Vorbereitung auf das Nichts: das zweite Leben von Philippe Sollers

En pleine explosion révolutionnaire française du XVIIIe siècle, le marquis de Sade fait dire à Juliette, son personnage criminel préféré : « Le passé m’encourage, le présent m’électrise, je crains peu l’avenir. » Le XXIe siècle entend une nouvelle Juliette postromantique répéter tous les jours : « Le passé me déprime, le présent m’accable, j’ai peur de l’avenir. » Si je publie un jour un roman intitulé La Deuxième Vie, j’inscrirais en exergue, contre toutes les évidences négatives de mon temps, la formule de la Juliette de Sade. Elle, au moins, fait longuement rêver, comme une provocation inouïe.

Philippe Sollers, La Deuxième Vie.

Auf dem Höhepunkt der Explosion der französischen Revolution im 18. Jahrhundert ließ der Marquis de Sade seine kriminelle Lieblingsfigur Juliette sagen: „Die Vergangenheit ermutigt mich, die Gegenwart elektrisiert mich, ich fürchte die Zukunft wenig.“ Das 21. Jahrhundert hört eine neue postromantische Juliette jeden Tag wiederholen: „Die Vergangenheit deprimiert mich, die Gegenwart belastet mich, ich habe Angst vor der Zukunft.“ Wenn ich eines Tages einen Roman mit dem Titel Das zweite Leben veröffentlichen würde, würde ich gegen alle negativen Selbstverständlichkeiten meiner Zeit die Formel der Juliette de Sade als Vorwort schreiben. Sie regt zumindest lange zum Träumen an, wie eine unerhörte Provokation.

Das letzte Buch von Philippe Sollers, La Deuxième Vie, posthum veröffentlicht, reflektiert das Leben, den Tod und die Wiedergeburt. Fast testamentarisch angelegt, spiegelt es nocheinmal seine Auseinandersetzung mit philosophischen, religiösen und existenziellen Fragen wider, die sein gesamtes literarisches Schaffen geprägt haben. Die Idee einer zweiten Existenz meint für ihn eine transformierte, spirituelle und zugleich körperliche Daseinsform, mit einem intensiveren, freieren Leben. So verbinden sich diese Stellen mit einer scharfen Kritik an unserer ersten Existenz modernen Lebens, verkommen und materialistisch. Zugleich verwebt Sollers historische und literarische Figuren mit seinen Überlegungen zu Kunst und Literatur, als Mittel, um das Unsterbliche und das Zeitlose zu erfassen. Die Struktur erinnert an eine Art Tagebuch oder ein meditatives Protokoll, zwischen Prosa und Aphorismen wechselnd, hier der Überzeugung eine Form verleihend, dass das Leben als ständige Transformation nicht narrativ fixiert werden kann. Zeit überhaupt wird in diesem Text fast magisch-heilig symbolisiert.

Dès Une curieuse solitude (1958), il s’agit d’« une préparation au néant » : « Un livre se développe, parallèle à votre vie […] oscillation […] ni dans le réel ni dans l’imaginaire, n’est-ce pas cela la liberté ? » Et encore dans Studio (1997) : « Je mourrai de ma mort », entre autres persistantes scansions. Aucune passion triste, morose effroi ou mélancolie. Au contraire, en s’échappant du culte nihiliste de la mort, de nouvelles figures de libertés se révèlent, qui devaient mener à la tonalité implacable et solennelle de La Deuxième Vie. L’angoisse tremble dans l’éprouvé du néant, mais se resserre et se consume en « consolation mélodique » (Paradis II), « souveraine légèreté du néant » (Éloge de l’infini, 2001) : « la jouissance du corps glorieux est continuelle ».

Une mystérieuse (Mystérieux Mozart, 2001) anthropologie spirituelle virevolte dans cette fugue aérienne qui ne cesse de néantir le néant lui-même, en quête de « son point de jouissance infini » (Paradis II).

Julia Kristeva, „Le vivace aujourd’hui“, in Philippe Sollers, La Deuxième Vie.

Schon in Une curieuse solitude (1958) geht es um „eine Vorbereitung auf das Nichts“: „Ein Buch entwickelt sich, parallel zu Ihrem Leben […] Oszillation weder in der Realität noch in der Vorstellung, ist das nicht Freiheit?“ Und in Studio (1997): „Je mourrai de ma mort“ (Ich werde an meinem Tod sterben), unter anderen anhaltenden Skandierungen. Keine traurige Leidenschaft, kein düsteres Erschrecken oder Melancholie. Im Gegenteil, indem man dem nihilistischen Todeskult entflieht, werden neue Figuren der Freiheit offenbart, die zu dem unerbittlichen und feierlichen Tonfall von Das zweite Leben führen sollten. Die Angst zittert in der Erfahrung des Nichts, zieht sich jedoch zusammen und verzehrt sich in „melodischem Trost“ (Paradis II), „souveräner Leichtigkeit des Nichts“ (Lob der Unendlichkeit, 2001): „Die Freude am glorreichen Körper ist fortwährend“.

Eine geheimnisvolle (Mysteriöser Mozart, 2001) spirituelle Anthropologie schwirrt durch diese luftige Fuge, die unaufhörlich das Nichts selbst vernichtet, auf der Suche nach „seinem unendlichen Genusspunkt“ (Paradies II).

Folgen wir dem Nachwort von Julia Kristeva, „Le vivace aujourd’hui“, so überwindet Sollers hier den Tod in einer neuen Form von Lebendigkeit, er hält dem Nihilismus der Moderne eine „lebendige Philosophie“ entgegen. Seinen Stil vergleicht sie mit der Fugentechnik in der Musik, die eine komplexe, harmonische Einheit bildet. Yannick Haenel sieht in dem Buch eine Abschiedsgeste von Sollers an die Welt: In Sollers’ Werk erkennt Haenel die Fähigkeit, das Leben zu transzendieren und gleichzeitig im Hier und Jetzt verankert zu bleiben.

L’essentiel est qu’ici tout est fluide, que le jour et la nuit s’équivalent, que le soleil et la mer sont perçus comme de même nature. Dans la première vie, seul mon cadavre m’encombre, d’autant plus que j’en ai une vision de plus en plus détaillée. Dans la Deuxième Vie, on est heureusement débarrassé de ce boulet, sans que les souvenirs physiques les plus lumineux soient éliminés. Il s’ensuit un libre choix de mémoires, chacune reliée à un flash amoureux.

Philippe Sollers, La Deuxième Vie.

Hauptsache ist, dass hier alles fließt, dass Tag und Nacht gleichwertig sind, dass Sonne und Meer als gleichartig wahrgenommen werden. Im Ersten Leben belastet mich nur mein Leichnam, umso mehr, als ich ihn immer detaillierter sehe. Im Zweiten Leben wird man glücklicherweise von diesem Ballast befreit, ohne dass die hellsten körperlichen Erinnerungen beseitigt werden. Es folgt eine freie Auswahl an Erinnerungen, die jeweils mit einem Liebes-Flash verbunden sind.

Die Gesellschaftskritik von Sollers ist häufig eher als konservativ zu bezeichnen, so wenn er die Verquickung von Wissenschaft, Medizin und Kapitalismus beklagt, die Digitalisierung die Menschheit zu einem „numerischen Kontinent“ transformiert, er beschreibt die soziale Zensur der Gegenwart, die nonkonforme Stimmen zum Schweigen bringe. Insofern ist das zweite Leben eine Art Wunschmaschine von Sollers, eine Utopie bzw. eben ein Manifest. Das Kino/Fernsehen lehnt er z.B. als Ausdruck einer Kultur des Spektakels ab, das zweite Leben ist insofern „anti-spectaculaire“. Kunst/Literatur ist dagegen ein zeitloses Mittel, um die Welt zu erfassen und in eine zweite Realität überzutreten. Pablo Picasso nimmt im Buch eine wichtige Position ein, in seinem Werk L’Étreinte von 1969 etwa sieht er eine physisch-energetische Kontinuität realisiert, die eine Lebendigkeit bis ins hohe Alter bekundet. Freilich wirken einzelne Aussagen als aus ferneren Zeiten hereinragend, etwa wenn Sollers die Frau definiert oder sich gegenüber homosexuellem Interesse, das er abwehren muss, äußert, schwules Verlangen sei schmeichelhaft, aber lästig, oder wenn er Leihmutterschaft einer lesbischen Frau bespöttelt. Oder wenn er eurozentrisch bezweifelt, dass französische Künstler anderswo vorstellbar wären, etwa Proust arabisch oder Cézanne amerikanisch. 1 Insofern ist nicht ganz zu entkräften, dass hier rückwärtsgewandte Bemerkungen die zukunftsoffene Radikalität von Sollers‘ Entwurf mitunter ausbremsen.

La Deuxième Vie postuliert, dass das wahre Leben erst nach dem Tod beginnt, in den Corps glorieux als transformierten Körpern. Und dass die Kunst der Schlüssel zu dieser neuen Existenz ist: Kunst ist insofern metaphysisch, aber auch radikale Kritik an der modernen Gesellschaft und ihren Werten. In der zweiten Existenz existiert Zeit nicht mehr linear, sondern in einem zirkulären oder wiederholenden Muster. Die Literatur ist keine Spiegelung der Realität, sondern ein Raum der Schöpfung, in dem neue Realitäten entstehen. Der Erzähler des Buchs erlebt sich selbst nicht als kohärentes Subjekt, sondern als ein zersplittertes Ich, das sich in ständiger Bewegung befindet. Kunst versteht Sollers als Mittel dient, um diese zersplitterten Teile zusammenzuhalten. Und der Tod ist für ihn nicht das Ende, sondern eine kreative Kraft, die das Leben neu formt. Natürlich ist die zweite Existenz als Neuschöpfung ein Bruch mit der ersten, Kunst erlöst von einer Gesellschaft der Leere. Die Transformation der Kunst verwandelt Künstler ebenso wie Betrachter bzw. Leser. Die Liebe ist für Sollers ein Kunstwerk, das ständig neu erschaffen wird und niemals endet.

Trois de mes livres ont été écrits dans l’ancienne ambassade de France à Venise, troisième étage, soleil, fenêtre ouverte sur les Zattere. On entrait dans ce palais par-derrière, grâce à un petit ponton surveillé où s’amarraient les vedettes les plus rapides. La vedette de l’ambassade, je la revois, s’appelait Marie-Antoinette. Avec ça, on ne pouvait pas douter des convictions profondes de l’Ambassadeur. L’Ambassadeur n’était jamais là, il passait presque tout son temps à Rome. J’ai beaucoup impressionné deux Vénitiennes, pour lesquelles j’étais un diplomate important. J’ai appris, plus tard, que cet ambassadeur d’autrefois n’avait pas du tout aimé mes livres, et regrettait d’avoir mis à ma disposition autant d’espace.

Ces années de Venise, je n’arrête pas de les décrire. J’ai été ce fantôme heureux en train de toucher spasmodiquement du bois pour me rappeler qu’il s’agissait bien de ma vie réelle. Première vie, en tout point digne de la Deuxième, ce qui fait que dans la Deuxième, rien ne m’étonne, tout me paraît aller de soi de façon claire, lumineuse, facile, comme un cosmonaute glissant dans la nuit. Les objets, en état d’apesanteur, deviennent familiers. Je suis enfin arrivé là où je devais aller, les indicateurs le signalent. Eva elle-même, regardée de tout près, n’a jamais été plus agréable.

Philippe Sollers, La Deuxième Vie.

Drei meiner Bücher wurden in der ehemaligen französischen Botschaft in Venedig geschrieben, dritter Stock, Sonne, offenes Fenster auf die Zattere. Man betrat diesen Palast von hinten über einen kleinen, bewachten Steg, an dem die schnellsten Schnellboote anlegten. Das Schnellboot der Botschaft, ich sehe es noch vor mir, hieß Marie Antoinette. Damit konnte man nicht an den tiefen Überzeugungen des Botschafters zweifeln. Der Botschafter war nie da, er verbrachte fast seine ganze Zeit in Rom. Ich beeindruckte zwei Venezianerinnen, für die ich ein wichtiger Diplomat war, sehr. Später erfuhr ich, dass dieser damalige Botschafter meine Bücher überhaupt nicht mochte und es bedauerte, dass er mir so viel Platz zur Verfügung gestellt hatte.

Diese Jahre in Venedig kann ich immer wieder beschreiben. Ich war dieser glückliche Geist, der krampfhaft auf Holz klopfte, um mich daran zu erinnern, dass es sich um mein wirkliches Leben handelte. Erstes Leben, in jeder Hinsicht dem Zweiten würdig, was dazu führt, dass mich im Zweiten nichts überrascht, alles scheint mir klar, hell und leicht von selbst zu gehen, wie ein Kosmonaut, der durch die Nacht gleitet. Die Gegenstände, die sich in einem Zustand der Schwerelosigkeit befinden, werden mir vertraut. Ich bin endlich dort angekommen, wo ich hin musste, die Wegweiser zeigen es an. Eva selbst, aus nächster Nähe betrachtet, hat sich nie angenehmer angefühlt.

Kai Nonnenmacher

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Anmerkungen
  1. „Impossible d’imaginer en musulmane la marquise de Sévigné, Proust en Arabe, Céline en Japonais, Cézanne en Américain.“>>>