Uchronie und Heil: Emmanuel Carrère

Der Traum sondert die Realität ab

Le monde que nous connaissons est, à la lettre, produit par l’uchronie. Le rêve, ou ce qui devient le rêve, sécrète la réalité qui l’annule en le remplaçant, mais n’aurait pu triompher sans lui.

Emmanuel Carrère, Uchronie, P.O.L., 2025.

Die Welt, die wir kennen, ist buchstäblich ein Produkt der Uchronie. Der Traum oder das, was zum Traum wird, sondert die Realität ab, die ihn aufhebt, indem sie ihn ersetzt, aber ohne ihn hätte sie nicht triumphieren können.

Emmanuel Carrère beschreibt 45 Jahre nach der Publikation seines Buchs Le Détroit de Behring (1986, dt. Kleopatras Nase: kleine Geschichte der Uchronie, 1993.) in seiner Wiederveröffentlichung von 2025, Uchronie, mit eigenem Vorwort, seine Bewegung als eine von der Imagination zur Akzeptanz, vom Spiel zur Verantwortung, vom uchronischen Möglichkeitsüberschuss zur gelebten Realität. Dabei wahrt er Respekt vor dem Uchronisten, ja sieht sogar dessen „grandeur“, aber entscheidet sich, ihn in sich zum Schweigen zu bringen. Er blickt in dem einleitenden Text „45 ans après“ mit einer Mischung aus Ironie, Demut und philosophischer Tiefe auf seine erste Arbeit zur Uchronie zurück. Diese Phase der Studienzeit in den 1980er Jahren stellt der Autor rückblickend als naiven, aber auch kreativen Impuls dar – eine Mischung aus List, Intuition und Selbstüberschätzung. Sie zeugt von jugendlichem Spieltrieb und intellektueller Anmaßung, aber auch von einem frühen Gespür für wissenschaftliche Nischen. Im damaligen Vakuum zum Thema der Uchronie spürte er eine „euphorie mégalomane“: das berauschende Gefühl, selbst das Referenzwerk zu schaffen. Carrère reflektiert erstaunt, wie sich das einst obskure Sujet zu einem fast überbordenden Forschungsfeld und populären Genre entwickelt hat. Diese Explosion vergleicht er mit einem Wechsel der Perspektive: Er entdeckt nicht nur vergessene Werke der Vergangenheit, sondern vor allem neue – ein Beweis für die Aktualität und Produktivität des Genres. Er führt zwei Thesen zur Popularität der Uchronie an: 1. Hinter dem scheinbar verspielten Prinzip der „Was-wäre-wenn“-Spekulation verberge sich eine tiefe Melancholie. Die Uchronie ist mit Carrère ein Ausdruck des Bedauerns, ein Versuch, mit verlorenen Möglichkeiten umzugehen – ein Symptom moderner Gesellschaften, deren Seelenlage zunehmend melancholisch sei. – 2. In einer Welt, in der das „Reale“ von Simulationen, Bildern und alternativen Versionen überdeckt wird, in der selbst jemand wie Elon Musk von einer „Grundrealität“ („réalité de base“) nur noch mit minimaler Wahrscheinlichkeit ausgeht, wird laut Carrère die Uchronie (und ihre Schwester, die Dystopie) zu einem Erkenntnismittel.

Der Titel selbst benennt bereits ein Gattungsprogramm: Die Uchronie („Nicht-Zeit“, analog zur Utopie, „Nicht-Ort“) ist ein theoretisches und literarisches Genre, das sich mit dem „Was wäre, wenn …“ beschäftigt. Charles Renouvier, der im 19. Jahrhundert den Begriff prägte, verstand darunter eine rational entworfene alternative Geschichte, die aus einem realen historischen Wendepunkt eine kontrafaktische Welt ableitet. In der Literatur des 20. Jahrhunderts fand das Genre vor allem in der Science-Fiction und in politisch motivierten Gegenwelten Anwendung. Carrères Buch steht in dieser Tradition, geht aber deutlich darüber hinaus. Die Uchronie bei Carrère ist nicht nur Gattungsbezeichnung, sondern auch ein poetologischer Kommentar: Der Text selbst ist eine Uchronie, reflektiert aber zugleich, was eine Uchronie leisten kann – und wo ihre Grenzen liegen.

Le nez de Cléopâtre, s’il eût été plus court, toute la face de la terre aurait changé.

Blaise Pascal, Œuvres complètes, tome I : Pensées, Hachette, 1871, article VI, pp. 273 à 284, pensée n° 46, p. 281.

Kleopatras Nase, wenn sie kürzer gewesen wäre, hätte sich das ganze Antlitz der Erde verändert.

Die deutsche Übersetzung von Carrères Uchronie (2025) verwies mit Pascal auf Kleopatras Nase, der ursprüngliche französische Titel Le détroit de Behring: introduction à l’uchronie (1986) auf einen getilgten Enzyklopädie-Eintrag:

L’histoire, dans les régimes totalitaires notamment, a parfois adopté le mode uchronique et montré davantage d’audace que n’en requièrent les timides tentatives de « désinformation » dénoncées de nos jours par des polémistes libéraux. On sait, par exemple, quels minutieux découpages ont permis, dès 1924, de faire disparaître Trotski des photos où il figurait aux côtés de Lénine et, en règle générale, de toute l’épopée révolutionnaire. On sait moins, peut-être, que lorsque Beria fut arrêté au lendemain de la mort de Staline, la grande Encyclopédie soviétique dont les membres du Parti recevaient chaque mois de nouveaux fascicules comportait encore une notice longue et louangeuse concernant cet ardent ami du prolétariat ; dans le mois qui suivit sa disgrâce, les abonnés reçurent avec la nouvelle livraison une circulaire les priant de découper la notice sur Beria et de la remplacer par une autre notice, incluse dans l’enveloppe, qui concernait le détroit de Behring.

Emmanuel Carrère, Uchronie, P.O.L., 2025.

Die Geschichte, insbesondere in totalitären Regimen, hat sich manchmal uchronisch verhalten und mehr Kühnheit gezeigt, als die heute von liberalen Polemiken angeprangerten zaghaften Versuche der „Desinformation“ erfordern. Man weiß zum Beispiel, dass es dank minutiöser Schnitte bereits 1924 möglich war, Trotzki von Fotos zu entfernen, auf denen er neben Lenin zu sehen war, und im Allgemeinen aus dem gesamten revolutionären Epos zu entfernen. Weniger bekannt ist vielleicht, dass, als Beria am Tag nach Stalins Tod verhaftet wurde, die große sowjetische Enzyklopädie, deren Mitglieder der Partei jeden Monat neue Hefte erhielten, noch eine lange und lobende Notiz über diesen glühenden Freund des Proletariats enthielt; Im Monat nach seiner Ächtung erhielten die Abonnenten mit der neuen Lieferung ein Rundschreiben, in dem sie gebeten wurden, die Notiz über Beria auszuschneiden und durch eine andere Notiz zu ersetzen, die sich im Umschlag befand und die die Behringstraße betraf.

Emmanuel Carrères Roman La Moustache (1986) etwa kann als Uchronie interpretiert werden, da er ein alternatives Realitätsszenario entwirft, das von einer scheinbar trivialen Entscheidung des Protagonisten ausgeht: dem Abrasieren seines Schnurrbarts. In der Uchronie wird die Geschichte durch eine Veränderung an einem bestimmten Punkt neu geschrieben, um zu erforschen, wie sich Ereignisse anders hätten entwickeln können. Im Roman führt das Rasieren des Schnurrbarts dazu, dass die Ehefrau und Freunde des Protagonisten behaupten, er habe nie einen Schnurrbart getragen. Diese Diskrepanz zwischen seiner Erinnerung und der Wahrnehmung seines Umfelds führt zu einer tiefen Identitätskrise und stellt seine Realität infrage. Der Roman spielt mit der Idee paralleler Universen: einer Realität, in der der Protagonist stets einen Schnurrbart hatte, und einer anderen, in der dies nie der Fall war. Diese Darstellung entspricht dem Konzept der Uchronie, bei dem eine Veränderung in der Vergangenheit alternative Gegenwarten oder Zukünfte schafft. Ein weiteres uchronisches Element im Roman ist die Manipulation der Vergangenheit. Der Protagonist entdeckt, dass nicht nur sein Schnurrbart „verschwindet“, sondern auch Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, wie eine Reise nach Java, von seiner Frau geleugnet werden. Diese Veränderungen lassen den Protagonisten an seinem Verstand zweifeln und verdeutlichen die Fragilität der Realität. Der Roman untersucht somit, wie eine kleine Veränderung eine Kette von Ereignissen auslösen kann, die die gesamte Wahrnehmung der Realität beeinflusst.

Christentum uchronisch: Carrère und Roger Caillois

In Roger Caillois’ Erzählung Ponce Pilate (1960) wird die biblische Szene um den römischen Statthalter Pontius Pilatus literarisch neu erzählt – mit einer entscheidenden Abweichung: Pilatus entscheidet sich nicht, Jesus zum Tod zu verurteilen, sondern spricht ihn frei. Jesus lebt weiter, das Kreuz bleibt leer, das Christentum entsteht nicht. Stattdessen kehrt Jesus zu einem bürgerlichen Leben zurück – als jemand, der kaum mehr Einfluss nimmt. Die Erzählung endet in einer Welt, in der Jesus vergessen wird und kein göttlicher Mythos entsteht.

Cette fois, Pilate était au pied du mur. Impossible de tergiverser. Demain, il faudrait qu’il laissât périr Jésus ou qu’il sacrifiât, pour le sauver, sa tranquillité et sa carrière, qu’il allât au-devant de nombreux ennuis, qu’il s’opposât tout ensemble aux Juifs et aux Romains, aux prêtres qui ressentiraient cruellement l’injure, à ses subordonnés et au propréteur qui ne manqueraient pas de le blâmer d’une décision à la fois absurde et dangereuse. Comme d’habitude, il laissait courir son imagination et se voyait déjà transformé en une sorte de héros, résistant à tous, à la pression d’Anne et de Caïphe, à la prière de Judas, aux conseils de Ménénius, à la provocation de Mardouk, pour s’exposer magnanimement aux poignards des fanatiques qui ne lui pardonneraient assurément pas d’avoir protégé l’impie.

Cette vision l’exaltait, mais, comme d’habitude aussi, ne l’enhardissait nullement. Cet héroïsme de songerie, qui ne le trompait pas, l’enfonçait, au contraire, dans sa conviction qu’il était celui qui toujours cède et qui choisit le plus commode. Il se sentait las d’être l’homme qui se lave les mains.

Roger Caillois, Ponce Pilate, Gallimard, 1960.

Diesmal stand Pilatus mit dem Rücken zur Wand. Kein Zaudern mehr möglich. Morgen würde er Jesus sterben lassen oder seine Ruhe und seine Karriere opfern müssen, um ihn zu retten, er würde in Schwierigkeiten geraten, er würde sich gegen Juden und Römer stellen, gegen die Priester, die die Beleidigung grausam empfinden würden, gegen seine Untergebenen und den Prorektor, die ihn für eine absurde und gefährliche Entscheidung tadeln würden. Wie üblich ließ er seiner Fantasie freien Lauf und sah sich bereits in eine Art Held verwandelt, der allen widerstehen würde, dem Druck von Hanna und Kaiphas, dem Gebet von Judas, dem Rat von Menenius, der Provokation von Marduk, um sich großmütig den Dolchen der Fanatiker auszusetzen, die ihm sicher nicht verzeihen würden, dass er den Gottlosen beschützt hatte.

Diese Vision versetzte ihn in Hochstimmung, aber, wie üblich, auch nicht in Mut. Diese heroische Träumerei, die ihn nicht täuschte, bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass er derjenige war, der immer nachgab und das Bequemste wählte. Er war es müde, der Mann zu sein, der seine Hände in Unschuld wäscht.

Emmanuel Carrères Le Royaume (2014) ist mehr als ein autobiografischer Roman oder eine literarische Bibelstudie, es setzt sich mit der Frage nach dem Wesen des Glaubens ebenso auseinander wie mit der historischen Entstehung des Christentums. Im Zentrum steht die Überlegung, dass der christliche Glaube nicht das Resultat einer göttlich gelenkten Notwendigkeit ist, sondern ein Produkt geschichtlicher Zufälle, persönlicher Entscheidungen und menschlicher Überlieferung – mit anderen Worten: Carrère reflektiert die Kontingenz des Christentums. Carrère schildert in Le Royaume seine Zeit als gläubiger Christ, die für ihn selbst rückblickend wie eine „psychische Krise“ erscheint. Dabei stellt er sich rückblickend die Frage: War dieser Glaube echt – oder eine Illusion? Diese Frage weitet sich im Laufe des Romans auf das gesamte Christentum aus: War die Entstehung des Glaubens eine göttliche Offenbarung – oder das Ergebnis psychologischer, sozialer und politischer Prozesse?

Im Zentrum von Carrères historischem Teil stehen vor allem Paulus und Lukas. Sie werden nicht als überhöhte Heilige, sondern als Menschen mit Zweifeln, Absichten und Ängsten dargestellt. Lukas etwa wird von Carrère als Autor beschrieben, der versuchte, ein konsistentes Narrativ zu schaffen – ein Evangelium, das überzeugen und tragen sollte. Paulus wiederum erscheint als jemand, der in tiefer Einsamkeit seine eigene Offenbarung in eine Bewegung zu gießen versucht. Carrère fragt damit implizit: Was, wenn Lukas ein anderes Evangelium geschrieben hätte? Was, wenn Paulus keine Anhänger gefunden hätte? In dieser Darstellung ist der Aufstieg des Christentums nicht notwendig, im Sinne einer Heilsgeschichte, sondern eine Möglichkeit. Im Hintergrund dieser Überlegungen steht Carrères Interesse an der Uchronie – der literarischen Technik, alternative Geschichtsverläufe zu denken. Während er in seinem Essayband Uchronie diese Technik explizit ausführt, ist sie in Le Royaume eher subtil präsent. Doch auch hier denkt Carrère immer wieder mit: Was wäre gewesen, wenn? Diese Frage richtet sich nicht nur auf historische Ereignisse, sondern auch auf den Glauben selbst: Wie viel vom Christentum ist dem Glauben seiner ersten Anhänger zu verdanken – und wie viel dem Zufall, der Rhetorik, der politischen Entwicklung? Damit stellt Carrère die These auf, dass das Christentum ebenso gut hätte verschwinden können – wie viele andere religiöse Bewegungen der Antike.

L’uchronie, ce sont les fictions sur le thème : et si les choses s’étaient passées autrement ? Si le nez de Cléopâtre avait été plus court ? Si Napoléon avait gagné à Waterloo ? Au fil de mes recherches, je me suis aperçu qu’un grand nombre d’uchronies tournent autour des débuts du christianisme. Cela n’a rien d’étonnant : si on cherche dans la trame de l’histoire l’endroit où faire l’accroc qui produira le changement maximal, on ne trouvera jamais mieux. C’est ainsi que Roger Caillois s’est mis dans la tête de Ponce Pilate quand on l’a saisi de l’affaire Jésus. Il imagine sa journée : les menus incidents, les rencontres, les mouvements d’humeur, un mauvais rêve, tout ce qui fait l’alchimie d’une décision. Finalement, au lieu de céder aux prêtres qui veulent faire mettre à mort cet obscur agité galiléen, Pilate a un sursaut. Il dit non. Je ne vois rien à lui reprocher, je le libère. Jésus rentre chez lui. Il continue à prêcher. Il meurt très vieux, entouré d’une grande réputation de sagesse. À la génération suivante, tout le monde l’a oublié. Le christianisme n’existe pas. Caillois pense que ce n’est pas une mauvaise chose.

C’est une façon de régler le problème : à la source. L’autre grand nœud temporel, sinon, c’est la conversion de Constantin.

Constantin était empereur au début du IVe siècle. Enfin, un des quatre co-empereurs qui se partageaient l’Orient et l’Occident, l’Empire étant devenu à force de grandir une chose compliquée, ingérable, infiltrée par les Barbares qui formaient désormais l’essentiel des légions. Un cinquième larron prétendait devenir empereur aussi. Il avait conquis une partie de l’Italie, Constantin défendait son trône. Une grande bataille s’annonçait près de Rome, entre ses armées et celles de l’usurpateur. La nuit précédant cette bataille, le dieu des chrétiens lui est apparu en rêve et lui a promis la victoire s’il se convertissait. Le lendemain, qui était le 28 octobre 312, Constantin remportait la bataille et l’Empire à sa suite devenait chrétien.

Ça a pris un peu de temps, bien sûr, il a fallu prévenir les gens. Mais le paganisme, en 312, était la religion officielle, le christianisme une secte mal tolérée, et dix ans plus tard c’était le contraire. La tolérance avait changé de sens, bientôt c’est le paganisme qui n’a plus été toléré. L’Église et l’Empire, main dans la main, ont persécuté les derniers païens. L’empereur se flattait d’être le premier des sujets de Jésus. Jésus, qui avait échoué trois siècles plus tôt à être le roi des Juifs, est devenu le roi de tout le monde, sauf des Juifs.

Le mot « secte », en terre catholique, a un sens péjoratif : on y associe contrainte et bourrage de crâne. Au sens protestant, qui perdure dans le monde anglo-saxon, une secte est un mouvement religieux qu’on rallie de sa propre initiative, à la différence d’une église qui est un milieu dans lequel on naît, un ensemble de choses à quoi on croit parce que d’autres y ont cru avant soi : parents, grands-parents, tout le monde. Dans une église, on croit ce que croit tout le monde, on fait ce que fait tout le monde, on ne se pose pas de questions. Nous qui sommes démocrates et amis du libre examen, nous devrions penser qu’une secte, c’est plus respectable qu’une église, mais non : question de mots. Ce qui est arrivé au christianisme avec la conversion de Constantin, c’est que la phrase de l’apologiste Tertullien : « On ne naît pas chrétien, on le devient » a cessé d’être vraie. La secte est devenue une église.

L’Église.

Carrère, Le Royaume.

Die Uchronie, das sind Fiktionen mit dem Thema: Was wäre, wenn die Dinge anders gelaufen wären? Wenn Kleopatras Nase kürzer gewesen wäre? Wenn Napoleon in Waterloo gewonnen hätte? Im Laufe meiner Recherchen habe ich festgestellt, dass sich viele Uchronien um die Anfänge des Christentums drehen. Das ist nicht verwunderlich: Wenn man im Gewebe der Geschichte nach der Stelle sucht, an der man den Haken machen kann, der die maximale Veränderung bewirkt, wird man nie etwas Besseres finden. So versetzte sich Roger Caillois in den Kopf von Pontius Pilatus, als man ihn mit dem Fall Jesus befasste. Er stellte sich seinen Tag vor: die kleinen Zwischenfälle, die Begegnungen, die Stimmungsschwankungen, ein schlechter Traum, alles, was die Alchemie einer Entscheidung ausmacht. Schließlich, anstatt den Priestern nachzugeben, die diesen obskuren galiläischen Unruhestifter töten lassen wollen, zuckt Pilatus zusammen. Er sagt „Nein“. Ich sehe keinen Grund, ihm Vorwürfe zu machen, ich lasse ihn frei. Jesus kehrt nach Hause zurück. Er predigt weiter. Er stirbt sehr alt, umgeben von einem großen Ruf der Weisheit. In der nächsten Generation haben ihn alle vergessen. Das Christentum existiert nicht. Caillois ist der Meinung, dass das gar keine schlechte Sache ist.

Es ist eine Möglichkeit, das Problem zu lösen: an der Quelle. Der andere große zeitliche Knotenpunkt ist ansonsten die Bekehrung Konstantins.

Konstantin war Kaiser zu Beginn des vierten Jahrhunderts. Schließlich war er einer von vier Co-Kaisern, die den Osten und den Westen unter sich aufteilten, da das Reich durch seine Vergrößerung zu einer komplizierten, unkontrollierbaren Sache geworden war, die von den Barbaren unterwandert wurde, die nun den Großteil der Legionen stellten. Ein fünfter Schurke erhob ebenfalls den Anspruch, Kaiser zu werden. Er hatte einen Teil Italiens erobert, Konstantin verteidigte seinen Thron. In der Nähe von Rom stand eine große Schlacht zwischen seinen Armeen und denen des Usurpators bevor. In der Nacht vor dieser Schlacht erschien ihm der Gott der Christen im Traum und versprach ihm den Sieg, wenn er sich bekehren würde. Am nächsten Tag, das war der 28. Oktober 312, gewann Konstantin die Schlacht, und das Reich in seinem Gefolge wurde christlich.

Es dauerte natürlich eine Weile, man musste die Menschen warnen. Aber das Heidentum war 312 die offizielle Religion, das Christentum eine gerade noch geduldete Sekte, und zehn Jahre später war es genau umgekehrt. Die Toleranz hatte ihre Bedeutung geändert, bald war es das Heidentum, das nicht mehr toleriert wurde. Die Kirche und das Kaiserreich verfolgten Hand in Hand die letzten Heiden. Der Kaiser schmeichelte sich damit, der erste von Jesu Untertanen zu sein. Jesus, der drei Jahrhunderte zuvor daran gescheitert war, König der Juden zu werden, wurde zum König aller Menschen, außer der Juden.

Das Wort „Sekte“ hat in katholischen Ländern eine abwertende Bedeutung: Man assoziiert damit Zwang und Gehirnwäsche. Im protestantischen Sinne, der in der angelsächsischen Welt fortbesteht, ist eine Sekte eine religiöse Bewegung, der man sich aus eigener Initiative anschließt, im Gegensatz zu einer Kirche, die ein Milieu ist, in das man hineingeboren wird, eine Ansammlung von Dingen, an die man glaubt, weil andere vor einem daran geglaubt haben: Eltern, Großeltern, jedermann. In einer Kirche glaubt man, was alle glauben, man tut, was alle tun, und man stellt sich keine Fragen. Wir, die wir Demokraten und Freunde der freien Untersuchung sind, sollten denken, dass eine Sekte respektabler ist als eine Kirche, aber nein: eine Frage der Worte. Was dem Christentum mit der Bekehrung Konstantins passierte, war, dass der Satz des Apologeten Tertullian: „Man wird nicht als Christ geboren, man muss es werden“ nicht mehr stimmte. Aus der Sekte wurde eine Kirche.

Die Kirche.

Carrères Le Royaume ist ein modernes, reflektiertes Werk über den Glauben – und über seine Unsicherheit. Der Autor zeigt, dass der christliche Glaube nicht auf einem Fels, einem festen Fundament ruht, sondern auf einem vielstimmigen, widersprüchlichen Prozess gegründet ist. Indem er die historische Kontingenz des Christentums beleuchtet, stellt Carrère auch die Glaubensgewissheit infrage – und eröffnet damit Raum für Zweifel, aber auch für eine neue Form der Auseinandersetzung mit religiösem Denken. Sein Text ist keine Anklage gegen den Glauben, sondern eine Einladung, über dessen historische Voraussetzungen, über seine Brüchigkeit und seine Möglichkeiten nachzudenken. Es hätte alles auch anders kommen können – und genau darin liegt für Carrère vielleicht die tiefste Wahrheit über das Christentum. Laut Carrère war die Kreuzigung Jesu keineswegs unausweichlich. Er zeigt, dass Pilatus zögerte, dass es politische Alternativen gegeben hätte, und dass der Tod am Kreuz nicht zwangsläufig hätte sein müssen. Daraus ergibt sich implizit die Frage: Was wäre aus der christlichen Bewegung geworden, wenn Jesus überlebt hätte? Er denkt dabei nicht spekulativ im Stil eines alternativen Romans weiter, aber er lässt durchblicken: Ohne den Märtyrertod Jesu hätte die Bewegung wohl kaum die gleiche symbolische Kraft entwickelt. Die Auferstehungserzählung als Fundament des Christentums wäre niemals in dieser Form entstanden, hätte Jesus weitergelebt. Paulus hätte wohl keine christologische Theologie entwickeln können, wie sie das Christentum prägte. Carrères Überlegung stellt das ganze christliche Narrativ auf eine kontingente, instabile Grundlage: Die zentrale Bedeutung der Kreuzigung und Auferstehung war möglich – aber eben nicht notwendig. Der Glaube an Christus hängt in hohem Maß von einer historischen Entscheidung ab, die auch anders hätte ausfallen können.

Emmanuel Carrère entfaltet in Uchronie ein Verständnis von Geschichte, das radikal mit dem deterministischen Geschichtsbild bricht. Er beschreibt diese als ethischen und erkenntnistheoretischen Reflexionsraum, in dem das Mögliche gegenüber dem Wirklichen seine Stimme erhebt. Roger Caillois hat sich nicht explizit und systematisch zur literarischen Gattung der Uchronie geäußert, doch seine Überlegungen zum Möglichen, zur Kontingenz der Geschichte und zur Funktion des Imaginären lassen sich produktiv auf den Begriff der Uchronie beziehen. Für Caillois ist die Welt nicht das Ergebnis eines notwendigen Verlaufs, sondern eines kontingenten Gefüges von Zufällen, Entscheidungen, Überlagerungen und Symbolsystemen. Diese Perspektive widerspricht jeder teleologischen oder deterministischen Geschichtsauffassung. Die Geschichte, so könnte man in Anlehnung an Caillois sagen, hätte auch anders verlaufen können – und genau darin liegt der Nährboden für uchronisches Denken. Nicht das, was geschah, ist das einzig Mögliche gewesen. Der Lauf der Geschichte ist demnach nicht notwendig, sondern lediglich verwirklicht. Die Uchronie wird zum Gedächtnis des Nicht-Geschehenen, zum Erinnerungsraum des Verhinderten, des Zurückgewiesenen, des Möglichen, das keine Wirklichkeit erlangen durfte. Dies ist mehr als ein literarisches Spiel: Es ist ein kritischer Blick auf die Geschichte, der fragt, warum bestimmte Möglichkeiten nie realisiert wurden. Die Gegenwart erweist sich so nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als das Ergebnis konkreter Entscheidungen – und Versäumnisse. Gerade in den nicht gegangenen Wegen, den verworfenen Alternativen, liegt für Carrère ein Potential der historischen Aufklärung.

Caillois interessiert sich für Mythen, Rituale, Spiele und imaginäre Welten, weil sie eine tieferliegende Wahrheit über menschliche Strukturen und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen. Er begreift das Imaginäre nicht als bloße Flucht, sondern als Instrument, um die Realität zu befragen. Daraus ergibt sich ein epistemologischer Zugang zur Uchronie: Die Erfindung alternativer Zeitverläufe ist nicht bloße Spekulation, sondern eine Form der Erkenntnis, die aufdeckt, was in der Geschichte nicht geschehen ist, aber hätte geschehen können. Die Uchronie ist nicht nur eine literarische Technik, sondern ein moralisches Gedankenspiel. Wenn Geschichte kontingent ist, dann tragen Menschen Verantwortung für Entscheidungen, für unterlassene Alternativen, für Schuld und Versäumnis. Caillois, der sich immer wieder mit der Rolle des Individuums in symbolischen Systemen auseinandersetzt, liefert hier die anthropologische Grundlage für Carrères ethische Uchronie. Aus Caillois‘ Denken ergibt sich ein implizites Verständnis von Uchronie als kritischer Spiegel der Wirklichkeit. Indem sie das Imaginäre aktiviert, entlarvt sie die vermeintliche Alternativlosigkeit historischer Entwicklungen. Die Uchronie zeigt: Was ist, muss nicht so bleiben; und was war, war nicht notwendig. In diesem Sinne ist sie ein Akt der intellektuellen und moralischen Selbstbefragung.

Caillois‘ Bezugsfigur in Carrères Argumentation ist Pontius Pilatus. Der römische Statthalter, der über das Schicksal Jesu zu urteilen hatte, wird bei Carrère zur Chiffre für das ethische Versagen gegenüber dem Möglichen. Pilatus hätte anders handeln können. Er hatte die Macht, die Kreuzigung zu verhindern. Doch er entscheidet sich für das Wegsehen, für das berühmte „Ich wasche meine Hände in Unschuld“. Diese Entscheidungslosigkeit wird bei Carrère zur Negativfolie der Uchronie: Sie markiert das Mögliche, das bewusst abgelehnt wurde. Pilatus verkörpert die Verdrängung moralischer Verantwortung. Seine historische Rolle wird bei Carrère nicht im Sinne theologischer Vorsehung gedeutet, sondern als menschliche Schwäche gegenüber einer Situation, die Handlung verlangte. Die Uchronie fragt: Was hätte geschehen können, wenn Pilatus anders entschieden hätte? Und warum tat er es nicht? In diesem Sinne ist Pilatus nicht nur historische Figur, sondern Personifikation einer Haltung, die Carrère kritisiert: das resignierte Hinnehmen des Verlaufs, das Abtreten der Verantwortung im Angesicht des Möglichen. Für Carrère ist Uchronie kein bloßer Eskapismus, keine nostalgische Fantasie. Sie vertritt vielmehr ein ethisches Denken, das uns zwingt, das Wirkliche am Möglichen zu messen. Sie ist eine Kritik an der Trägheit, mit der wir unsere Gegenwart hinnehmen, als wäre sie unvermeidlich. Uchronie sagt: Es hätte anders kommen können. Und damit sagt sie auch: Es könnte immer noch anders werden. In dieser Hinsicht ist Carrères Uchronie im Kern politisch. Sie ist eine Form historischer Reflexion, die aufklärt, indem sie Alternativen erinnert. Sie ruft nicht nach Revisionismus, sondern nach Verantwortung. Denn das Mögliche bleibt als Mahnung bestehen: Nicht alles, was möglich war, wurde getan. Das erinnert an Pilatus, aber auch an jede Gesellschaft, die im Angesicht von Unrecht untätig bleibt.

À l’annonce du verdict, l’allégresse avait été générale chez les disciples du Prophète. Ils l’avaient cru perdu. Il leur revenait, son innocence proclamée par le représentant de César en personne. C’était le triomphe quasi miraculeux de l’équité. Pour une fois, le pouvoir prenait le parti du juste et du persécuté. Bientôt, cependant, le geste de Pilate nuisit au Rabbi. Peut-être les plus ardents des fidèles se souvenaient-ils avoir quelque peu répandu le bruit que des archanges armés d’épées flamboyantes viendraient le délivrer sur l’instrument de son supplice. Les archanges n’en avaient pas eu l’occasion. Certes, les disciples ne regrettaient pas que le Maître n’eût pas été crucifié. Néanmoins, ils pressentaient qu’une intervention des légions célestes eût été plus prestigieuse que la décision d’un fonctionnaire. On eût cru parfois qu’ils étaient mécontents que le Fils de Dieu dût sa vie à la fermeté d’un magistrat romain. Cela paraissait comme incompatible avec la nature divine.

Le Messie, cependant, continua sa prédication avec succès et mourut à un âge avancé. Il jouissait d’une grande réputation de sainteté et on fit longtemps des pèlerinages au lieu de son tombeau. Toutefois, à cause d’un homme qui réussit contre toute attente à être courageux, il n’y eut pas de christianisme. À l’exception de l’exil et du suicide de Pilate, aucun des événements présumés par Mardouk ne se produisit. L’histoire, sauf sur ce point, se déroula autrement.

Roger Caillois, Ponce Pilate, épilogue.

Als das Urteil verkündet wurde, war unter den Anhängern des Propheten allgemeiner Jubel ausgebrochen. Sie hatten ihn für verloren gehalten. Jetzt war er wieder da, seine Unschuld wurde vom Vertreter des Kaisers selbst verkündet. Es war ein fast wundersamer Triumph der Gerechtigkeit. Zum ersten Mal stellte sich die Macht auf die Seite des Gerechten und Verfolgten. Bald jedoch schadete die Geste des Pilatus dem Rabbi. Vielleicht erinnerten sich die eifrigsten Gläubigen daran, dass sie das Gerücht verbreitet hatten, Erzengel mit flammenden Schwertern würden kommen, um ihn auf dem Marterinstrument zu erlösen. Die Erzengel hatten keine Gelegenheit dazu gehabt. Die Jünger bedauerten nicht, dass der Meister nicht gekreuzigt worden war. Sie ahnten jedoch, dass ein Eingreifen der himmlischen Legionen mehr Prestige gehabt hätte als die Entscheidung eines Beamten. Manchmal schien es, als wären sie unzufrieden damit, dass der Sohn Gottes sein Leben der Entschlossenheit eines römischen Magistrats verdankte. Dies schien mit der göttlichen Natur unvereinbar zu sein.

Der Messias setzte seine Predigt jedoch erfolgreich fort und starb in hohem Alter. Er genoss einen großen Ruf der Heiligkeit, und man pilgerte lange Zeit zu seinem Grab. Wegen eines Mannes, dem es wider Erwarten gelang, mutig zu sein, gab es jedoch kein Christentum. Mit Ausnahme der Verbannung und des Selbstmords von Pilatus trat keines der von Marduk angenommenen Ereignisse ein. Die Geschichte verlief, außer in diesem Punkt, anders.

Im Vergleich lässt sich festhalten: Bei Carrère bleibt die Frage offen, ob das Christentum „wahr“ ist oder bloß eine zufällige Erfolgsgeschichte. Bei Caillois wird die Hypothese konsequent durchgespielt: Ohne Passion, keine Religion. Der göttliche Mythos braucht das Leiden, das Martyrium. Caillois‘ Erzählung ist damit eine Uchronie als Kritik oder Infragestellung religiöser Notwendigkeit: Sie zeigt, dass das Schicksal Jesu nicht „unvermeidlich“ war. Die Bezugnahme auf Caillois und Pilatus schärft Carrères Uchroniebegriff in entscheidender Weise. Bei Caillois wird die Geschichte als offener Möglichkeitsraum gedacht; bei Pilatus wird die Entscheidung, diesen Raum nicht zu betreten, zum moralischen Versagen. Damit wird die Uchronie zu einem Ort der Kritik – an der Geschichte, an uns selbst, an einer Welt, die mögliche Zukünfte übersehen hat. Sie ist zugleich Erinnerung und Anklage, Hoffnung und Warnung. Und letztlich ist sie der Schatten des Möglichen auf das, was ist. Sekte statt Kirche, im Sinne von Carrère.

Zur Aktualität der Uchronie

Le vrai roman, en fait, se lit en filigrane de l’uchronie. Qu’est-ce que cela signifie de vivre comme si ? Dans un passé apocryphe, mais surtout dans le présent qu’il invalide ?

Emmanuel Carrère, Uchronie, P.O.L., 2025.

Der wahre Roman lässt sich in der Tat unter dem Wasserzeichen der Uchronie lesen. Was bedeutet es, so zu leben, als ob? In einer apokryphen Vergangenheit, aber vor allem in der Gegenwart, die sie entkräftet?

Was wäre, wenn Marine Le Pen gar nicht zur Präsidentschaftswahl antreten könnte? Wenn Donald Trump andere als die eigenen Geschichtsdeutungen doch zuließe? Emmanuel Carrère beschreibt die Uchronie als einen Raum des Möglichen, in dem Geschichte anders verlaufen ist, nicht als bloßes Gedankenexperiment, sondern als Diagnose und Kritik der Gegenwart. Dazu ein kurzer literarischer Anwendungsfall: Ruben Emmanuels Roman Malville (Stock, 2024) entwirft ein dystopisches Frankreich nach dem Zusammenbruch gesellschaftlicher Strukturen, als spekulativen Raum, der die Gegenwart entlarvt und zugleich eine düstere Zukunft skizziert. Das Uchronische markiert hier die Weiche, an der das Reale ins Dystopische umschlagen könnte. Malville spielt in einem Frankreich der nahen Zukunft, 2036, das von einem nicht genau bezeichneten ökologisch-sozialen Kollaps gezeichnet ist. Ein kleines Grüppchen Überlebender – darunter Bauern, Intellektuelle und ein ehemaliger Beamter – verschanzt sich in einem Weindorf, das zur Enklave geworden ist. Die äußere Welt ist zerstört oder verfallen, die staatliche Ordnung existiert nicht mehr, Kommunikation ist abgeschnitten:

Six mois après la catastrophe, je me demande encore comment il a été possible de faire renaître de ses cendres cette centrale Superphénix de Malville qui connut son premier incident moins de deux ans après sa mise en service et moins d’un an après Tchernobyl.

Toute la France vivait alors dans le culte du nucléaire. J’ai moi-même été longtemps fasciné par cette industrie que nous étions nombreux à considérer comme propre, durable et patriotique, la meilleure garantie de notre indépendance énergétique et militaire. Des foutaises : nous savons tous qu’il n’y a pas une miette d’uranium dans notre sous-sol et que le nucléaire produit des déchets toxiques qui nous survivront des millions d’années !

Il faut remonter très loin dans le temps pour comprendre l’enchaînement des faits qui nous forcent à mener cette espèce de demi-vie sous vide, sans musée, sans cinéma, sans théâtre, sans bar, sans restaurant, tous les lieux de convivialité ayant fermé depuis qu’il est devenu impossible de sortir dans la rue sans masque à gaz sur le visage et sans dosimètre autour du cou.

Les événements survenus au cours des années 2020 sont pour beaucoup dans le choix de persévérer dans une impasse pourtant condamnée par de nombreux élus, penseurs et militants. Du fait du dérèglement climatique, une série de pandémies de source animale s’étaient répandues à la surface du globe et nous vîmes mourir à tour de bras nos valeureux vieillards, à qui l’on promettait quelques années plus tôt d’atteindre le centenaire. Puis les virus, de plus en plus contagieux, colportés par la guerre, s’attaquèrent à tout un chacun, à toutes les latitudes.

La planète bleue est un grand frigo sphéroïde muni de deux compartiments à glaçons : en haut le pôle Nord ; en bas le pôle Sud. Si les deux compartiments se mettent à dégeler subitement, c’est tout le contenu du frigo qu’il faut foutre à la poubelle. Pour sauver le climat et protéger leurs populations, les gouvernements avaient le choix entre deux sources d’énergie : le nucléaire ou les énergies renouvelables.

Dès sa réélection en 2022, Emmanuel Macron jeta les bases d’un nouveau plan Messmer : histoire de se doter d’une aura gaullienne en pleine guerre d’Ukraine, le président décréta la construction de quatorze réacteurs et fit labelliser le nucléaire énergie verte à Bruxelles. Tout le monde comprit dès lors que la France, pays le plus nucléarisé du monde, ne comptait pas renoncer à ce qui ferait bientôt, comme autrefois l’art ou la littérature, sa véritable exception culturelle : elle fonça tête baissée dans l’impasse atomique.

Avec l’arrivée au pouvoir de l’extrême droite et la dissolution de l’Union européenne, ce programme insensé s’accéléra pour de bon : les premiers réacteurs modulaires, les nouveaux EPR et les prototypes dernier cri sortirent de terre, le long de nos mers, de nos fleuves et de nos rivières.

Le 19 juin 2027, trente ans jour pour jour après l’abandon de Superphénix, sur le site encore en démantèlement, près du village de Malville, fut lancé le chantier d’un réacteur à neutrons rapides de quatrième génération. Vu qu’il fallait effacer ce nom maudit de Malville, vu que le nom de Superphénix avait cristallisé trop d’oppositions, vu que la mode était alors aux noms de reines et d’héroïnes, on appela cette nouvelle centrale Astrid. Un joli nom pour une belle saloperie !

Par une drôle de coïncidence, Astrid, je ne pouvais pas oublier ce nom, c’était celui de mon premier amour. Mais en l’occurrence, c’était un acronyme – un acronyme qui ne fonctionne qu’en anglais : A pour advanced, S pour sodium, T pour technological, R pour reactor, I pour industrial et D pour demonstration. Depuis la catastrophe du 13 janvier 2036, Astrid n’est plus qu’un tas de ruines ; le virus radioactif a envahi l’atmosphère et cela fait bientôt six mois que nous vivons confinés dans nos bulles domestiques, à l’abri de l’air qu’il a contaminé.

Ruben Emmanuel, Malville, Ed. Stock, 2024.

Sechs Monate nach der Katastrophe frage ich mich immer noch, wie es möglich war, dieses Superphénix-Kernkraftwerk in Malville aus der Asche wieder auferstehen zu lassen, das weniger als zwei Jahre nach seiner Inbetriebnahme und weniger als ein Jahr nach Tschernobyl seinen ersten Zwischenfall erlebte.

Ganz Frankreich lebte damals im Atomkult. Ich selbst war lange Zeit von dieser Industrie fasziniert, die viele von uns als sauber, nachhaltig und patriotisch betrachteten, als beste Garantie für unsere Energie- und Militärunabhängigkeit. Quatsch: Wir alle wissen, dass es in unserem Untergrund kein bisschen Uran gibt und dass die Atomkraft giftige Abfälle produziert, die uns Millionen von Jahren überdauern werden!

Man muss weit in die Vergangenheit zurückgehen, um die Abfolge der Ereignisse zu verstehen, die uns dazu zwingen, diese Art von Halbwertszeit unter Vakuum zu führen, ohne Museum, ohne Kino, ohne Theater, ohne Bar, ohne Restaurant, alle Orte der Geselligkeit sind geschlossen, seit es unmöglich geworden ist, auf die Straße zu gehen, ohne Gasmaske im Gesicht und ohne Dosimeter um den Hals.

Die Ereignisse der 2020er Jahre sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass man sich trotz der von vielen Politikern, Denkern und Aktivisten verurteilten Sackgasse weiterhin in ihr verstrickt. Aufgrund des Klimawandels hatte sich eine Reihe von Pandemien tierischen Ursprungs auf der ganzen Welt ausgebreitet, und wir sahen, wie unsere tapferen alten Menschen, denen man einige Jahre zuvor das Erreichen des hundertsten Lebensjahres versprochen hatte, reihenweise starben. Dann griffen die immer ansteckenderen Viren, die durch den Krieg verbreitet wurden, jeden Menschen in allen Breitengraden an.

Der blaue Planet ist ein großer sphäroidischer Kühlschrank mit zwei Eiswürfelbehältern: oben der Nordpol, unten der Südpol. Wenn beide Behälter plötzlich auftauen, muss der gesamte Inhalt des Kühlschranks in den Müll. Um das Klima zu retten und ihre Bevölkerung zu schützen, hatten die Regierungen die Wahl zwischen zwei Energiequellen: Kernenergie oder erneuerbare Energien.

Nach seiner Wiederwahl im Jahr 2022 legte Emmanuel Macron den Grundstein für einen neuen Messmer-Plan: Um sich mitten im Ukraine-Krieg eine gaullistische Aura zu verleihen, ordnete der Präsident den Bau von vierzehn Reaktoren an und ließ die Kernenergie in Brüssel als grüne Energie kennzeichnen. Von da an war allen klar, dass Frankreich, das Land mit der weltweit größten Anzahl an Kernkraftwerken, nicht auf das verzichten wollte, was bald, wie einst Kunst oder Literatur, seine wahre kulturelle Ausnahmeerscheinung werden würde: Es stürzte kopfüber in die atomare Sackgasse.

Mit dem Machtantritt der extremen Rechten und der Auflösung der Europäischen Union beschleunigte sich dieses unsinnige Programm endgültig: Die ersten modularen Reaktoren, die neuen EPR und die Prototypen der neuesten Generation entstanden entlang unserer Meere und Flüsse.

Am 19. Juni 2027, genau dreißig Jahre nach der Aufgabe von Superphénix, wurde auf dem noch immer demontierten Gelände in der Nähe des Dorfes Malville mit dem Bau eines Schnellneutronenreaktors der vierten Generation begonnen. Da dieser verfluchte Name von Malville weg musste, da der Name Superphénix zu viel Widerstand hervorgerufen hatte, da Namen von Königinnen und Heldinnen damals in Mode waren, wurde dieses neue Kraftwerk Astrid genannt. Ein schöner Name für eine schöne Scheiße!

Durch einen seltsamen Zufall konnte ich Astrid nicht vergessen, es war der Name meiner ersten Liebe. Aber in diesem Fall war es ein Akronym – ein Akronym, das nur auf Englisch funktioniert: A für advanced, S für sodium, T für technological, R für reactor, I für industrial und D für demonstration. Seit der Katastrophe vom 13. Januar 2036 ist Astrid nur noch ein Trümmerhaufen; das radioaktive Virus ist in die Atmosphäre gelangt, und seit fast sechs Monaten leben wir in unseren häuslichen Blasen, geschützt vor der kontaminierten Luft.

Der Ort Malville ist in der Gegenwart verankert, aber gleichzeitig in eine „entzeitlichte“ Sphäre versetzt – keine Daten, keine technische Modernität, sondern eine Art regressiver Selbstversorgung, die an archaische Dorfgemeinschaften erinnert.

Die Katastrophe, die zur Isolation geführt hat, bleibt bewusst vage. In dieser Katastrophe liegt das Uchronische: Es ist ein „Was wäre, wenn“ ohne konkreten Auslöser – eine gebrochene Zeitlinie, in der Geschichte versandet ist. Im Zentrum der Uchronie steht laut Carrère die Frage: Was wäre, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre – oder aufgehört hätte? Malville zeigt eine Welt, in der Geschichte keine Entwicklung mehr kennt. Sie ist eingefroren. Emmanuel Ruben beschreibt allerdings kein konkretes alternatives Jahr, sondern ein dystopisches „Danach“ der Uchronie, das sich historischer Mechanismen entledigt hat. Die Gesellschaft zerfällt in Mythen, archaische Rituale, Körperlichkeit und Machtdynamiken – ein Raum jenseits der Zeit. Während klassische Dystopien wie Orwells 1984 oder Huxleys Brave New World auf totalitäre Systeme fokussieren, zeigt Malville eine andere Art der Dystopie: die Auflösung der Systeme selbst. In der Enklave entsteht keine Utopie des Überlebens, sondern eine Rückkehr zu patriarchalen und feudalen Mustern: Macht wird durch Gewalt und Besitz geregelt. Bildung verliert an Bedeutung, Wissen ist verdächtig. Die Natur ist nicht mehr romantisch, sondern bedrohlich und fremd. Diese Regression offenbart eine Kritik am Fortschrittsdenken: Ruben Emmanuel fragt, was vom „zivilisierten“ Menschen bleibt, wenn alle Strukturen entfallen. Die Antwort ist ernüchternd. In Carrères Sinn ist Uchronie immer auch ein Spiegel: eine kritische Folie zur Gegenwart. Malville erzählt nicht nur von einer hypothetischen Zukunft, sondern verhandelt die Angst der Gegenwart vor ökologischem Kollaps, gesellschaftlichem Zerfall und Bedeutungsverlust. Die Stärke des Romans liegt darin, dass er keine klare Alternative bietet. Ruben Emmanuel romantisiert den Rückzug aufs Land nicht. Malville ist keine Idylle, sondern eine Fallstudie darüber, wie fragil das soziale Gefüge ist, wenn das Geschichtsnarrativ – und damit auch der Fortschrittsglaube – erlischt. Malville ist eine Uchronie im Carrère’schen Sinne, allerdings keine klassische Alternativgeschichte, sondern ein radikaler Raum der historischen Unterbrechung. Der Roman konstruiert eine dystopische Gegenwelt, in der das Ende der Geschichte zur Gegenwart wird, zur Warnung. Ruben Emmanuel zeigt so, wie Uchronie und Dystopie verwoben sind, wenn Geschichte nicht mehr als Kontinuum, sondern als fragiles Konstrukt gedacht wird. In Malville erstarrt die Zeit – und darin liegt die literarische wie politische Sprengkraft der Fiktion.

Uchronie der rückblickenden Erleichterung

Die USA beherrscht von Faschisten: In Emmanuel Carrères Werk wird Philip K. Dicks Buch The Man in the High Castle (1962, dt.: Das Orakel vom Berge) als eine Uchronie gewählt, in der die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, d.h. Nazi-Deutschland und das Japanische Kaiserreich. Das Buch spielt 1962 in einer fiktiven Gegenwart, in der die Vereinigten Staaten zwischen den Siegern aufgeteilt wurden: Der Westen (Pazifische Staaten von Amerika) wird von Japan kontrolliert, der Osten von Deutschland, dazwischen existieren die neutralen Rocky-Mountain-Staaten. In dieser Alternativwelt hat sich das NS-Regime technologisch und geopolitisch enorm weiterentwickelt: Es hat das Mittelmeer trockengelegt (Anlehnung an das Atlantropa-Projekt), betreibt Raumfahrt mit Flügen zum Mond und Mars und hat eine hochentwickelte pharmazeutische und Materialindustrie. Das Fernsehen ist jedoch kaum verbreitet. Ideologisch hat sich das NS-Regime radikalisiert: In Afrika wird ein Völkermord an der schwarzen Bevölkerung verübt, Juden werden weiterhin verfolgt, und die Politik ist von Rassenideologie und Expansionsplänen geprägt. Ein geplanter Atomangriff auf Japan zeigt den aggressiven Expansionismus Deutschlands. Führerfiguren wie Reinhard Heydrich, Erwin Rommel und Fritz Todt leben noch und besetzen zentrale Rollen in der Verwaltung und Machtstruktur des Reiches. Adolf Hitler ist hingegen geisteskrank und zurückgezogen, Martin Bormann ist zunächst Reichskanzler, nach dessen Tod entbrennt ein Machtkampf u. a. zwischen Goebbels und Heydrich. In dieser Welt fungiert das NS-Regime als global dominierende Supermacht mit neokolonialen Zügen, während die japanische Herrschaft autoritär, aber deutlich milder dargestellt wird. Dick entwirft mit The Man in the High Castle eine düstere Uchronie, in der der Nationalsozialismus zur totalitären, technologisch fortschrittlichen Weltmacht geworden ist – ein Alptraum, der in seiner Kälte und Systematik fast erschreckender wirkt als die reale Geschichte. Zugleich stellt Dick die Wirklichkeit selbst infrage und reflektiert über die Macht der Fiktion. Carrère hebt hervor, dass Dicks Werk zeigt, wie alle möglichen Realitäten existieren können, und dass das Uchronische oft mit einer gewissen Gleichgültigkeit behandelt wird, da alles letztlich zu den gleichen menschlichen Erfahrungen von Leiden und Sterben führt. Auch in seinem Buch Uchronie (2025) diskutiert Emmanuel Carrère spekulative politische Szenarien Frankreichs, eine davon denkt eine zentrale Phase der französischen Geschichte neu:

On le voit bien, a contrario, en lisant des uchronies dont le ressort n’est pas la déception mais le soulagement rétrospectif. Tout comme il regrette que Napoléon n’ait pas achevé son œuvre ou que la venue du Christ ait mis fin à un âge d’or, l’uchroniste peut se réjouir, par exemple de la victoire des Alliés en 1944 et investir cet événement d’une charge affective telle qu’il éprouve le besoin, pour voir, de se présenter l’horrible issue inverse : le triomphe du Reich, le monde transformé en camp de concentration, livré à la terreur et à l’empire du Mal. Cette conjecture a inspiré une quantité d’ouvrages , pour la plupart médiocres. Il s’agit le plus souvent de tableaux à court terme des nations placées sous le joug allemand (dans les fictions européennes) ou japonais (dans les fictions américaines), où l’uchronie ne sert qu’à exploiter avec plus ou moins de roublardise la légitime terreur qu’inspire la possibilité d’une victoire de l’Axe. Dans Le Son du cor, O. Sarban (pseudonyme de l’écrivain anglais John Wall) transforme l’Angleterre occupée en une immense réserve où les dignitaires nazis, Goering en tête, se livrent aux joies de la chasse à l’homme. Ce cauchemar ne s’est pas réalisé, on respire. Ou alors l’astuce consiste à projeter un éclairage inattendu sur des situations contemporaines, qu’on se borne à inverser. Si l’Allemagne avait vaincu…, il y aurait eu, selon Randolph Robban (pseudonyme de je ne sais qui), une conférence de Potsdam où Hitler, Mussolini et Hiro-Hito se seraient partagé le monde, un procès de Nuremberg où auraient été condamnés Staline, Truman, Churchill, de Gaulle, etc. Hitler rencontre Paul Valéry comme Napoléon Goethe, l’existentialisme, d’origine allemande, devient philosophie officielle de la France occupée, Sartre son grand prêtre et l’auteur, un peu dégoûté par tout cela, songe à écrire un livre sur ce thème subversif : Si les Alliés avaient vaincu… (Cherchant un pseudonyme, il adopte celui de Pierre de Repère, d’où par symétrie l’on peut déduire sans trop d’invraisemblance le vrai nom de Randolph Robban.)

Emmanuel Carrère, Uchronie, P.O.L., 2025.

Im Gegensatz dazu zeigt sich dies deutlich beim Lesen von Uchronien, deren Thema nicht die Enttäuschung, sondern die rückblickende Erleichterung ist. So wie der Uchronist bedauert, dass Napoleon sein Werk nicht vollendet hat oder dass das Kommen Christi ein goldenes Zeitalter beendet hat, kann er sich zum Beispiel über den Sieg der Alliierten im Jahr 1944 und dieses Ereignis mit einer emotionalen Ladung zu versehen, dass er das Bedürfnis verspürt, sich das schreckliche gegenteilige Ergebnis vorzustellen, um zu sehen: den Triumph des Reiches, die Welt, die in ein Konzentrationslager verwandelt wurde, dem Terror und der Herrschaft des Bösen ausgeliefert. Diese Vermutung hat eine Vielzahl von Werken inspiriert, von denen die meisten mittelmäßig sind. Meist handelt es sich um kurzfristige Darstellungen der Nationen unter deutscher (in europäischen Fiktionen) oder japanischer (in amerikanischen Fiktionen) Herrschaft, in denen die Uchronie nur dazu dient, den legitimen Schrecken, den die Möglichkeit eines Sieges der Achsenmächte hervorruft, mehr oder weniger gerissen auszunutzen. In The Horn of the Bull verwandelt O. Sarban (Pseudonym des englischen Schriftstellers John Wall) verwandelt das besetzte England in ein riesiges Reservat, in dem sich die Nazi-Würdenträger, allen voran Göring, der Freude an der Menschenjagd hingeben. Dieser Albtraum ist nicht wahr geworden, wir atmen auf. Oder aber die List besteht darin, ein unerwartetes Licht auf zeitgenössische Situationen zu werfen, die man nur umkehrt. Wenn Deutschland gesiegt hätte, hätte es laut Randolph Robban (Pseudonym von wer weiß wem) eine Potsdamer Konferenz gegeben, bei der Hitler, Mussolini und Hirohito die Welt unter sich aufgeteilt hätten, einen Nürnberger Prozess, bei dem Stalin, Truman, Churchill, de Gaulle usw. verurteilt worden wären. Hitler trifft Paul Valéry wie Napoleon auf Goethe, der Existentialismus deutscher Herkunft wird zur offiziellen Philosophie des besetzten Frankreichs, Sartre zu seinem Hohepriester und der Autor, etwas angewidert von all dem, denkt darüber nach, ein Buch über dieses subversive Thema zu schreiben: Wenn die Alliierten gesiegt hätten … (Auf der Suche nach einem Pseudonym nimmt er das von Pierre de Repère an, woraus man symmetrisch und ohne allzu große Unwahrscheinlichkeit den richtigen Namen Randolph Robban ableiten kann.)

Eine Utopie ist der Entwurf einer idealen Gesellschaft, die jedoch nicht in der realen Welt verortet ist. Klassische Utopien – wie etwa Thomas Morus’ Utopia – nutzen das erzählerische Mittel einer fiktiven Reise an einen unbekannten Ort, meist eine Insel, die auf keiner Karte verzeichnet ist. Damit signalisieren sie: Diese ideale Gesellschaft existiert nirgendwo, sie ist ein Denkmodell, das außerhalb der realen Welt angesiedelt wird. Auch moderne Utopien verlagern ihr Ideal bewusst aus der Gegenwart heraus – in ferne Länder, in den interstellaren Raum, in die Zukunft oder in eine vergoldete Vergangenheit. Das Entscheidende dabei ist, dass Utopien das bestehende Wirklichkeitsgefüge nicht gefährden. Sie fordern keine direkte Konfrontation mit der Realität, sondern präsentieren eine Alternative, die räumlich oder zeitlich weit entfernt ist. Ganz anders verhält es sich mit der Uchronie. Sie fragt nicht, wo oder wann eine ideale Gesellschaft existieren könnte, sondern was geschehen wäre, wenn die Vergangenheit anders verlaufen wäre. Eine Uchronie setzt also an einem realen, bekannten historischen Ereignis an und verändert dessen Ausgang. Das ist nicht nur ein Gedankenexperiment, sondern ein regelrechter „Skandal“, weil es die Geschichtsschreibung selbst infrage stellt. Uchronien bedrohen das Gleichgewicht zwischen Realität und Fiktion, indem sie nicht nur die Zukunft oder ferne Orte imaginieren, sondern behaupten: So hätte unsere Welt tatsächlich sein können. Während Utopien eine alternative Ordnung entwerfen, um das Bestehende zu kritisieren oder zu verbessern, geht die Uchronie einen Schritt weiter – sie will die Vergangenheit korrigieren, sei es aus Unzufriedenheit, aus Neugier oder aus dem Wunsch heraus, historische Fehlentwicklungen zu „reparieren“. Uchronien sind daher provokanter als Utopien. Sie führen die Vorstellung ad absurdum, dass Geschichte abgeschlossen sei, und öffnen den Raum für Spekulationen, die tief in unser Selbstverständnis eingreifen. In der Konsequenz laden sie – oft sehr wirkungsvoll – dazu ein, den Lauf der Geschichte kritisch zu reflektieren und sich mit dem auseinanderzusetzen, was hätte sein können:

Supposons un homme mécontent de sa cité. Il y a quelques siècles, il pouvait s’imaginer qu’il en existait de meilleures dans un monde qui offrait encore des espaces inexplorés. Les utopies classiques usent presque toutes du même artifice narratif : elles prétendent être la relation d’un voyage. Dans une île éloignée, ignorée par les cartes, les navigateurs trouvent la République idéale. C’est Utopia. Mais Thomas More, en fabriquant son mot, nous prévient et nous navre : il n’y a pas d’illusions à se faire, la cité parfaite n’est nulle part.

Si, une fois explorée la surface du globe et vérifié que nulle part ce n’est spécialement plus réussi que chez soi, on veut encore feindre que cette cité existe – ne serait-ce que pour la donner en exemple –, restent deux recours. Puisqu’elle n’est pas sur terre, elle peut être ailleurs dans l’espace interstellaire. Puisqu’elle n’est pas dans le présent, elle peut être ailleurs dans le temps. Elle a existé dans le passé, et on évoque l’âge d’or.

Elle existera dans le futur, et l’utopie devient anticipation. Aucune de ces affirmations ne contredit formellement ce que nous savons de notre monde. Nul n’éprouve le besoin de faire coexister deux univers dans un même espace. Il y a suffisamment de place ailleurs pour qu’on s’abstienne de menacer le statu quo entre le réel et l’imaginaire.

Celui-ci n’est compromis que si, par exemple, un Parisien de 1985, au lieu de dire que tout était pour le mieux dans l’Antiquité grecque, que tout sera pour le mieux en 2985, que tout est pour le mieux chez les Papous, les Chinois ou les Martiens, décrit une société totalement différente de la sienne, conforme à l’idée qu’il se fait du mieux – ou du pire, n’importe – et prend soin de dater son tableau en nous disant que c’est Paris en 1985. Un scandale se produit : on entre en Uchronie.

On y entre sous l’empire d’un mécontentement différent. Napoléon a été vaincu à Waterloo, il est mort à Sainte-Hélène. C’est intolérable – du moins l’uchroniste le pense – et nous subissons encore les conséquences de ce malheur. Il faut rectifier cette bourde de l’histoire. Annuler ce qui a été, le remplacer par ce qui aurait être (si l’on se charge, au nom d’une ferme conviction, de faire la leçon à la Providence), ce qui aurait pu être (si l’on se borne à expérimenter une vue de l’esprit, sans être partisan).

Le propos de l’utopie est de modifier ce qui est, de fournir au moins les plans de cette modification. Ce n’est pas déraisonnable et c’est à quoi s’appliquent, par des voies très diverses, les hommes qui font les civilisations aussi bien que ceux qui les rêvent meilleures et couchent leurs rêves sur le papier. Le propos de l’uchronie, scandaleux, est de modifier ce qui a été.

Il donne corps à une hantise à la fois curieuse et banale. Se figurer l’état du monde si tel événement, jugé déterminant, s’était déroulé autrement, est un des exercices les plus naturels et fréquents qu’opère la pensée humaine. Plus naturel, plus fréquent à tout prendre que d’édifier en pensée des cités idéales.

Emmanuel Carrère, Uchronie, P.O.L., 2025.

Nehmen wir an, ein Mann ist unzufrieden mit seiner Stadt. Vor einigen Jahrhunderten konnte er sich vorstellen, dass es in einer Welt, die noch unerforschte Räume bot, bessere gab. Die klassischen Utopien verwenden fast alle den gleichen narrativen Kunstgriff: Sie behaupten, die Beschreibung einer Reise zu sein. Auf einer abgelegenen Insel, die auf den Karten nicht verzeichnet ist, finden die Seefahrer die ideale Republik. Das ist Utopia. Aber Thomas More warnt uns mit seinem Wort und betrübt uns: Wir dürfen uns keine Illusionen machen, die perfekte Stadt gibt es nirgendwo.

Wenn man, nachdem man die Erdoberfläche erkundet und festgestellt hat, dass es nirgendwo besonders besser ist als zu Hause, immer noch so tun will, als ob diese Stadt existiere – und sei es nur, um sie als Beispiel zu nehmen –, bleiben zwei Möglichkeiten. Da sie nicht auf der Erde ist, kann sie irgendwo im interstellaren Raum sein. Da sie nicht in der Gegenwart ist, kann sie irgendwo in der Vergangenheit sein. Sie hat in der Vergangenheit existiert, und wir sprechen vom Goldenen Zeitalter.

Sie wird in der Zukunft existieren, und Utopie wird zur Antizipation. Keine dieser Aussagen widerspricht formal dem, was wir über unsere Welt wissen. Niemand verspürt das Bedürfnis, zwei Universen im selben Raum nebeneinander bestehen zu lassen. Es gibt genug Platz an anderer Stelle, um den Status quo zwischen Realität und Fantasie nicht zu gefährden.

Dieser wird nur dann in Frage gestellt, wenn beispielsweise ein Pariser aus dem Jahr 1985, anstatt zu sagen, dass in der griechischen Antike alles zum Besten stand, dass alles im Jahr 2985 besser sein wird, dass bei den Papua, den Chinesen oder den Marsmenschen alles besser ist, beschreibt er eine Gesellschaft, die sich völlig von seiner eigenen unterscheidet, die seiner Vorstellung vom Besten – oder vom Schlimmsten, was auch immer – entspricht, und er achtet darauf, sein Bild zu datieren, indem er uns sagt, dass es Paris im Jahr 1985 ist. Es kommt zu einem Skandal: Wir betreten die Uchronie.

Wir treten ein unter dem Einfluss einer anderen Unzufriedenheit. Napoleon wurde in Waterloo besiegt, er starb auf St. Helena. Das ist unerträglich – zumindest denkt der Uchronist so – und wir leiden immer noch unter den Folgen dieses Unglücks. Dieser Fehler in der Geschichte muss korrigiert werden. Das Geschehene rückgängig machen, es durch das ersetzen, was hätte sein sollen (wenn man sich im Namen einer festen Überzeugung anmaßt, der Vorsehung eine Lektion zu erteilen), was hätte sein können (wenn man sich darauf beschränkt, eine Vision zu experimentieren, ohne parteiisch zu sein).

Der Zweck der Utopie ist es, das zu verändern, was ist, und zumindest die Pläne für diese Veränderung zu liefern. Das ist nicht unvernünftig und das ist es, worauf sich Menschen, die Zivilisationen erschaffen, ebenso wie diejenigen, die von besseren träumen und ihre Träume zu Papier bringen, auf sehr unterschiedliche Weise konzentrieren. Der Zweck der Uchronie, skandalös, ist es, das zu verändern, was war.

Sie gibt einer zugleich kuriosen und banalen Angst Gestalt. Sich vorzustellen, wie die Welt aussehen würde, wenn ein bestimmtes Ereignis anders verlaufen wäre, ist eine der natürlichsten und häufigsten Übungen des menschlichen Denkens. Alles in allem natürlicher und häufiger als das gedankliche Errichten idealer Städte.

Flucht vor/zu dem Realen: Carrère und Clément Rosset

Le réel n’est rien – c’est-à-dire rien de subie, rien de constitué, rien d’arrêté. Donc le réel n’est, en soi, pas modifiable.

Clément Rosset, Le Réel: traité de l’idiotie.

Das Reale ist nichts – das heißt nichts Erlittenes, nichts Konstituiertes, nichts Festgesetztes. Daher ist das Reale an sich nicht modifizierbar.

Clément Rossets Le Réel: traité de l’idiotie (1977, rev. 2012) beruht auf einer zentralen These: Das Reale ist singulär, kontingent, ohne Grund, ohne Verdoppelung – und es ist genau diese Dummheit („idiotie“) des Realen, die das menschliche Denken zu vermeiden sucht. Es entzieht sich jeder Rationalisierung, Begründung oder Finalität, es ist einfach. Rosset spielt hier bewusst mit dem Begriff der Idiotie im Sinne des Unvermittelbaren, Eigenen, Nicht-Verallgemeinerbaren. Das Reale ist singulär und unvertretbar, und jeder Versuch, es zu verdoppeln – sei es durch Idealität, Symbol, Erklärung oder Wunsch – ist ein Fluchtversuch. Rosset analysiert das menschliche Bedürfnis, dem Realen ein imaginäres Double zur Seite zu stellen: das Ideal, das Wahre, das Gute, das Hätte-Sein-Können. Dieses Double dient nicht der Erkenntnis, sondern der Vermeidung des Realen. Die Doppelung erweist sich für Rosset als Grundstruktur der Illusion. Gegen die Tendenz zur Verdopplung stellt Rosset die bejahende Freude – nicht als naive Euphorie, sondern als existenziellen Akt der Akzeptanz. Rossets Philosophie ist also eine radikale Lehre der Zustimmung zur Welt in ihrer Unverständlichkeit, Absurdität und Zufälligkeit. Er geht damit in kritische Distanz zu jeder utopischen, platonischen oder spekulativ-theoretischen Denkbewegung, die das Reale durch ein mögliches Anderes relativiert.

In einem bemerkenswerten Schluss seiner einleitenden Gedanken zitiert Carrère eine Analyse Clément Rossets 1 zu einer scheinbar banalen Formulierung bei Malcolm Lowry: „Somehow, anyhow, they moved on.“ In dieser Passage, die sich auf Malcolm Lowrys Roman Au-dessous du volcan bezieht, entdeckt Rosset ein grundlegendes Paradox, das das Wesen der Realität betrifft. Er argumentiert, dass es keine „irgendeine Weise“ (anyhow) gibt, die nicht in eine „bestimmte Weise“ (somehow) mündet. Damit beschreibt er die Eigenschaft der Realität, sowohl zufällig als auch determiniert zu sein, was er als „Bedeutungslosigkeit des Realen“, „insignifiance du réel“ bezeichnet. Rossets Denken ist stark von der Idee geprägt, dass die Philosophie dazu dient, solche offensichtlichen Wahrheiten sichtbar zu machen. Er plädiert dafür, sich von Uchronien und parallelen Universen abzuwenden und stattdessen im Bereich des Realen zu verweilen. Diese Haltung scheint mit der Zeit für ihn leichter zu werden, was darauf hindeutet, dass er eine zunehmende Klarheit in Bezug auf das Wesentliche des Lebens und der Realität gewinnt. Realität ist das, was trotz aller Möglichkeiten geschieht – es ist „dies und nichts anderes als dies“. 2 Carrère erkennt in diesem Gedanken seinen eigenen Wunsch wieder, sich vom melancholischen Spiel mit Möglichkeiten abzuwenden und sich „au pays du réel“ zuzuwenden – ein Programm, das er seit vier Jahrzehnten verfolgt. Mit dem Alter, so Carrère, werde es einfacher, sich vom Wunsch nach unendlichen Alternativen zu lösen und das zu akzeptieren, was ist. Die Uchronie erscheint ihm nun als eine Form von „adolescence spirituelle“ – Ausdruck des Wunsches, noch alle Türen offen zu halten. Das Erwachsenenalter hingegen, so seine These, bestehe darin, mit Gewissheit einen Weg zu gehen – und nicht mehr zurückzublicken.

Carrères Bezug auf Rossets Philosophie des Realen markiert eine radikale Spannung zwischen dem, was ist – dem singulären, kontingenten, oft absurden Realen –, und dem, was hätte sein können, wenn … Der Begriff der „Uchronie“ (wörtlich: „Nicht-Zeit“) evoziert das Denken alternativer Geschichtsverläufe, kontrafaktischer Möglichkeiten, paralleler Welten. Diese Denkfigur steht im Widerspruch zu Rossets Behauptung: Das Reale ist – und lässt sich durch keine Möglichkeit negieren, modifizieren oder doppeln, ohne dass dies zur Leugnung seiner idiotischen Evidenz führt. Insofern könnte man Carrères frühen Uchronie-Entwurf als poetisch-erzählerische Ausarbeitung eines Gegenbildes zu Rossets Philosophie lesen – nicht im Sinne einer Widerlegung, sondern als existentielle Komplementärbewegung: Die Uchronie ist die Fluchtlinie dessen, der die Unerbittlichkeit des Realen erkannt hat und sich dennoch mit der Imagination eines „anderen Möglichen“ rettet.

Carrère beginnt Uchronie mit dem Bekenntnis, dass er es hasst, wenn Leute sagen „es hätte auch anders kommen können“ – weil er, beeinflusst von Rosset, erkennt, dass diese Aussage oft Ausdruck einer Weigerung ist, das Wirkliche als solches anzuerkennen. Und doch ist sein gesamter Text, 45 Jahre vorher entstanden, eine Erkundung genau dieser Möglichkeit: der Frage, wie die Geschichte Frankreichs, Europas oder gar der Welt verlaufen wäre, wenn bestimmte Entscheidungen nicht getroffen, bestimmte Personen nicht ermordet oder gewählt worden wären. Carrères Uchronie ist keine naive Alternativgeschichte. Vielmehr ist sie eine existentielle Versuchsanordnung: Er konstruiert Möglichkeiten, um das Reale zu durchdenken – nicht zu leugnen; er bleibt sich der Idiotie des Realen bewusst, während er gleichzeitig den Akt des Erzählens als imaginativen Widerstand gegen die Grausamkeit der Tatsachen entfaltet; sein Erzählen ist therapeutisch, nicht revisionistisch: Die Uchronie ist ein Denkraum, in dem das, was gewesen ist, neu gefühlt, nicht neu geschrieben wird. Carrère sagt sinngemäß: Ich weiß, dass es nur eine Realität gibt, aber ich kann nicht aufhören, die anderen zu denken. Das ist kein Widerspruch zu Rosset, sondern eine Bewegung daneben – ein poetischer Reflex auf die Ohnmacht gegenüber der Welt.

Im Lichte von Rosset lässt sich Carrères Projekt als paradoxes Unternehmen verstehen: Die Uchronie ist kein Versuch, dem Realen zu entkommen, sondern ein Symptom seiner Gewalt. Weil das Reale idiotisch ist – dumm, zufällig, unverständlich –, entstehen uchronische Erzählungen, nicht um es zu ersetzen, sondern um es auszuhalten. Die Uchronie ist keine Leugnung des Realen, sondern Ausdruck seines Schocks. Sie ist nicht ontologisch, sondern affektiv: ein Akt der Trauer, des Bedauerns, der Melancholie. Rosset würde sagen: Die Uchronie zeigt gerade durch ihre Unmöglichkeit, wie sehr das Reale uns affiziert. Damit entsteht ein philosophisches Paradoxon: Der Mensch flieht vor dem Realen – weil er es zu sehr erfasst. Die Flucht in die Uchronie ist nicht Schwäche, sondern Zeugnis der übergroßen Präsenz des Wirklichen.

Rosset liefert in Le Réel eine existentielle Theorie der Weltakzeptanz. Carrère, im Wissen um diese Philosophie, schreibt eine Uchronie, die sich als poetische Meditation über das reale Leiden an der Geschichte versteht. Beide Autoren verbindet ein Bewusstsein für die Grausamkeit des Wirklichen und die Fragilität jeder Theorie. Carrère nimmt Rossets Philosophie ernst – indem er sie imaginativ unterläuft. Was Carrère mit Rosset verbindet, ist nicht der Glaube an die Uchronie, sondern die Notwendigkeit, trotzdem zu erzählen. Carrères Rückblick ist mehr als ein autobiografischer Nachtrag – er ist ein metareflexiver Kommentar zum Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, von literarischem Spiel und philosophischer Einsicht. Es ist ein Text, der zeigt, wie sich ein Autor mit seiner eigenen intellektuellen Herkunft versöhnt, ohne sie zu verleugnen – und der in einem Zeitalter unendlicher Simulationen einen Appell an die Rückkehr zur Realität formuliert.

Pour le sens commun, l’histoire accréditée est la vraie et l’uchronie la fausse. Si l’uchroniste s’emploie à saper cette conviction, c’est au nom d’une autre : la première est regrettable, la seconde digne de regret, – puisque la langue française permet de regretter un bonheur enfui ou inadvenu comme de regretter un péché. Aux catégories du vrai et du faux – indiscutablement utiles à l’historien – se superposent celles du mauvais et du bon – même pas nécessaires au romancier. Le principe de l’intérêt pour agir explique cette équation. Mais l’uchronie ne saurait-elle être désintéressée ? Nous restituer la courbe de ce qui aurait pu être, ni bon ni mauvais, possible seulement, sans nous dire forcément ce qui aurait être, et faire par ce moyen la leçon à la Providence ?

Emmanuel Carrère, Uchronie, P.O.L., 2025.

Für den gesunden Menschenverstand ist die beglaubigte Geschichte die wahre und die Uchronie die falsche. Wenn der Uchronist sich bemüht, diese Überzeugung zu untergraben, dann im Namen einer anderen: Die erste ist beklagenswert, die zweite ist bedauernswert – denn die französische Sprache erlaubt es, ein entgangenes oder nicht eingetretenes Glück zu bedauern, ebenso wie eine Sünde. Zu den Kategorien von wahr und falsch – die für den Historiker unbestreitbar nützlich sind – gesellen sich die von schlecht und gut – die für den Romanautor nicht einmal notwendig sind. Das Prinzip des Handlungsinteresses erklärt diese Gleichung. Aber kann Uchronie nicht auch desinteressiert sein? Uns die Kurve dessen zurückgeben, was hätte sein können, weder gut noch schlecht, nur möglich, ohne uns notwendigerweise zu sagen, was hätte sein sollen, und auf diese Weise der Vorsehung eine Lektion erteilen?

Carrère liefert in Uchronie keine systematische theoretische Definition des Begriffs – aber durch die Erzählweise, die Kommentare und explizite Reflexionen der Erzählerinstanz lässt sich rekonstruieren, wie er das Konzept versteht. Demnach ist die Uchronie eine narrative Form, die Möglichkeit statt Faktizität betont, die Kontingenz von Geschichte reflektiert, die Narrativität von Historiographie problematisiert, und die politische Wirkung alternativer Erzählungen herausarbeitet. Der Erzähler betont, dass seine Geschichte nicht „falsch“ sei, sondern anders. Die Uchronie ist für Carrère kein bloßes Gedankenspiel, sondern ein ernstzunehmender alternativer Verlauf, der auf realen historischen Bedingungen basiert, aber andere Entscheidungen annimmt. An anderer Stelle heißt es sinngemäß, Geschichte sei eine Abfolge von Entscheidungen – und jede dieser Entscheidungen hätte auch anders ausfallen können. Damit versteht Carrère Uchronie als Mittel, um zu zeigen, dass Geschichte nicht notwendig ist, sondern kontingent. Durch seine hybride Erzählweise – zwischen Fiktion, Reportage, Tagebuch, Reflexion – zeigt Carrère, dass die Uchronie nicht nur alternative Geschichte erzählt, sondern zugleich die Formen von Geschichtsschreibung selbst infrage stellt.

Carrère deutet am Schluss die uchronische Versuchung auch als etwas tief Subjektives. Sie ist weniger politisch oder ideologisch als existenziell. Die Fantasie, Geschichte anders zu schreiben, spiegelt die private Sehnsucht wider, das eigene Leben anders geschrieben zu haben – sei es aus Reue, aus Langeweile, aus unerfüllten Träumen. Wir haben nicht gehandelt, aber wir denken darüber nach, was gewesen wäre – das ist der Stoff der Uchronie, und auch der Literatur. Im letzten Teil kehrt Carrère zu sich selbst zurück: Warum hat ihn die Uchronie interessiert – und warum verabschiedet er sich nun davon? Der Roman des (fiktiven?) belgischen Autors Marcel Numeraere, Le détroit de Behring gibt ihm ein Bild: ein Mensch, der sich der vorgezeichneten Route entzieht, aber dennoch vorgibt, ihr zu folgen. Das ist ein modernes Motiv: die doppelte Existenz zwischen Pflicht und Wunsch, Konvention und Abweichung. Die Szene am Strand – halb in der See, halb auf dem Land – ist ein poetisches Bild für diesen Schwebezustand, für den Grenzbereich zwischen Realität und Möglichkeit, Pflicht und Fantasie. Es ist das stille, fast erotische Vergnügen am inneren Umbau der Wirklichkeit, den wir alle betreiben, wenn wir Geschichten erzählen. Carrère beendet den Text mit einer literarischen Selbstbeschreibung: Schreiben als nachträgliches Ordnen, Umschreiben, Fantasieren – die Literatur als intime Uchronie, als das, was wir mit unserem Leben machen, nachdem es gelebt wurde. Und das ist – am Ende – seine Utopie der Uchronie: Nicht die „Was-wäre-wenn“-Szenarien Napoleons oder Colberts interessieren den jungen Carrère schlussendlich, sondern die inneren Alternativen unseres eigenen Lebens: unsere stillen Rebellionen, unsere verpassten Chancen, unsere erfundenen Erinnerungen.

Anmerkungen
  1. Clément Rosset: Le Réel: traité de l’idiotie.>>>
  2. „Aucun aléa ne protégera l’aléatoire de la nécessité où il est de venir à l’existence sous forme de ceci, de rien d’autre que ceci. Ce qui est sûr, de toute façon sûr (anyhow), c’est que toute indétermination cesse au seuil de l’existence, c’est-à-dire que rien ne sera jamais vraiment anyhow, puisqu’il n’est aucun anyhow qui ne soit, dès lors qu’il est, un somehow.“ Rosset, Le Réel.>>>

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