Gespenster der Avantgarde: Wolfgang Asholt

Le seul mot de liberté est tout ce qui m’exalte encore.

André Breton, Manifestes du surréalisme, Idées 23 (Paris, 1967), 12.

Das avant der Avantgarde enthält seinen eigenen Widerspruch: es kann erst a posteriori markiert werden.

Hans Magnus Enzensberger, „Die Aporien der Avantgarde“, Merkur XVI, 5, (Mai 1962): 401–24, 411.

Wolfgang Asholt, Das lange Leben der Avantgarde: eine Theorie-Geschichte (Göttingen: Wallstein, 2024), 474 Seiten.
Open-Access-Version mit CC BY-ND 4.0-Lizenz herunterladen: Das lange Leben der Avantgarde (14,6 MB) – DOI: https://doi.org/10.46500/83535756


Das Schicksal des surrealistischen Manifests von André Breton, geschrieben 1924, ist eng mit seiner symbolischen und historischen Bedeutung für die Kunst- und Literaturszene des 20. Jahrhunderts verknüpft. Das Manuskript wurde 2017 als „nationaler Schatz“ klassifiziert und ist äußerst selten öffentlich ausgestellt. Ursprünglich befand es sich im Besitz von Bretons erster Ehefrau, Simone Kahn, und blieb bis zu ihrem Tod 1980 in der Familie. 2021 erwarb die Bibliothèque Nationale das Dokument nach einer erfolgreichen Spendensammlung für 2,7 Millionen Euro. Es wurde im Rahmen einer Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum des Surrealismus im Centre Pompidou präsentiert als kulturelles Erbe, Artefakt einer Tradition wie Inkunabeln eines fernen Mittelalters oder wie die ordonnance von Villers-Cotterêts.

Was ist von der Avantgarde in der französischen Literatur der Gegenwart auffindbar, und was hieße dies für den Status von Kunst am Ende des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts? Ist es überhaupt möglich, als einzelner Künstler heute einen Anspruch auf Avantgarde zu erheben, oder ist mit der Bewegung des radikalen Imaginären in eine unbekannte Zukunft immer eine kollektive Bewegung gemeint – mit der von Enzensberger 1962 konstatierten Gefahr der Gruppenbildungen zur Orthodoxie?

Wolfgang Asholt hatte im Lexikon der Avantgarde seinen Frankreich-Eintrag mit einer Beerdigung einer bestimmten Avantgarde-Bewegung beschlossen. Philippe Sollers konstatierte im Jahr des Deutschen Herbstes in Bezug auf eine historische Krise der Avantgarde: „Es ist seltsam, dass all diese Symptome weiterhin in Bezug auf Genealogie und schließlich ‚Fortschritt‘ interpretiert werden, obwohl sie lediglich eine Reihe von Kämpfen, Umwegen, Schreien, unverstandenen oder tragischen Aufrufen übermitteln und manifestieren.“ 1

Doch schon 1977 proklamiert Philippe Sollers nicht nur die Literatur als einzige Form der Dissidenz, sondern in einem Vortrag mit dem Titel Crise de l’avant-garde? in Beaubourg auch das Ende der – einer? – Avantgarde: „Es gibt nur insofern ‚Avantgarde‘, als der marxistisch-psychoanalytische Interpretationsraum den rationalen Horizont des Denkens bildet […] die gegenwärtige Saturiertheit des ‚avantgardistischen‘ Raums – die sich sehr schnell in begrenzten akademischen Stereotypen erschöpft, bedeutet zugleich das Ende eines rationalistischen Horizonts.“ Damit wird die Avantgarde definitiv als historisches Phänomen abgebucht, nicht einmal die Fragen, die sie bis zu den Situationisten aufgeworfen hat, haben unter den veränderten Bedingungen noch Bedeutung, geschweige denn, dass sie auf irgendeiner Tagesordnung stünden. In dem Moment, als die postavantgardistische Postmoderne vor der Tür steht, wird mit dem historischen Fortschrittsdenken auch die entsprechende Avantgarde verabschiedet: Das Ende von Tel Quel (1982) signiert sozusagen die Sterbeurkunde. Seitdem reklamiert in Frankreich keine Bewegung für sich eine wie auch immer geartete Zugehörigkeit zur Avantgarde.

Wolfgang Asholt, „Frankreich“, Lexikon Avantgarde, hrsg. von Hubert van den Berg und Walther Fähnders (Metzler/Springer, 2009) 117.

Genauer gesagt, beobachtet Asholt solche Beerdigungsreden und neue Manifeste, sucht Spuren, wie die Avantgarde in anderen Formen fortbesteht, so als Neo-Avantgarden der 1960er Jahre, als Zweite Avantgarde und Kunstaktivismus der Gegenwart in einer polyzentrischen Welt (auch wenn der globale Süden weitgehend nicht Thema des Buchs ist). Nach eigenem Verständnis ist Das lange Leben der Avantgarde als erster Versuch zu werten, nach Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974) und Paul Manns Theory-Death of the Avant-Garde (1991) eine neuere Untersuchung der Avantgarde-Theorie vorzulegen, die ihre Entwicklung in historischen wie aktuellen Konstellationen und Artikulationen untersucht. Als Peter Bürger mit 80 Jahren starb, würdigte Lothar Müller sein wegweisendes Werk in einem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung (16.8.2017): „Die ‚Theorie der Avantgarde‘ antwortete auf das Scheitern des radikalen Utopismus der Studentenbewegung weder mit Häme noch mit Larmoyanz, sondern mit der Klärung der Begriffe und Historisierung des Kernmotivs der Avantgarden des 20. Jahrhunderts, der ‚Überführung der Kunst in Lebenspraxis‘.“ Mit dem hintergründigen Titel Das Altern der Moderne legte freilich Bürger zu Beginn der Jahrtausendwende Texte zur bildenden Kunst der Moderne vor, die Auswege suchen:

Aus dieser aporetischen Situation der Moderne, die zwischen formalistischem Ästhetizismus einerseits und nicht einlösbarer Selbstauslöschung als Grundlage ihrer eigenen Legitimation andererseits steckenzubleiben droht, sucht Bürger nun einen Ausweg, der nicht zwangsläufig zur Postmoderne führt. Statt „unter dem Banner der Postmoderne” den Bruch mit der Moderne zu proklamieren, fordert er ihre dialektische Weiterentwicklung unter kritischer Einbeziehung der von ihr traditionellerweise tabuisierten Formen wie etwa der Gegenständlichkeit in der Kunst, der Tonalität in der Musik und des realistischen Erzählstils in der Literatur.

Veronika Schöne, „Am Scheidewege: Peter Bürgers Schriften zur bildenden Kunst“, Süddeutsche Zeitung, 1. Juli 2002, 14.

Paul Mann sah 17 Jahre nach Bürgers Avantgarde-Buch bekanntlich in der Theoretisierung, Institutionalisierung und der Simulation der Avantgarde Gründe dafür, warum die Avantgarde ihre ursprüngliche Kraft verloren hat. Seine Thesen spiegelten kurz nach dem weltpolitischen Bruch von 1989 die zentralen Themen postmoderner Theorie wider, wie das Ende der großen Erzählungen und die Dekonstruktion. Die Avantgardeforschung diskutiert heute weiter über die Frage, in welchen Erscheinungsformen die Avantgarde ‚herumgeistert‘, nachdem sie transformiert oder gar gescheitert sein mag. So argumentiert der Romanist Wolfgang Asholt bereits vor zehn Jahren in seinem Schlussaufsatz zum Sammelband Avantgarde und Modernismus 2. Während er in diesem Text die Unmöglichkeit konstatierte, alle Phänomene der Avantgarde theoretisch einheitlich zu fassen zu bekommen, schon durch ihre historische wie räumliche Vielfalt, so hängt es andererseits auch von den eigenen Prämissen ab, ob man wie Peter Bürger ein Scheitern der historischen Avantgarde konstatiert und die Neo-Avantgarden als bloße Wiederholungen bereits gemachter Erfahrungen verwirft – oder ob man im Gegensatz dazu ein „langes Leben der Avantgarde“ zum Ausgangspunkt einer „Theorie-Geschichte“ macht, wie der Untertitel des hier besprochenen Bandes bei Wallstein in der im Kern fachgeschichtlichen Reihe „Philologien“ lautet. Dem Reihenprogramm entsprechend wäre ein Kapitel über Bedingungen der Institutionalisierung (bzw. Abwehr) von Avantgardetheorie an den Universitäten in der Tat ein weiteres aufschlussreiches Kapitel gewesen, das auch die Karrierewege und Netzwerke in der Romanistik und den übrigen Philologien zu beleuchten hätte.

Während der italienische Avantgardeforscher Renato Poggioli die Bewegung als radikale Speerspitze der Modernisierung beschrieb und ästhetische Radikalität betonte, sprach Bürger von einer (gescheiterten) „Aufhebung der autonomen Kunst“ und damit vom Streben der Avantgarde nach gesellschaftlicher Relevanz. Asholts Buch oszilliert wie Astrit Schmidt-Burkhardts kunsthistorische Genealogie der Avantgarde 3 im Rekonstruktionsversuch in einer „Doppelbewegung von Zeitriss und Kontinuität“, wie Horst Bredekamp formulierte. 4 Die Avantgardeforschung, wie sie Wolfgang Asholt über Jahrzehnte betrieben hat und deren Summe er hier in gewisser Weise vorlegt, geht nicht wie vorgängige Entwürfe linear vorwärts über die Frontlinien der Moderne (was im zitierten Lexikoneintrag „historisches Fortschrittsdenken“ hieß), sondern die Vorhuten ziehen „Vorwärts, abwärts, seitwärts“, wie der Tagesspiegel Vincent Sauers Besprechung von Asholts Band betitelt hat. Das Herumgeistern der Avantgarde lässt sich auf ein uneingelöstes, zugleich unabgeschlossenes Versprechen zurückführen, ihr langes Leben zu beschreiben, bedarf freilich einer Distanz gegenüber ihren diversen Manifestationen. Auch wenn Asholt den einflussreichen Artikel von Enzensberger zu Aporien der Avantgarde schon in der Einleitung verwirft, weil dieser sich gar nicht auf Projekt, Konzeptionen und Theorien der Avantgarde einlasse 5, kann man eben feststellen, dass sehr wohl eine Studie des langen Lebens der Avantgarde(-Theorie) ohne Doktrin und Kollektiv auskommen kann und so zu differenzierteren Betrachtungen als damals Enzensberger gelangt:

Nicht daß sie zu weit ginge, ist der heutigen Avantgarde anzukreiden, sondern daß sie sich die Hintertüre offen hält, an Doktrinen und Kollektiven Rückhalt sucht und ihrer eigenen, längst von der Geschichte erledigten Aporien nicht inne wird. Sie handelt mit einer Zukunft, die ihr nicht gehört. Ihre Bewegung ist Regression. Avantgarde ist zu ihrem Gegenteil, ist zum Anachronismus geworden.

Hans Magnus Enzensberger, „Die Aporien der Avantgarde“, Merkur XVI, 5, (Mai 1962): 401–24, 424.

Wolfgang Asholt wendet sich also statt einer einheitlichen Avantgarde-Theorie einer Gesamtschau der Konzepte, ihrer Dynamik und Ablösungen zu, dabei bezieht er historisch-soziale Zugänge (Bürger, Bourdieu), systemtheoretische (Luhmann), neo-avantgardistische des Poststrukturalismus und der Postmoderne mit ihrer dezidierten Dekonstruktion von Originalität mit ein. Dass Asholt je den kulturellen und gesellschaftliche Kontext der historischen Avantgarde-Bewegungen und ihrer Konzeptionen betrachtet, verbindet beispielsweise in den Kapiteln des ersten Teils Fragen des Nationalismus mit dem italienischen Futurismus, Biographien des Exils mit den Dadaisten, Konzepte der Revolution mit den Konstruktivisten, Bildung europäischer Netzwerke und Institutionalisierung mit dem Bauhaus, schließlich die Integration der Psychoanalyse in die Arbeiten des Surrealismus.

Für diesen Blog zur französischen Literatur der Gegenwart ist insbesondere die Frage von Interesse, ob wir im 21. Jahrhundert neue Formen bzw. alte Geister in einer zeitgenössischen Produktion identifizieren können: Als wir etwa anlässlich von Philippe Sollers’ Tod mit 86 Jahren im Jahr 2023 daran erinnerten, dass seine neuere Produktion in Deutschland nach der Beerdigung von Tel Quel und noch deutlicher seit der Jahrtausendwende quasi unbeachtet geblieben ist 6, wurde aber auch deutlich, dass es Literaten gibt, die sich wiederum in seine Tradition stellen, so wie Yannick Haenel, dessen Roman Renards pâles sich zudem auf die Idee der Revolution bei den Situationisten bezieht:

Et puis je pensais à cette ville autour de moi qui se consumait dans son inertie : n’avait-elle pas été longtemps la capitale de la contestation ? Le souvenir de Guy Debord et de l’Internationale situationniste m’a traversé avec la fulgurance d’une comète en flammes : ils avaient été les derniers, en France, à donner vie au mot « révolution » — à vivre celle-ci comme une liberté réelle. Depuis, tout s’était complètement tassé ; plus aucune âme ne flamboyait : la politique était morte, en même temps que la poésie. Le renoncement s’était emparé de cette ville, où chacun, peu à peu, s’était replié sur ses compromis, en simulant des désirs qui n’étaient déjà plus que le réflexe de consommateurs tristes.

Yannick Haenel, Les Renards pâles.

Und dann dachte ich an die Stadt um mich herum, die sich in ihrer Trägheit verzehrte: War sie nicht lange Zeit die Hauptstadt des Protests gewesen? Die Erinnerung an Guy Debord und die Situationistische Internationale durchfuhr mich mit dem Blitz eines brennenden Kometen: Sie waren die letzten in Frankreich gewesen, die das Wort „Revolution“ mit Leben gefüllt hatten – und die Revolution als echte Freiheit gelebt hatten. Seitdem war alles völlig abgeflacht, keine Seele flammte mehr auf: Die Politik war tot, ebenso wie die Poesie. Die Entsagung hatte diese Stadt erfasst, in der sich jeder nach und nach auf seine Kompromisse zurückzog und Wünsche vortäuschte, die bereits nur noch der Reflex trauriger Konsumenten waren.

Als wir in diesem Jahr eine Probe aus Emmanuelle Lamberts zweitem literarischen Buch über Alain Robbe-Grillet, Aucun respect (2024), ausgewählt haben, der auch zeigt, wie die avantgardistische Radikalität seines letzten Buchs Roman sentimental nur noch in einer Zellophan-Schutzhülle verborgen in die Buchhandlungen kommen kann, wendete sich bspw. Julia Encke mit diesem vielsagenden Schlussurteil ihrer Rezension von den Geistern einer Avantgarde, die völlige Freiheit des Erotischen über das moralisch Verantwortbare stellt, entschieden ab: „Mit dem ‚Roman sentimental‘ ist, was vom ‚Nouveau Roman‘ geblieben ist, spätestens jetzt gestorben. Robbe-Grillet kann gerne weiterspielen. Aber ohne uns.“ 7 Lambert relativiert rückblickend die Relevanz der Avantgardebezüge einer bestimmten Zeit:

Dans un tel contexte, on ne pouvait pas faire l’économie d’Alain Robbe-Grillet. Citer Pour un nouveau roman, son manifeste théorique, ne faisait pas de mal. On aime bien les écrivains qui ont écrit des manifestes. Pas besoin de les lire. Ce qui compte, c’est de les extirper de leur parole passée pour leur donner une force de frappe dans le présent, avec des formules bien tournées. Ça fait sentir l’éternité qui passe et, bonus, on a l’air cultivé dans le bon sens.

Emmanuelle Lambert, Aucun respect, 2024.

In einem solchen Kontext konnte man nicht auf Alain Robbe-Grillet verzichten. Pour un nouveau roman zu zitieren, sein theoretisches Manifest, konnte nicht schaden. Wir mögen Schriftsteller, die Manifeste geschrieben haben. Man muss sie nicht lesen. Es kommt nur darauf an, sie aus ihrem vergangenen Wort herauszuholen und ihnen mit wohlgeformten Formeln eine Schlagkraft in der Gegenwart zu verleihen. Dadurch fühlt man die vergehende Ewigkeit und als Bonus wirkt man kultiviert, im positiven Sinne.

L’avant-garde ne se rend pas, die Avantgarde gibt (sich) nicht auf, das Titelbild von 1962 des dänischen, vor fünfzig Jahren gestorbenen Cobra-Künstlers Asger Jorn illustriert Asholts Kernvorhaben, nämlich Akteure und Theorien als Teil eines historisch je möglichen Avantgarde-Projekts beschreibbar zu machen.

Marcel Duchamp, 1919, L.H.O.O.Q, ursprünglich publiziert in 391, Nr. 12, März 1920, Wikipedia.

Wir haben es beim programmatischen Bild von Asger Jorn und seinem Duchamp-Bezug bereits mit einer komplexen Schicht von Überschreibungen zu tun: Duchamp übermalt „La Gioconda“, Leonardo da Vincis „Mona Lisa“, also ‚erschafft‘ nicht im vorgängigen Sinne ein Werk, sondern modifiziert eine Reproduktion, parodiert sie als rectified readymade, als objet trouvé, auch mit dem begleitenden Wortwitz „L.H.O.O.Q.“, denn wenn man die Abkürzung auf Französisch vorliest, klingt sie wie „Elle a chaud au cul“, „Sie hat einen heißen Hintern“. Asger Jorn verlässt 1961 die Situationistische Internationale und gründet das Skandinavische Institut für Vergleichenden Vandalismus (sic!). Sein Remake von Duchamps Bild aus dem Jahr 1962 bildet das Verhältnis der beiden großen Teile von Asholts Buch ab: I. „Die historischen Avantgarden“ und II. „Von den (Neo-)Avantgarden zum KunstAktivismus“. Für sein modification painting wählt der Künstler im Gegensatz zu Duchamp allerdings keine hohe kanonisierte Kunst, sondern ein Kitschgemälde, Populärkultur. Asholt beschäftigt sich analog dazu im zweiten Hauptteil mit der Situationistischen Internationale, der French Theory (insbesondere Tel Quel) und der US-amerikanischen Avantgarde-Bewegung. Er beleuchtet, wie sich die avantgardistischen Ideen nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedene Richtungen entwickelten und durch den Markt und Globalisierungsprozesse beeinflusst wurden. Der moderne Kunstaktivismus wird als eine „Zweite Avantgarde“ beschrieben, die versucht, das radikale Imaginäre wiederzubeleben und Kunst und Leben neu zu verbinden. Die Verschiebung von Paris nach New York, die Politisierung der Situationisten und die Theoretisierung von Tel Quel und der French Theory markieren wichtige Wendepunkte in dieser Geschichte der Avantgarde. Die Avantgarde wird von Asholt auch in der Folge nicht als abgeschlossenes Phänomen verstanden, sondern als ein „ongoing project“, das auch im 21. Jahrhundert noch Spuren hinterlässt, obgleich ihre ursprünglichen Impulse kommerzialisiert und institutionell vereinnahmt worden sind. In Anlehnung an Walter Benjamins Konzept der „Jetztzeit“ argumentiert Asholt, dass die historische Avantgarde durch das radikal Imaginäre versuchte, ihre Gegenwart mit Bedeutung aufzuladen. Für die gegenwärtigen Avantgarde-Diskurse stellt sich jedoch die Frage, ob es diesen gelingt, eine vergleichbare Relevanz zu beanspruchen oder ob sie im historischen Rückblick lediglich eine „mit Jetztzeit geladene Vergangenheit“ bleiben. Die Avantgarde lebt zwar in den Diskursen fort, doch die Frage bleibt, inwieweit sie heute noch eine transformative Kraft besitzt oder nur noch als Zitat ihrer selbst fungiert. Die Aktionskunst und andere Medien unter anderem haben die Literaturen der Avantgarde in den Hintergrund treten lassen. Die Aporien der Avantgarde liegen in ihrem paradoxen Status als ‚gescheitertes‘ Projekt, das dennoch in der kulturellen Erinnerung weiterlebt und immer wieder in neuen Kontexten rekonstruiert wird.

Dieses Buch legt Zeugnis ab von einer lebenslangen, so diskret wie tief mit der eigenen Vita verbundenen Beschäftigung mit der Avantgarde, die zugleich mit Selbstbeschreibung und Selbstkritik ganzer Generationen verknüpft ist. Im Verlauf ihres „langen Lebens“ wurde die Avantgarde ein zunehmend diffuses und ambivalentes Konzept; einerseits hat sie ihre radikale Kraft in der Hochkultur verloren, andererseits lebt sie in der Popkultur weiter. Kunstaktivismus, soziale Bewegungen und die Digitalisierung bieten neue Möglichkeiten, das Erbe der Avantgarde in einen zeitgenössischen Kontext zu übertragen. Avantgarde können wir heute weniger als eine klar definierte Bewegung fassen denn vielmehr als ein Set von Praktiken, die sowohl im künstlerischen als auch im politischen Bereich ihre Spuren hinterlassen. Analog dem eingangs von mir angesprochenen nationalen Schatz der Bibliothèque Nationale, dem präsentierten Manifest des Surrealismus von André Breton, hat Wolfgang Asholt über das Konzept des radikalen Imaginären von Castoriadis einen kreativen und transformatorischen Raum nachgezeichnet, in dem die Avantgarde versuchte – und weiter versucht –, bestehende gesellschaftliche, künstlerische und kulturelle Strukturen je zu durchbrechen, alternative Wirklichkeiten zu entwerfen und die bestehenden kulturellen Normen infrage zu stellen, kurz, ein Instrument zu schaffen, um nicht nur ästhetische, sondern auch soziale und politische Revolutionen anzustoßen: Avantgarde bleibt in Bewegung.

Kai Nonnenmacher

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Anmerkungen
  1. „Il est étrange de constater que l’on continue à interpréter tous ces symptômes en termes de généalogie et finalement de « progrès », alors qu’ils ne font que traduire et manifester une série de combats, de détours, de cris, d’appels incompris ou tragiques.“ Philippe Sollers, Crise de l’avant-garde?, texte tiré de la conférence du 12/12/1977 au Centre Georges Pompidou, publié dans le numéro de mars 1978 d’art press.>>>
  2. Wolfgang Asholt, „Nach Altern und Scheitern: Brauchen wir noch eine Avantgarde-Theorie?“, Avantgarde und Modernismus: Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld, hrsg. von Wolfgang Asholt (Berlin: De Gruyter, 2014), 327–346, https://doi.org/10.1515/9783110348613.>>>
  3. Astrit Schmidt-Burkhardt, Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde (Berlin: Akademie Verlag, 2005).>>>
  4. Horst Bredekamp, „Avantgardisten, auf die Bäume!“, Süddeutsche Zeitung, 31. August 2005, 14.>>>
  5. Vgl. Wolfgang Asholt, Das lange Leben der Avantgarde, 23.>>>
  6. vgl. Kai Nonnenmacher „Schiff aus offenem Meer: Philippe Sollers“, Rentrée littéraire: französische Literatur der Gegenwart, 7. Mai 2023.>>>
  7. Julia Encke, „Er will doch nur spielen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Oktober 2007.>>>