen konnte.

Berlin, störrische Romantik

Mathias Énards Mélancolie des confins zeichnet gleichwohl ein facettenreiches Bild von Berlin, das historische, soziale und kulturelle Dimensionen miteinander verbindet. Er ist sich durchaus bewusst, für romantische Geschichtsmeditationen in der Hauptstadt Preußens eigentlich am falschen Ort zu sein: “[…] car Berlin est rétif au romantisme : Berlin sera la ville de Theodor Fontane, de l’empire, de Bismarck et de Néfertiti mais pas celle des romantiques.” Im Roman erscheint Berlin als eine Stadt der Gegensätze, geprägt von den Spuren des 20. Jahrhunderts und dem ständigen Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Les portes et fenêtres du rez-de-jardin étaient obstruées par des plan­ches de contreplaqué qui n’empêchaient pas les curieux (photographes débutants, explorateurs urbains, jeunes à la recher­che d’aventures) d’entrer pour visiter ce musée du Délabrement. Car il n’y avait rien d’au­­tre à voir, dans l’ancienne clinique, que les effets du passage du temps.

(Énard, McN.)

Die Fenster und Türen des Gartengeschosses waren mit Sperrholzbrettern versperrt, die Neugierige (Anfängerfotografen, Stadtforscher, Jugendliche auf der Suche nach Abenteuern) nicht davon abhielten, das Museum des Verfalls zu betreten. Denn in der ehemaligen Klinik gab es nichts anderes zu sehen als die Auswirkungen des Laufs der Zeit.

Die Handlung beginnt mit der Klinik Beelitz, einem Ort voller historischer Resonanz. Hier liegt E., eine enge Freundin des Erzählers, nach einem schweren Unfall im Koma. Dieser persönliche Schicksalsschlag bildet den Ausgangspunkt für eine Wanderung des Erzählers durch Berlin, die nicht nur geografisch, sondern auch emotional und intellektuell bedeutsam ist. Der Erzähler wechselt dabei zwischen der Trauer um seine Freundin und den historischen Lasten der Stadt. Es ist zugleich eine Reise durch die Zeit: Énard durchstreift die Stadt wie ein Archäologe, enthüllt Schicht um Schicht ihrer Geschichte – von den Ruinen der Weltkriege bis zur Gegenwart, geprägt von Flüchtlingsströmen und etwa im Prenzlauer Berg von sozialer Spannung – in diesem proletarischen Stadtviertel Ost-Berlins, das nach der Wiedervereinigung weitgehend gentrifiziert wurde. Immer wieder rückt Énard literarische Verweise ins Zentrum: von Thomas Mann über W. G. Sebald bis hin zu Chamisso, Büchner und Fontane. Diese literarischen Reflexionen dienen nicht nur der Erweiterung des erzählerischen Horizonts, sondern auch als trostspendende Begleiter in der Dunkelheit.

Bereits Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg beschreiben Grenzen nicht nur, sondern hinterfragen und überschreiten sie auch. Geografische, historische, kulturelle und soziale Grenzen werden bei Fontane zu einem zentralen Thema, das die Vielschichtigkeit der Mark Brandenburg und ihrer Geschichte sichtbar macht. Burgen, Schlösser und Ruinen markieren eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Diese Orte sind häufig auch bei Fontane Schauplätze von Konflikten, die die Geschichte der Mark Brandenburg prägten, wie etwa die Schlachtfelder von Fehrbellin: Beim Besuch des Schlachtfelds reflektiert der Autor über die Toten, deren Ruhm längst verblasst ist, die Erinnerung an Gewalt und Tod bleibt in der scheinbar friedlichen Landschaft präsent. Die Urbarmachung des Oderbruchs, wie Fontane (und Énard) sie beschreibt,  war nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein politisches Projekt. Sie diente dazu, die östliche Grenze Brandenburgs zu stabilisieren und strategisch zu sichern. Auch Fontane überschreitet in seinem Werk Gattungsgrenzen, er verbindet Reisebericht, historische Erzählung und persönliche Reflexion. Fontanes Wanderungen sind wie Enards Buch nicht frei von Geschichtsmelancholie, etwa in seinen Beschreibungen des Schlosses Rheinsberg und der heute in den Ruinen verblassten glanzvollen Zeit Friedrichs des Großen und seiner Hofgesellschaft. Die verfallene Klosterkirche Chorin, eingebettet in eine idyllische Landschaft, wird von Fontane als Ort voller Schönheit und Trauer beschrieben. Die einstige Bedeutung des Klosters ist unwiederbringlich Vergangenheit, und die Natur erobert das Bauwerk zurück. In den Kapiteln über die Wenden thematisiert Fontane den Verlust einer eigenständigen Kultur, die durch Assimilation und historische Umbrüche verdrängt wurde. Ihre Spuren finden sich nur noch in Ortsnamen, Sagen und Bräuchen. Fontane verdichtet in seinen Wanderungen literarisch die historischen, kulturellen und persönlichen Dimensionen der Melancholie, diese ist jedoch nicht nur Ausdruck von Trauer, sondern auch von Schönheit und Einsicht.

Énards Stil in Mélancolie des confins. Nord zeichnet sich durch poetische Sätze einer fast musikalischen Rhythmik aus. Sie fangen die trübsinnige Schönheit Berlins ein. Der rastlose Erzähler ist ein wandelndes Lexikon, dessen Wissen über Geschichte, Literatur und Kunst den Leser fordert, aber auch belohnt. Dahinter steht eine intertextuelle Poetologie, die Énard mit einer zellbiologischen Metapher begründet:

La loi de Virchow : toutes les cellules provien­nent de cellules, et tous les livres provien­nent de livres, tous les textes provien­nent de textes. On a longtemps pensé que les textes et les livres naissaient des mots, mais non, ils provien­nent d’au­­tres textes, d’au­­tres livres, com­me les cellules du corps humain. J’hésitais à sortir Lenz de Büchner de ma po­­che ; dehors, le soir avait transformé les bourrasques de grésil en averse de neige. Regarder par la fenêtre me donnait froid.

(Énard, McN.)

Das Virchowsche Gesetz: Alle Zellen stammen von Zellen ab, und alle Bücher stammen von Büchern, alle Texte von Texten. Lange Zeit dachte man, dass Texte und Bücher aus Wörtern entstehen, aber nein, sie stammen aus anderen Texten, aus anderen Büchern, wie die Zellen des menschlichen Körpers. Ich zögerte, Büchners Lenz aus meiner Tasche zu ziehen; draußen hatte der Abend die Graupelschauer in Schneeregen verwandelt. Der Blick aus dem Fenster ließ mich frieren.

Énards Umgang mit dem Motiv der Grenze wird mit den kommenden drei Büchern der Tetralogie sicher noch wie eine Virchow’sche Zellenkultur vervielfacht. Berlin als Stadt der Teilung und Wiedervereinigung wird auch Symbol für die Überwindung von Schranken – seien sie physischer, emotionaler oder literarischer Natur. Dieses Spiel mit Grenzen findet sich auch in der Struktur des Romans wieder: Énard springt zwischen den Episoden und Themen, seine Gelehrtheit erscheint dabei selten eitel, sondern meist nachvollziehbar in die Erzählung integriert.

C’est un au­­tre mo­­ment de la nuit berlinoise – cette première heure de la ténèbre de l’automne, alors que le couchant, loin, illumine encore le sud de la ville. Les lon­gues places de Berlin, jungle d’arbres et de fourrés, sont plongées dans l’obscurité et le passant, de plus en plus rare au gré de la fermeture des boutiques, rase les murs, non par peur d’un hypothétique agresseur, mais parce que c’est près du mur que se trou­vent les halos, les flaques de lumière, l’odeur acide de bière et de tabac froid d’une Kneipe où pénètre un habitué, et on ignore si toute la tristesse de Berlin s’engouffre d’un coup dans le rade en même temps que le courant d’air ou si, avec les effluves de chou tardif et de clope rance, c’est la ville qui se teinte de sa mélancolie si particulière.

(Énard, McN.)

Dies ist ein weiterer Moment der Berliner Nacht – diese erste Stunde der Herbstfinsternis, während der Sonnenuntergang in der Ferne noch den Süden der Stadt beleuchtet. Die weitläufigen Plätze Berlins, ein Dschungel aus Bäumen und Dickicht, sind in Dunkelheit gehüllt, und die Passanten, die mit der Schließung der Geschäfte immer seltener werden, streifen die Mauern, nicht aus Angst vor einem hypothetischen Angreifer, sondern weil sich in der Nähe der Mauer die Flecken der Lichthöfe befinden, der säuerliche Geruch von Bier und kaltem Tabak einer Kneipe, in die ein Stammgast einkehrt, und man weiß nicht, ob die ganze Tristesse Berlins auf einmal mit diesem Luftzug in die Kneipe eindringt oder ob mit den Ausdünstungen von Winterkohl und ranziger Kippe die Stadt in ihre ganz besondere Melancholie getaucht wird.

Die großen Themen des Romans sind Verlust, Erinnerung, Freundschaft und die Möglichkeiten der Literatur. Die Krankheit der Freundin E. spiegelt sich in der urbanen Melancholie Berlins wider, während die Auseinandersetzung mit literarischen und historischen Figuren die Frage aufwirft, wie Menschen mit Verlust und Trauma umgehen. Énard zeigt, dass Literatur ein Ort des Trosts sein kann, aber auch ein Raum, in dem die Abgründe des Menschseins erforscht werden.

Que me revienne un poème dans la nuit berlinoise, alors qu’il me semble avoir perdu mon ombre, et mon passé : les villes auxquelles on retourne, en rêve, malgré soi dans le sommeil, auprès de ces objets d’amour et de désir secret que l’amitié a écartés de vous com­me le temps construit un mur invisible entre celui que vous êtes au­­jour­d’hui, écrasé par la mélancolie, et celui d’hier, quand encore tous les possibles de la ville ne s’étaient pas refermés pour pren­dre leur sens précis et univoque, et le poème qui me revient est terrible de renoncement, de présence de la mort au cœur de la vie, ce qui est la définition même de la mélancolie, la présence des écailles de la mort, de ses squames, tout autour de vous […]

(Énard, McN.)

Dass mir ein Gedicht in der Berliner Nacht wieder einfällt, während ich meinen Schatten und meine Vergangenheit verloren zu haben scheine : die Städte, in die man zurückkehrt, im Traum, wider Willen im Schlaf, zu den Objekten der Liebe und des geheimen Verlangens, die die Freundschaft von einem entfernt hat, so wie die Zeit eine unsichtbare Mauer zwischen dem, der man heute ist, von der Melancholie erdrückt, und dem von gestern errichtet, als sich noch nicht alle Möglichkeiten der Stadt geschlossen hatten, um ihre präzise und eindeutige Bedeutung anzunehmen, und das Gedicht, das mir einfällt, ist schrecklich vor Verzicht, vor der Präsenz des Todes im Herzen des Lebens, was die Definition der Melancholie selbst ist, die Präsenz der Schuppen des Todes, seiner Hautschuppen, überall um Sie herum […].

Rami, Kollwitz und Heidegger

Symbolisch stark aufgeladen ist Enards Darstellung der Flüchtlingskrise, die er in den Kontext historischer Flüchtlingsbewegungen setzt: Ein syrischer Geflüchteter, Rami, dessen Psyche von Folter und Krieg zerbrochen ist, wird zu einer der zentralen Figuren des Romans. Seine Geschichte wirft die Frage auf, ob und wie die Literatur solche Traumata bearbeiten kann.

La littérature s’arrête parfois brus­quement, elle change de cours, elle s’envole, rarement, franchit des distances im­­men­ses et puis s’interrompt, tombe dans le silence, dans l’interruption, com­me malgré lui Italo Svevo dans son Court voyage sentimental laisse un texte en suspens, en suspension […]

(Énard, McN.)

Die Literatur hält manchmal abrupt inne, sie ändert ihren Kurs, sie fliegt, nur selten, überwindet riesige Entfernungen und bricht dann ab, verfällt in Stille, in die Unterbrechung, wie wider Willen Italo Svevo in seiner Kurzen sentimentalen Reise einen Text ungelöst und aufgehoben belässt […].

So wie der traumatisierte Rami, den Énard einmal mit Büchners Lenz vergleicht, plötzlich aufhört zu reden, von Schweigeanfällen übermannt wird und wie seine starren Augen sichtbar machen, dass jedes Wort unmöglich geworden ist, so lässt Énard auch die Literatur mitunter verstummen. Was hingegen nicht verstummt, sind die Verwaltungsakte und Datenströme der Migration nach Europa:

En avançant dans Berlin som­bre et désert je ressentais à la fois ce qui me poursuivait et grandissait en moi. L’époque était celle des désastres. L’accident de E. était le plus personnel, peut-être, et j’ignorais com­ment échapper à ce vide. Berlin avait changé de couleur. L’afflux de réfugiés syriens remplissait la ville des victimes de la guerre, des cris des torturés, des bombardements massifs. Des centaines de milliers de person­nes, hom­mes, fem­mes, enfants faisaient la queue devant des bureaux débordés. Il fallait traduire, aider, mon­trer, loger, scolariser, nourrir, écouter. Les récits étaient effrayants. Les quartiers rebelles de Homs avaient été rayés de la carte. La Ghouta était bombardée par les chars et les hélico­ptères du régime qui lâchaient des barils remplis d’explosifs sur des civils sans la moin­dre possibilité de défense. La campagne d’Alep était parcourue par des djihadistes de toutes barbes qui rançonnaient les habitants quand ils ne les égorgeaient pas tout simplement pour telle ou telle raison, le plaisir étant l’une de ces raisons. La foule des déplacés parvenait à Berlin, après une traversée atroce des Balkans, après avoir réussi à échapper aux Grecs ou aux Bulgares qui les parquaient dans des camps surpeuplés. Beaucoup découvraient à Berlin, après des heures d’attente, que leur demande d’asile ne pouvait être examinée car ils avaient déjà rempli un dossier ailleurs, ou tout simplement, sans même le savoir, laissé leurs empreintes digitales quel­que part en Roumanie ou en Italie. Cette Union européenne in­­ca­pa­ble de met­tre un terme à la guerre s’y entendait en revanche quant à la circulation des données des migrants que le conflit provoquait.

(Énard, McN.)

Als ich mich durch das dunkle und verlassene Berlin bewegte, spürte ich gleichzeitig, was mich verfolgte und in mir wuchs. Es war eine Zeit der Katastrophen. E.s Unfall war vielleicht der persönlichste, und ich wusste nicht, wie ich dieser Leere entkommen sollte. Berlin hatte seine Farbe gewechselt. Der Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien füllte die Stadt mit den Opfern des Krieges, den Schreien der Gefolterten und den massiven Bombenangriffen. Hunderttausende Menschen, Männer, Frauen und Kinder standen vor den überfüllten Ämtern in langen Schlangen. Es musste übersetzt, geholfen, gezeigt, untergebracht, eingeschult, ernährt und zugehört werden. Die Erzählungen waren erschreckend. Die Rebellenviertel in Homs waren von der Landkarte getilgt worden. Ghouta wurde von Panzern und Hubschraubern des Regimes bombardiert, die mit Sprengstoff gefüllte Fässer auf Zivilisten ohne jede Verteidigungsmöglichkeit abwarfen. Die Landschaft um Aleppo war von Dschihadisten mit allen möglichen Bärten durchzogen, die von den Einwohnern Lösegeld verlangten, wenn sie ihnen nicht einfach aus irgendeinem Grund die Kehle durchschnitten, wobei Spaß einer der Gründe war. Die Massen der Vertriebenen erreichten Berlin nach einer qualvollen Reise über den Balkan, nachdem sie den Griechen oder Bulgaren entwischt waren, die sie in überfüllte Lager gepfercht hatten. Viele stellten in Berlin nach stundenlangem Warten fest, dass ihr Asylantrag nicht geprüft werden konnte, weil sie bereits anderswo einen Antrag gestellt hatten oder einfach, ohne es zu wissen, irgendwo in Rumänien oder Italien ihre Fingerabdrücke hinterlassen hatten. Die Europäische Union, die nicht in der Lage war, den Krieg zu beenden, war sich jedoch einig über den Datenfluss der Migranten, die der Konflikt verursachte.

Käthe Kollwitz, deren Werk im Roman eine zentrale Rolle spielt, Énard liest sie als Künstlerin, die individuelle Trauer mit der kollektiven verbindet und durch die Kunst sublimiert. Énard stellt ihr Werk als tief von persönlichen Verlusten und einer radikalen Empathie für menschliches Leiden geprägt dar. Ihr Schmerz über den Tod ihres Sohnes Peter im Ersten Weltkrieg wird zur treibenden Kraft ihrer Kunst, sie wird für den Erzähler zu einer Verkörperung der menschlichen Verletzlichkeit. Im Gegensatz dazu zeichnet Énard Martin Heidegger als jemanden, der das Leiden abstrahiert und sich emotional distanziert. Heideggers Philosophie, insbesondere seine Ontologie, wird in ihrer Konzentration auf das Sein als unnahbar beschrieben und steht im Gegensatz zur tiefen Menschlichkeit, die Kollwitz’ Werk durchdringt. Während Kollwitz die Tragik des Lebens durch Kunst durcharbeitet, strebt Heidegger nach einer universellen Perspektive, die den individuellen Schmerz hinter sich lässt.

Enzyklopädie der Wolken

Trotz seiner kraftvollen Bilder und vieler Stärken ist Mélancolie des confins. Nord kein leicht zugängliches Werk. Auch die episodische Struktur des Romans, die von einer festen Handlung eher abstrahiert, könnte einige Leser irritieren, andere umso mehr faszinieren: Für diejenigen, die bereit sind, sich auf die sprachliche und thematische Komplexität des Buches einzulassen, bietet es eine nachhaltige Erfahrung. – Wie werden die kommenden Bände dieser Tetralogie konzipiert werden? Wird der Osten ein russischer Winter, der Süden ein arabischer Frühling? Wird der Westen eine Reflexion der europäischen Enttäuschung über die gegenwärtigen USA oder eine Kolonialismusstudie des globalen Südens? Wird nach der Geschichtsmelancholie auch eine Zukunftsorientierung oder gar Utopie möglich? In einem Gespräch mit der Pariser Maison de la Poésie hat der Autor bereits die Themen der kommenden zwei Bände angekündigt: Der zweite Band wird die europäischen Flüsse und insbesondere den Balkan zum Thema nehmen, der dritte Band ausgehend von Lissabon die iberische Halbinsel.

Dans le volume espagnol, ce sera la bataille des trois rois et vous saurez ce qu’est la bataille des
trois rois si vous ne le savez pas encore en lisant le troisième volume. Le volume qui va apparaître bientôt, qui sera Est, si Dieu me prête vie, c’est sur la bataille de l’Isonzo. Je m’intéresse à cette première frontière qui est ce fleuve, l’Isonzo, qui est entre l’Italie et l’Autriche-Hongrie à l’époque, Plusieurs, six batailles de la Première Guerre mondiale. La fameuse bataille de Caporetto qui est une des plus grandes, en tout cas des plus célèbres défaites de l’histoire de l’armée italienne et une des victoires de l’Autriche-Hongrie. Pour l’histoire de l’Autriche-Hongrie, évidemment anecdotique puisque l’Empire va disparaître deux ans plus tard. Donc la frontière qui m’intéresse là, dans ce volume sur les Balkans qui ira depuis Lisonzo jusqu’au Bosphore, c’est là aussi une espèce de limite de l’idée d’Europe. Comment est-ce qu’elle s’est fabriquée ? Jusqu’où elle va ? Qu’est-ce que c’est qu’un empire ? Et qu’est-ce que c’est que ce moment de la triple disparition, disparition de l’Empire ottoman, disparition de l’Empire austro-hongrois et disparition de l’Empire allemand. Et ça, comment est-ce que ça a transformé complètement la région ? Puisque par exemple, cette bataille de Caporetto se passe dans un pays qui est aujourd’hui la Slovénie, mais qui évidemment n’existait pas à l’époque. Les Slovènes n’ont pas eu d’État indépendant avant 1990. C’est aussi une façon d’interroger ce qu’a été la construction de l’Europe. Qu’est-ce que c’est qu’une frontière ? Et puis qu’est-ce que c’est que nos fleuves ? C’est un fameux poème d’Ungaretti qui dit ça, vous allez l’entendre. On a tous des fleuves. C’est quoi nos fleuves à nous ?

Maison de la poésie, lecture par l’auteur et Marianne Denicourt, avec la participation de Claro, Mathieu Larnaudie, rencontre animée par Oriane Jeancourt Galignani, 31 octobre 2024.

Im spanischen Band wird es die Schlacht der drei Könige sein, und was die Schlacht der Könige ist, werden Sie erfahren, wenn Sie es noch nicht wissen, wenn Sie den dritten Band lesen. Der bald erscheinende Band (so Gott will) behandelt den Osten, es geht um die Schlacht von Isonzo. Ich interessiere mich für diese erste Grenze, den Fluss Isonzo, der damals zwischen Italien und Österreich-Ungarn lag, mehrere, sechs Schlachten des Ersten Weltkriegs. Die berühmte Schlacht von Caporetto, die eine der größten, auf jeden Fall eine der berühmtesten Niederlagen in der Geschichte der italienischen Armee und ein Sieg für Österreich-Ungarn ist. Für die Geschichte Österreich-Ungarns natürlich anekdotisch, da das Kaiserreich zwei Jahre später untergehen wird. Die Grenze, die mich in diesem Band über den Balkan, der vom Lisonzo bis zum Bosporus reichen wird, interessiert, ist also auch eine Art Grenze der Idee von Europa. Wie ist sie entstanden? Wie weit reicht sie? Was ist ein Imperium? Und was ist dieser Moment des dreifachen Verschwindens, des Verschwindens des Osmanischen Reiches, des Verschwindens des Österreichisch-Ungarischen Reiches und des Verschwindens des Deutschen Reiches. Und wie hat das die Region komplett verändert? Da zum Beispiel diese Schlacht von Caporetto in einem Land stattfindet, das heute Slowenien ist, das aber natürlich damals noch nicht existierte. Die Slowenen hatten bis 1990 keinen unabhängigen Staat. Es ist auch eine Möglichkeit, zu hinterfragen, was der Aufbau Europas war. Was ist eine Grenze? Und was sind unsere Flüsse? Das sagt ein berühmtes Gedicht von Ungaretti, das Sie gleich hören werden. Wir alle haben unsere Flüsse. Was sind unsere Flüsse?

Die poetologischen Reflexionen in Mathias Énards Mélancolie des confins. Nord verstehen das Schreiben als einen Akt, der die Grenze zwischen Realität und Imagination überschreitet. Wie Hölderlin vergleicht Énard die Literatur mit einer spirituellen Gemeinschaft, einer universalen, utopischen Freundschaft unter den Menschen. In einer von Énards orientalistischen Exkurse erkennen wir eines der Vorbilder literarischer Melancholie, an denen sich Énard mit seinen geschichtsmelancholischen Promenaden durch den eiskalten Norden misst, übrigens erwähnt der Erzähler nach dem folgenden Ausschnitt explizit Michel Foucaults Les mots et les choses und dessen berühmte Bemerkungen zur chinesischen Enzyklopädie: Mit Jorge Luis Borges hatte Foucault eine bizarre chinesische Klassifikation von Tieren als Ausgangspunkt genommen, um zu zeigen, wie kulturelle Ordnungen und Wissenssysteme nicht natürlich oder universell sind, sondern konstruiert und historisch spezifisch. Auch in diesem Sinne wird die Tetralogie zu lesen sein.

Avec Imru’ al-Qays et les larmes sur le campement abandonné, s’ouvre une poétique de la déploration, une poésie des ruines et des nuages. On pleure sur les traces de ce qui a été, amour perdu, ville détruite, ami disparu. Les météores accompagnent le déchirement, sont les signes de la perte. Quelle image que ces lions, rois de la nature, morts noyés dans le flot des oueds… Les nuages sont bien supérieurs, en pouvoir, à quiconque vit sur terre. Seules les montagnes leur résistent, leurs sommets sont pa­­ra­­doxa­le­­ment faits de la même matière, l’inatteignable. Le premier Voyage d’hiver est celui d’Imru’ al-Qays. Imru’ al-Qays le poète bédouin et combattant mourut, dit-on, au cours de son voyage de retour de Constantinople ; l’empereur Justinien était furieux contre lui car il avait séduit une princesse ; il lui avait offert, au mo­­ment de son départ, une splendide tunique de laine, empoisonnée de mille épingles minuscules. Au milieu du Taurus glacial, alors qu’il rentrait à Kinda avec ses compagnons, Imru’ s’enveloppa dans ce manteau royal. Les étoiles d’Orion le regardèrent mourir.

Les chroniqueurs n’ajoutent aucun détail météorologique ; ils ne mentionnent pas la présence de nuages. La poésie arabe se découpe toujours entre nassib, pleurs et lamentations élégiaques ; ghazal, érotisme, poésie amoureuse et wasf, description – y compris la description des nuages, de la pluie, de l’eau dans les jardins. Ce grand poème composite, la qasida, se scindera en autant de poèmes brefs à thème unique. Ce sera bien sûr un des sommets de la poésie arabe d’Andalousie que la description des plantes et fleurs, rivières et bassins mais aussi des météores : c’est à un Andalou de Grenade que nous devons, aux temps des Nasrides, c’est-à-dire juste avant que le torrent rocailleux des Rois Catholiques submerge la ville et envoie toute une civilisation, ou même plusieurs, à la mer, à un Andalou de Grenade appelé Abd al-Majid al-Siqili, son nom laissant imaginer qu’il était originaire de Sicile, exilé à Grenade sans doute, c’est à Abd al-Majid al-Siqili que nous devons L’Épître des nuages, qui ne nous est connue que par ce qu’en dit, et les extraits qu’en cite, el Maqqari de Tlemcen, auteur de l’encyclopédie intitulée Le Doux Parfum de la bran­che verte d’Al-Andalus, composée au tout début du xviie siècle, entre Le Caire et le Maroc, par un savant mélancolique qui consacra sa vie à rassembler tout, absolument tout, ce qu’on pouvait encore connaître du pays perdu, un siècle après la chute de Grenade en 1492. De son nom complet Aḥmad ibn Muḥammad ibn Aḥmad ibn Yaḥya al-Qurashi al-Tilimsani al-Fasi al-Maliki al-Ash’ari, al-­Maqqari, qu’on appelle Abu al-Abbas et qu’on surnomme Shihab ul-Din, Abu al-Abbas al-­Maqqari donc, naquit à Tlemcen en 1578 et com­mença à voyager en 1600, d’abord à Fez, puis à Marrakech ; on le retrouve ensuite au Caire, enfin à Damas. C’est à Damas qu’un des notables locaux lui passe commande d’un ouvrage qui reconstitue l’Andalousie perdue, son histoire, sa géographie, ses poètes, et principalement l’histoire du grand poète vizir Lisan al-Din ibn al-Khatib. Al-Maqqari se surpasse : il compose l’encyclopédie définitive de l’histoire et de la culture d’Al-Andalus. C’est à Al-Maqqari que nous devons de connaître l’épître des nuages d’Abd al-Majid al-Siqili, que l’auteur surnomme “le dernier savant de Grenade” et dont il utilise beaucoup – se réfère constamment à – la géographie d’Al-Andalus et du reste de la péninsule Ibérique. L’Épître des nuages, d’après les fragments qu’en cite Al-Maqqari dans le Doux Parfum, com­mence par un chapitre décrivant la formation des nuages selon Aristote et leur présence plus ou moins fréquente selon les sept climats de la géographie ptolémaïque. Puis, cette sorte d’introduction terminée, Abd al-Majid al-Siqili entre dans le vif du sujet : il recense, depuis l’âge de l’ignorance et l’antéislam, tous les poètes qui ont traité des nuages et de quelle façon. Du déchirement des nuages dans l’orage, de la brume qui recouvre la mer et perd les navires, des fins nuages qui empêchent le chasseur d’être ébloui lorsqu’il tend son arc, des nuages noirs qui inquiètent les voyageurs au printemps, des nuages rapides qui voilent la lune pour que l’amant puisse ap­pro­cher l’objet de son désir sans être vu, des nuages sauveurs, que Dieu envoie au chamelier qui meurt de soif dans le désert de La Mecque, des nuages magiques dont les vapeurs (jaunes, écrit Al-Siqili) tuent les Francs lors des batailles, des nuages maléfiques, des nuages dont la forme prend celle d’un djinn, des nuages produits par les goules, des nuages dans lesquels dorment les anges, des nuages qui apportent les pestes, des nuages qui soignent les pestes, des nuages blancs, des nuages rouges, des nuages noirs, des nuages qui, dans le climat du Nord, “sont sur le sol où ils roulent com­me des chariots”, des nuages que l’on peut manger, com­me de la charpie humide, des nuages brûlants de fièvre, des nuages qui n’en sont pas, des nuages de gouttelettes de l’océan furieux.

(Énard, McN.)

Mit Imru‘ al-Qays und den Tränen über das verlassene Lager beginnt eine Poetik der Klage, eine Poesie der Ruinen und der Wolken. Man weint über die Spuren dessen, was einmal war: verlorene Liebe, zerstörte Stadt, verschwundener Freund. Die Meteore begleiten die Zerrissenheit, sind die Zeichen des Verlusts. Welch ein Bild sind die Löwen, Könige der Natur, die in den Fluten der Wadis ertrunken sind … Die Wolken sind jedem, der auf der Erde lebt, an Macht weit überlegen. Nur die Berge widersetzen sich ihnen, ihre Gipfel sind paradoxerweise aus demselben Material, dem Unerreichbaren. Die erste Winterreise ist die von Imru‘ al-Qays. Der Beduinendichter und Kämpfer Imru‘ al-Qays starb angeblich auf seiner Rückreise von Konstantinopel; Kaiser Justinian war wütend auf ihn, weil er eine Prinzessin verführt hatte; er hatte ihm bei seiner Abreise eine prächtige Tunika aus Wolle geschenkt, die mit tausend winzigen Nadeln vergiftet war. Mitten im eisigen Taurus, als er mit seinen Gefährten nach Kinda zurückkehrte, hüllte sich Imru‘ in diesen königlichen Mantel. Die Sterne des Orion sahen ihm beim Sterben zu.

Die Chronisten fügen keine meteorologischen Details hinzu; sie erwähnen nicht, dass Wolken vorhanden seien. Die arabische Dichtung zerfällt immer noch in nassib, elegisches Weinen und Klagen; ghazal, Erotik, Liebeslyrik und wasf, Beschreibung – einschließlich der Beschreibung von Wolken, Regen, Wasser in den Gärten. Dieses große zusammengesetzte Gedicht, die qasida, wird sich in ebenso viele kurze Gedichte mit einem einzigen Thema aufspalten. Die Beschreibung von Pflanzen und Blumen, Flüssen und Teichen, aber auch von Meteoren ist natürlich einer der Höhepunkte der arabischen Poesie Andalusiens: einem Andalusier aus Granada verdanken wir in der Zeit der Nasriden, also kurz bevor der steinige Strom der Katholischen Könige die Stadt überschwemmte und eine ganze Zivilisation oder sogar mehrere ins Meer schickte, einem Andalusier aus Granada namens Abd al-Majid al-Siqili, wobei sein Name vermuten lässt, dass er aus Sizilien stammte und zweifellos nach Granada verbannt wurde, Abd al-Majid al-Siqili verdanken wir den Wolkenbrief, der uns nur aus den Berichten und Auszügen bekannt ist, die el Maqqari aus Tlemcen daraus zitiert, der Autor der Enzyklopädie Der süße Duft des grünen Zweiges von Al-Andalus, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts zwischen Kairo und Marokko von einem melancholischen Gelehrten verfasst wurde, der sein Leben der Aufgabe widmete, alles, aber auch wirklich alles zusammenzutragen, was man ein Jahrhundert nach dem Fall Granadas im Jahr 1492 noch über das verlorene Land wissen konnte. Mit vollem Namen Aḥmad ibn Muḥammad ibn Aḥmad ibn Yaḥya al-Qurashi al-Tilimsani al-Fasi al-Maliki al-Ash’ari, al-Maqqari, Abu al-Abbas al-Maqqari wurde er 1578 in Tlemcen geboren und begann 1600 zu reisen, zuerst nach Fez, dann nach Marrakesch; später findet man ihn in Kairo und schließlich in Damaskus. In Damaskus erhielt er von einem der örtlichen Honoratioren den Auftrag, ein Werk zu verfassen, das das verlorene Andalusien, seine Geschichte, Geografie, Dichter und vor allem die Geschichte des großen Dichters und Wesirs Lisan al-Din ibn al-Khatib rekonstruieren sollte. Al-Maqqari übertrifft sich selbst: Er verfasst die endgültige Enzyklopädie der Geschichte und Kultur von Al-Andalus. Al-Maqqari verdanken wir die Kenntnis des Wolkenbriefs von Abd al-Majid al-Siqili, den der Autor als „letzten Gelehrten Granadas“ bezeichnet und von dem er viel – bezieht sich ständig auf – die Geographie von Al-Andalus und der übrigen Iberischen Halbinsel verwendet. Der Wolkenbrief beginnt nach den Fragmenten, die Al-Maqqari im Süßen Duft zitiert, mit einem Kapitel, in dem die Entstehung der Wolken nach Aristoteles und ihr mehr oder weniger häufiges Auftreten in den sieben Klimazonen der ptolemäischen Geographie beschrieben werden. Dann, nach dieser Art von Einleitung, geht Abd al-Majid al-Siqili zum eigentlichen Thema über: Er zählt seit dem Zeitalter der Unwissenheit und dem Vorislam alle Dichter auf, die sich mit Wolken befasst haben und auf welche Weise. Vom Zerreißen der Wolken im Gewitter, vom Nebel, der das Meer bedeckt und die Schiffe verliert, von den dünnen Wolken, die verhindern, dass der Jäger geblendet wird, wenn er seinen Bogen spannt, von den dunklen Wolken, die die Reisenden im Frühling beunruhigen, schnelle Wolken, die den Mond verhüllen, damit der Liebende sich dem Objekt seiner Begierde nähern kann, ohne gesehen zu werden, rettende Wolken, die Gott dem Kameltreiber schickt, der in der Wüste von Mekka verdurstet, magische Wolken, deren (gelbe, wie Al-Siqili schreibt) Dämpfe die Franken in den Schlachten töten, böse Wolken, Wolken, deren Form die eines Dschinns annimmt, Wolken, die von Ghulen erzeugt werden, Wolken, in denen Engel schlafen, Wolken, die die Pest bringen, Wolken, die die Pest heilen, weiße Wolken, rote Wolken, schwarze Wolken, Wolken, die im Klima des Nordens „auf dem Boden liegen, wo sie wie Karren rollen“, Wolken, die man essen kann, wie feuchtes Flickwerk, Wolken, die vor Fieber brennen, Wolken, die keine sind, Wolken aus den Tröpfchen des wütenden Ozeans.

Anmerkungen
  1. „J’allais arriver à la librairie Georg Büchner com­me Jakob Lenz à Waldersbach, après avoir traversé la montagne. Dans Lenz, la nouvelle de Büchner, tout est voyage, tout est déplacement. Lenz voyage, Oberlin voyage, Kaufmann voyage ; le crépuscule et l’an­goisse voyagent.“ Énard, McN.>>>

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