Inhalt
In Erinnerung an Timo Obergöker.
Gegen seine Zahlen konnte ich meine Buchstaben nicht durchsetzen.
Seine Verlagsfirma ist bankrott, die letzten Mittel sind verbraucht. Die Handlung setzt an einem Wendepunkt ein – dem letzten Tag vor dem Gerichtstermin zur offiziellen Liquidation. Rückblickend erzählt der Protagonist von seiner Verlagsgeschichte, von Autorinnen und Autoren, die er entdeckte oder ablehnte, von Erfolgen und Niederlagen, aber vor allem von seinem Glauben an die Kraft der Literatur. Tonino Benacquistas 2025 erschienener Roman Tiré de faits irréels ist eine tiefmelancholische und zugleich ironisch gebrochene Auseinandersetzung mit der Frage, was Literatur heute noch vermag. Der Text erzählt vom Ende eines unabhängigen Literaturverlags in Paris, verhandelt dabei aber mehr als die Geschichte eines scheiternden Unternehmers, ist lesbar als Parabel über das kulturelle Gedächtnis, die Transformationsprozesse von Öffentlichkeit und die Fragilität erzählerischer Wahrheitsansprüche.
Mon banquier avoue volontiers qu’il ne lit pas quand je lui offre un exemplaire de ma dernière parution, non pour m’attirer ses bonnes grâces, encore moins son admiration, réservée aux seuls patrons du CAC 40, mais pour lui fournir de temps à autre une preuve matérielle de mon activité. Le livre n’étant pour lui ni un outil d’émancipation, ni même un objet récréatif, je veille à ne jamais employer le mot « littérature » de peur de provoquer l’ennui ou la gêne d’un individu s’étant construit contre celle-ci, qui n’engendre ni profit ni épargne, du moins dans le sens où il l’entend. Lors de notre rendez-vous d’hier, celui de la dernière chance, j’ai lu dans son regard la condescendance du gestionnaire ultralibéral, lucide sur les crises d’aujourd’hui mais prêt pour les défis de demain, face à un résidu fossile de l’ère Gutenberg. Dans son sabir financier, il s’est lancé dans des phrases de plus de cent mots qu’il aurait pu ainsi résumer s’il avait eu le sens du resserrage : « Passe la main, papa. » On peut certes étudier la demande de prêt d’une boîte à burgers végans, d’un bar à ongles, d’un incubateur pour start-up dans le management, mais celle d’un éditeur de romans lui vaudrait les sanctions de sa hiérarchie. À ses chiffres, je n’ai pas su imposer mes lettres. Que n’ai-je suivi naguère un stage de management au lieu de lire Goethe ? Soulagé de s’être débarrassé d’un insolvable, il a tenu à me raccompagner jusqu’au seuil de sa banque.
Tonino Benacquista, Tiré de faits irréels, Gallimard, 2025.
Mein Banker gibt gerne zu, dass er nicht liest, wenn ich ihm ein Exemplar meiner neuesten Veröffentlichung anbiete, nicht um sein Wohlwollen oder gar seine Bewunderung zu gewinnen, die nur den Chefs des CAC 40 vorbehalten ist, sondern um ihm ab und zu einen materiellen Beweis für meine Aktivität zu liefern. Da Bücher für ihn weder ein Mittel zur Emanzipation noch ein Freizeitobjekt sind, achte ich darauf, das Wort „Literatur“ nie zu verwenden, damit ich nicht Langeweile oder Unbehagen bei einem Menschen auslöse, der sich gegen Literatur aufgebaut hat, die weder Profit noch Ersparnisse hervorbringt, zumindest nicht in seinem Sinne. Bei unserem gestrigen Treffen, dem Treffen der letzten Chance, sah ich in seinem Blick die Herablassung des ultraliberalen Managers, der die Krisen von heute klar erkennt, aber für die Herausforderungen von morgen bereit ist, gegenüber einem fossilen Überbleibsel aus dem Gutenberg-Zeitalter. In seinem Finanzsabbatical erging er sich in Sätzen mit mehr als hundert Wörtern, die er so hätte zusammenfassen können, wenn er den Sinn für das Zusammenziehen gehabt hätte: „Tritt ab, Papi.“ Man kann zwar den Kreditantrag eines veganen Burgerladens, einer Nagelbar oder eines Inkubators für Start-up-Unternehmen im Management prüfen, aber der eines Romanverlegers würde ihm die Sanktionen seiner Vorgesetzten einbringen. Gegen seine Zahlen konnte ich meine Buchstaben nicht durchsetzen. Hätte ich vor einiger Zeit einen Managementkurs besuchen sollen, anstatt Goethe zu lesen? Er war erleichtert, dass er einen Insolventen losgeworden war, und wollte mich bis zur Türschwelle seiner Bank begleiten.
Bereits in Saga zeigt Tonino Benacquista ein starkes Interesse an der Erzählpraxis selbst: Die Geschichte von Drehbuchautoren, die in einem absurden Fernsehprojekt gefangen sind, reflektiert das Spannungsverhältnis zwischen Kreativität und Marktlogik. Auch in Quelqu’un d’autre spielt die Frage nach Lebensskripten und alternativen Biografien eine wichtige Rolle. Immer wieder stehen beim Autor Außenseiter im Zentrum, Figuren zwischen den Welten, zwischen Fiktion und Realität, zwischen Anpassung und Rebellion. Auch Tiré de faits irréels reiht sich in dieses Figurenarsenal ein: Bertrand Dumas ist ein typischer Benacquista-Protagonist – ein Einzelgänger mit Prinzipien, ein nostalgischer Kämpfer gegen die Zumutungen der Gegenwart, ein ironischer Humanist. Dennoch geht dieser Roman über das bisherige Repertoire hinaus: Während frühere Werke stärker auf Handlung und Plot fokussiert waren, ist Tiré de faits irréels ein ausgesprochen reflektierendes, essayistisches Werk. Benacquistas Stil war stets geprägt von Klarheit, Ironie und Dialogführung. Im jüngsten Buch wird dieser Stil durch eine neue Tiefe ergänzt: Die Sprache ist meditativer, essayhafter, stellenweise fast aphoristisch. Der Roman verzichtet weitgehend auf äußere Handlung und setzt stattdessen auf Reflexion, Erinnerung und inneren Diskurs. In dieser stilistischen Entwicklung zeigt sich eine Reifung des Autors – eine Hinwendung zur poetischen Essenz seines Schreibens.
Alors Dieu chercha comment éveiller l’Homme à la beauté naturelle qui l’entourait.
Et lui donner à voir la complexité du monde qui désormais serait le sien, comme celle de sa propre psyché.
Tonino Benacquista, Tiré de faits irréels, Gallimard, 2025.
Also suchte Gott nach Wegen, den Menschen für die natürliche Schönheit, die ihn umgab, zu erwecken.
Und ihm die Komplexität der Welt, die von nun an die seine sein würde, wie auch die seiner eigenen Psyche vor Augen führen.
Bereits der Prolog des Romans setzt ein starkes Zeichen: Die Literatur wird als Gottes letzter Versuch eingeführt, dem Menschen ein Werkzeug zur Reflexion und zur Bewältigung des Bösen zu geben. Diese „Schöpfungslegende“ weist Literatur eine fast sakrale Rolle zu. Sie erscheint als moralische Instanz, als Ort der Empathie, der Erinnerung und der Zwischentöne – in einer Welt, die zunehmend von binären Diskursen, ökonomischen Zwängen und technologischer Überwältigung geprägt ist. Benacquista imaginiert Gott, der als letztes Werk den Menschen erschafft, aber daran zweifelt, ob dies klug war. Um den Menschen bei der Bewältigung des Bösen zu helfen, erschafft er die Literatur. Damit setzt der Roman programmatisch seinen Ton und zentralen Gedanken: Literatur als letztes moralisches und empathisches Mittel gegen das Chaos der Welt. Ein Rückblick führt zu Bertrands Verlagsgründung, in der Begegnung mit einem Musiker ermutigt dieser ihn, seinen Namen selbstbewusst als Verlagsmarke zu tragen. Es ist ein Moment der Idealismen und Gründerphantasien.
Im Zentrum steht die Figur des alternden Verlegers Bertrand Dumas mit Sitz im literarischen Herzen von Paris, und seine Innenwelt wird mit einem beeindruckenden Reichtum an Referenzen, Reflexionen und Erschütterungen erzählt. Zentrale Gegenfigur ist Reynald, ein zurückgezogen lebender Intellektueller, der als lebendiges Gewissen und Gegenstimme fungiert. Zwischen Bertrand und Reynald entspinnt sich eine philosophische Debatte über Sinn und Wert der Literatur in einer aus den Fugen geratenen Welt. Wichtige Nebenfiguren sind seine Ehefrau Coline, die seinen Rückzug aus der realen Welt mit einer Mischung aus Verständnis und Resignation begleitet, sowie Benoît Clerc, ein egomanischer Autor, der seine banalen Lebenskrisen zu Literatur verklärt und damit den Verfall der literarischen Substanz exemplarisch spiegelt:
Mais pour l’heure je déjeune avec Benoît Clerc, venu m’entretenir de ses indignations du moment, comme il le fait avec une belle constance depuis vingt ans que je le publie. Que dire de Benoît, sinon qu’il existe ? J’entends par là qu’il existe plus intensément que nous autres, ses contemporains, et c’est ainsi qu’il gagne sa vie, dont les événements marquants nous sont relatés dans des volumes de 120 pages à raison d’un tous les deux ans. Pour ceux qui ne le connaîtraient pas encore, Benoît Clerc est l’inventeur de la passion et du deuil, que nul n’avait éprouvés avant lui. Son oui à la mairie fut bien plus solennel que le mien, et le décès de sa mère fut un événement bien plus tragique que celui de la mienne. Il me fait penser à ces personnages de séries dont nous suivions les péripéties dans les Collections Verte ou Rose de notre petite enfance. « Benoît tombe amoureux ». « Benoît devient papa ». « Benoît découvre que ses parents sont mortels ». Certes il préfère donner ses propres titres aux grandes étapes de sa vie, comme l’épisode « Benoît divorce », sobrement intitulé Une rupture (ventes : 22 000 exemplaires), selon moi son meilleur livre. Il avait su décrire une Gisèle humiliée par ses mensonges, qu’elle avait tolérés jusqu’à ce qu’il les rende publics dans « Benoît trompe sa femme » (Les accrocs, 35 000 exemplaires), un cruel réquisitoire contre l’érosion du désir, celui de l’homme comme celui de la femme, et c’est sans doute pour ces pages-là, d’une précision dérangeante, comme une ode tardive au corps de l’autre, que je l’ai publié. Mais parfois les mots lui manquent pour traduire toute la gravité de l’existence de Benoît. « Benoît tombe malade », minutieux compte rendu d’une mononucléose (Sales draps, 3 200 exemplaires) décrite comme un long épuisement métaphysique, n’a pas su éveiller la compassion d’un public habitué à des récits d’agonies bien plus sévères. Dès la lecture du manuscrit, j’ai eu envie de lui dire : « Cette fois, passe ton tour, Benoît. Ici ton ego, face à lui-même dans cette grande chambre toute blanche, n’a rien à nous faire partager sinon son ennui, et rendre son ennui passionnant n’est pas dans tes moyens, ces sales draps resteront les tiens. » Et cependant je l’ai publié, parce qu’on ne laisse pas un Benoît seul sur son lit de souffrance, et parce que je suis fidèle à mes auteurs, même si parfois j’aimerais que certains s’en aillent faire des enfants ailleurs. Je regrette pourtant, dans son intérêt comme dans le mien, de n’avoir jamais eu le courage de lui dire : « Toi qui as su rendre publics tes mœurs et tes états d’âme, pourquoi n’en profites-tu pas pour nous scandaliser ? Si tu as su convaincre les lecteurs que ton quotidien était aussitôt convertible en matériau narratif, pourquoi ne t’autorises-tu pas, au nom de cette impunité littéraire, toutes les extravagances ? Que ne m’apportes-tu pas un “Benoît aux portes de l’Enfer”, le journal de tes excès, tous inqualifiables, à condition que tu saches trouver les mots ? Transgresse, nom de Dieu ! Ébranle, choque, outrage ! Vis ! Disparais sans explication, réveille-toi dans une favela, provoque un ennemi en duel, vomis en direct, rends-toi sur le théâtre des opérations, couche avec 1 003 femmes, braque une banque : le champ des possibles est infini ! Ose tout ce qui, à nous autres gens du commun, nous vaudrait de sérieux ennuis. Car toi, face aux juges qui te demanderaient ce que tu as à dire pour ta défense, tu n’aurais qu’à répondre : “Je suis un écrivain.” Stupéfaction du jury ! Circonstances atténuantes, excuses de la cour, relaxe immédiate. Et quand bien même t’enverraient-ils en prison, tu pourrais prétendre de ton vivant au statut d’artiste maudit ! Je l’imagine bien, ta réclusion, seul dans 9 m2 : dix rames de papier, une plume, mille jours et mille nuits, le cœur en révolte et l’imagination en croisade. Quel bouquin tu nous ferais ! La fin de mes ennuis ! »
Tonino Benacquista, Tiré de faits irréels, Gallimard, 2025.
Aber jetzt bin ich gerade beim Mittagessen mit Benoît Clerc, der mir von seiner aktuellen Empörung berichtet, wie er es seit 20 Jahren, seit ich ihn veröffentliche, mit schöner Beständigkeit tut. Was kann ich über Benoît sagen, außer dass er existiert? Damit meine ich, dass er intensiver existiert als wir anderen, seine Zeitgenossen, und so verdient er seinen Lebensunterhalt, dessen herausragende Ereignisse uns alle zwei Jahre in Bänden von 120 Seiten berichtet werden. Für diejenigen, die ihn noch nicht kennen: Benoît Clerc ist der Erfinder der Leidenschaft und der Trauer, die vor ihm noch niemand erlebt hatte. Sein Ja-Wort auf dem Standesamt war viel feierlicher als meines, und der Tod seiner Mutter war ein viel tragischeres Ereignis als der meiner Mutter. Er erinnert mich an die Serienfiguren, deren Abenteuer wir in den Grünen oder Rosa Sammlungen unserer frühen Kindheit verfolgt haben. „Benoît verliebt sich“. „Benoît wird Vater“. „Benoît entdeckt, dass seine Eltern sterblich sind“. Natürlich zieht er es vor, den großen Etappen seines Lebens eigene Titel zu geben, wie die Episode „Benoît wird geschieden“ mit dem nüchternen Titel Ein Bruch (22 000 verkaufte Exemplare), die meiner Meinung nach sein bestes Buch ist. Er hatte es verstanden, eine Gisèle zu beschreiben, die durch seine Lügen gedemütigt wurde, die sie toleriert hatte, bis er sie in „Benoît betrügt seine Frau“ (Die Kniffe, 35.000 Exemplare) öffentlich machte, einer grausamen Anklage gegen die Erosion des Begehrens, des männlichen wie des weiblichen, und wahrscheinlich habe ich ihn wegen dieser Seiten, die von verstörender Präzision sind und wie eine späte Ode an den Körper des anderen wirken, veröffentlicht. Manchmal fehlen ihm jedoch die Worte, um den ganzen Ernst von Benoîts Existenz wiederzugeben. „Benoît wird krank“, ein minutiöser Bericht über ein Pfeiffersches Drüsenfieber (Sales draps, 3.200 Exemplare), das als lange metaphysische Erschöpfung beschrieben wird, konnte nicht das Mitgefühl eines Publikums wecken, das an weitaus schwerere Berichte über Agonien gewöhnt war. Schon beim Lesen des Manuskripts hatte ich das Bedürfnis, ihm zu sagen: „Diesmal bist du dran, Benoît. Hier hat dein Ego, das in diesem großen, weißen Zimmer mit sich selbst konfrontiert ist, nichts mit uns zu teilen außer seiner Langeweile, und diese Langeweile spannend zu machen, liegt nicht in deinen Möglichkeiten, diese schmutzigen Laken bleiben deine.“ Und dennoch habe ich ihn veröffentlicht, weil man einen Benoît nicht allein auf seinem Leidensbett zurücklässt und weil ich meinen Autoren treu bin, auch wenn ich mir manchmal wünsche, dass einige von ihnen woanders Kinder zeugen würden. Dennoch bedauere ich in seinem wie in meinem Interesse, dass ich nie den Mut hatte, ihm zu sagen: „Du, der du es verstanden hast, deine Sitten und Gemütszustände öffentlich zu machen, warum nutzt du diese Gelegenheit nicht, um uns zu skandalisieren? Wenn du die Leser davon überzeugen konntest, dass dein Alltag sofort in erzählerisches Material umgewandelt wurde, warum erlaubst du dir im Namen dieser literarischen Straffreiheit nicht alle Extravaganzen? Warum bringst du mir nicht einen „Benoît an der Höllenpforte“, das Tagebuch deiner Exzesse, die alle unsäglich sind, vorausgesetzt, du findest die richtigen Worte? Überschreite, um Gottes willen! Erschüttere, schockiere, empöre! Lebe! Verschwinde ohne Erklärung, wache in einer Favela auf, fordere einen Feind zum Duell, kotze live, begebe dich auf den Kriegsschauplatz, schlafe mit 1003 Frauen, raube eine Bank aus: Das Feld der Möglichkeiten ist unendlich! Wage alles, was uns gewöhnlichen Menschen ernsthafte Schwierigkeiten einbringen würde. Denn du, angesichts der Richter, die dich fragen würden, was du zu deiner Verteidigung zu sagen hast, müsstest nur antworten: „Ich bin Schriftsteller“. Verblüffung bei den Geschworenen! Mildernde Umstände, Entschuldigung des Gerichts, sofortiger Freispruch. Und selbst wenn sie dich ins Gefängnis bringen würden, könntest du zu Lebzeiten den Status eines verfluchten Künstlers beanspruchen! Ich kann mir vorstellen, dass du allein auf 9 m2 eingesperrt wirst: zehn Ries Papier, eine Feder, tausend Tage und tausend Nächte, das Herz in Revolte und die Fantasie auf dem Kreuzzug. Was für ein Buch würdest du uns schreiben! Das Ende meines Ärgers!“
Dumas als Ich-Erzähler und Hauptfigur des Romans verkörpert eine bestimmte Vorstellung von Literatur: die Idee eines Rückzugsraums für Individualität, Wahrheitssuche und Subjektivität. Seine Verlagsarbeit folgt keinen kommerziellen Imperativen, sondern einem literarischen Ethos, das in der heutigen Gegenwart zunehmend als obsolet erscheint. Der Verfall seines Verlags steht dabei für einen breiteren Prozess: den Verlust des Glaubens an die Kraft des „Erzählens gegen die Welt“. Dumas bleibt jedoch nicht nur eine tragische Figur. Vielmehr schwingt in der Erzählweise stets auch Ironie mit: Seine Melancholie wird durch die Komik seiner Eitelkeiten, die Absurdität des Literaturbetriebs und die tragikomischen Autorengeschichten gebrochen. Der Roman dekonstruiert gekonnt die heroische Pose des letzten unabhängigen Verlegers und feiert sie zugleich. Bertrand Dumas ist eine grundlegend ambivalente Figur. Auf der einen Seite ist er kompromisslos, aufrecht und leidenschaftlich in seinem Engagement für Literatur. Er glaubt an das gute Buch, an Qualität, an literarische Tiefe. Er lehnt sich gegen Trends, Bestsellerlogik und literarische Mittelmäßigkeit auf. Diese Prinzipientreue macht ihn zu einem idealistischen Helden des Textes. Gleichzeitig ist er nicht frei von Schwächen. Seine Unfähigkeit zur Anpassung, seine Arroganz gegenüber kommerziell erfolgreichen, aber in seinen Augen minderwertigen Autoren, seine Weltferne und emotionale Verschlossenheit – all das zeichnet ihn auch als problematische Figur.
— Lire, disiez-vous ?
Reynald… Que je n’ai jamais croisé ici sans qu’il me cite une phrase tirée du livre en cours, un aphorisme, une métaphore, un vers.
— Socrate en personne nous a mis en garde contre la lecture. Les livres selon lui nous donnent l’illusion d’être des sachants alors que nous nous contentons d’une pensée morte et retranscrite, du prêt-à-penser en boîte. Seule la conversation aiguise la conscience, met notre esprit à l’épreuve, nous confronte à la parole de l’autre dans une quête commune du beau et du vrai. En d’autres termes, la lecture est la fabrique de l’ignorance.
Le plus cruel est que ma soudaine mutité semble illustrer sa thèse : à trop fréquenter l’écrit, j’en ai perdu toute agilité dialectique.
— Et Socrate ajoute en substance que ceux qui se targuent de posséder une pensée parce qu’ils possèdent le livre « se croiront de nombreuses connaissances, et la fausse opinion qu’ils auront de leur science les rendra insupportables dans le commerce de la vie ».
C’est dans ces moments-là, quand je ne suis plus acteur de l’instant mais son témoin hébété, que j’aimerais qu’un narrateur omniscient vienne à mon secours et prenne le relais de ma volonté. Ce narrateur omniscient qui s’exprime dans tous les romans du monde et nul ne doute du bien-fondé de sa parole.
Tonino Benacquista, Tiré de faits irréels, Gallimard, 2025.
— Lesen, sagten Sie?
Reynald … Den ich hier noch nie getroffen habe, ohne dass er mir einen Satz aus dem aktuellen Buch, einen Aphorismus, eine Metapher oder einen Vers zitiert hat.
— Sokrates selbst warnte uns vor dem Lesen. Bücher geben uns seiner Meinung nach die Illusion, wissend zu sein, während wir uns mit totem, umgeschriebenem Gedankengut begnügen, mit vorgefertigtem Gedankengut aus der Konserve. Nur das Gespräch schärft das Bewusstsein, stellt unseren Geist auf die Probe und konfrontiert uns mit dem Wort des anderen in einer gemeinsamen Suche nach dem Schönen und Wahren. Mit anderen Worten: Lesen ist die Fabrik der Unwissenheit.
Das Grausamste ist, dass meine plötzliche Stummheit seine These zu illustrieren scheint, dass ich durch den übermäßigen Umgang mit dem Geschriebenen meine dialektische Beweglichkeit verloren habe.
— Und Sokrates fügt sinngemäß hinzu, dass diejenigen, die sich rühmen, einen Gedanken zu besitzen, weil sie das Buch besitzen, „sich viele Kenntnisse einbilden werden, und die falsche Meinung, die sie von ihrer Wissenschaft haben, wird sie im Handel des Lebens unerträglich machen“.
In solchen Momenten, wenn ich nicht mehr Akteur des Augenblicks bin, sondern sein benommener Zeuge, wünsche ich mir einen allwissenden Erzähler, der mir zu Hilfe kommt und meinen Willen übernimmt. Dieser allwissende Erzähler, der in allen Romanen der Welt zu Wort kommt, und niemand zweifelt an seinen wohlgegründeten Worten.
Reynald, ein ehemaliger Gönner und langjähriger Freund Bertrands, lebt im Jardin du Luxembourg und ist zu einer Art menschlichem Monument der Bildung und Skepsis geworden. Seine Philosophie: Nicht Bücher, sondern Menschen speichern die wahren Geschichten. Diese Haltung symbolisiert einen postliterarischen Humanismus, der die Relevanz schriftlicher Kultur grundlegend infrage stellt. Während Bertrand noch an die Kraft des Romans glaubt, glaubt Reynald nur noch an den Untergang. Er ist eine apokalyptische Figur, deren Stimme in einem erschreckenden Monolog kulminiert, der sowohl kulturkritisch als auch prophetisch anmutet. Sein Weltbild ist von einem tiefen Pessimismus geprägt: Die Literatur hat, so seine These, nichts verhindert, niemanden verbessert und keinen Krieg verhindert. Diese Figur übernimmt im Text die Funktion des internen Kritikers, der der literarischen Leidenschaft Bertrands die systematische Dekonstruktion entgegensetzt. Dass Reynald zugleich ein großer Leser war, zeigt, dass seine Haltung nicht antiintellektuell, sondern postintellektuell ist: Die Aufklärung ist gescheitert, die Literatur hat versagt, das Gute ist zahnlos geblieben. So stellt Reynald die Frage nach dem „Nutzen“ von Kunst in einer Weise, die nicht polemisch, sondern tief erschütternd wirkt. Bertrand verlässt den Jardin du Luxembourg in tiefem Nachdenken. Er reflektiert seine eigene Erschöpfung, seine Unfähigkeit zu kämpfen, seine Angst vor dem Scheitern. Das Kapitel ist ein leises Intermezzo, das in den kommenden Verlust einleitet.
Es folgen Erinnerungen an frühere Manuskripte, Enttäuschungen und kleine literarische Wunder überlagern sich. Bertrand erinnert sich an gescheiterte literarische Projekte, die ihn dennoch berührt haben. Dabei werden die „Limbes“ eingeführt: der Raum der gescheiterten Manuskripte, die nicht veröffentlicht wurden. Ein Ort des literarischen Zwischenreichs. Ein weiteres Manuskript erreicht ihn, und obwohl er weiß, dass es chancenlos ist, liest Bertrand es. Es geht um Mattéo, einen Jungen mit Idealen. Bertrand erkennt dessen Naivität, aber auch das literarische Potenzial. Das Kapitel stellt erneut die Frage, ob Literatur „genug“ ist. Bertrand sortiert Papiere, die letzten Spuren seines Berufsalltags. Dabei reflektiert er über verpasste Chancen, verkannte Texte, ästhetische Entscheidungen. Auch der eigene Geschmack, seine Blindheit für Trends und die Reue über Ablehnungen werden thematisiert.
In einem chinesischen Restaurant führt Bertrand ein Gespräch mit seiner Frau Coline. Zwischen den Zeilen zeigt sich ihre stille Entfremdung. Sie weiß um sein inneres Scheitern, ohne es zu benennen. Die Beziehung steht für die Spannung zwischen Literatur und Leben. Ein letzter Hinweis von Reynald schließt sich an, worin er Bertrand zu einem Treffen auffordert. Der genaue Ort bleibt vage, doch Bertrand weiß: Es ist ein symbolischer Abschied. Die Einladung ist eine finale Konfrontation mit der Frage: Was bleibt von der Literatur? Bertrand begegnet erneut Reynald, der ihn auf einem Spaziergang durch den Jardin du Luxembourg mit einer langen Rede über die Illusionen der Aufklärung, das Versagen der Kultur und die Nutzlosigkeit der Kunst konfrontiert. Es ist der inhaltliche Höhepunkt des Romans: eine Mischung aus kulturkritischem Manifest und nihilistischer Prophezeiung.
Auch wenn Bertrand nun offen zugibt, dass er am Ende ist, sein Trotz bleibt: Trotz allem glaubt er an die Literatur. Die Szene mit der Leserin, deren sterbenskranke Freundin einen letzten Roman lesen will, wird zum Symbol dieser Beharrlichkeit. In einem letzten Versuch kontaktiert Bertrand alte Bekannte, um vielleicht doch noch eine Rettung für seinen Verlag zu erreichen. Es bleibt bei vergeblichen Gesten. Die literarische Welt ist nicht mehr an seiner Vision interessiert. Bertrand verlässt die Szene, seine literarische Ära ist vorbei. Auf einer Bank sitzend, reflektiert er über die Vergangenheit, die Literatur, die Zukunft. Der Roman endet ohne große Auflösung, aber mit einem klaren, melancholischen Blick auf eine Welt, in der Erzählen nur noch als Erinnerung möglich scheint. Am Ende steht ein fragiles, aber verteidigungswürdiges Verständnis: Literatur kann scheitern – aber das Erzählen selbst bleibt ein Akt der Menschlichkeit, des Widerstands und der Hoffnung gegen den Sinnverlust der Gegenwart.
Metafiktion, Polyphonie und Ironie
Tiré de faits irréels ist ein in hohem Maße selbstreflexiver Text. Schon im Titel – eine Umkehrung der Formel, dass etwas Fiktionales auf realen Geschehnissen basiere, wird das Spiel mit Wahrheit, Erzählbarkeit und Fiktionalität deutlich. Der Roman entfaltet eine Poetik, die das Erzählen nicht als Repräsentation der Wirklichkeit, sondern als eigenständige Form der Weltdeutung versteht. Immer wieder werden Episoden eingefügt, in denen Bertrand über Manuskripte urteilt, über literarische Moden sinniert oder sich selbst in Erzählkonventionen flüchtet. Der Erzähler reflektiert dabei nicht nur seine eigenen Entscheidungen, sondern wird Teil eines doppelten Spiels: Er erzählt über Literatur und wird zugleich selbst literarisch zur Figur. Diese doppelbödige Anlage erlaubt es Benacquista, mit den Konventionen des Romans zu spielen: Innenweltmonolog, auktoriale Einschübe, essayistische Passagen und erzählerische Ironie wechseln sich ab. In einigen Momenten übernimmt sogar ein allwissender Erzähler die Regie und rückt Bertrand selbst in eine beobachtete Position – ein Verfahren, das den Text mit einer schwebenden Doppelsicht versieht. Die besondere Leistung liegt m.E. darin, dass all diese Formen nicht als bloßes postmodernes Spiel erscheinen, sondern zutiefst menschlich und verbunden mit existenziellen Erfahrungen: Verlust, Enttäuschung, Hoffnung, Erinnerung. Die Poetik des Textes besteht gerade darin, Komplexität zuzulassen und sich gegen jede eindimensionale Deutung zu verweigern.
Der Roman zeigt unterschiedliche Kommunikationsformen – von philosophischen Dialogen über innere Monologe bis zu symbolisch aufgeladenem Schweigen. Besonders zentral ist die Kommunikation zwischen Bertrand und Reynald: ein dialogisches Modell, das über bloße Argumentation hinausgeht und auf existenzieller Ebene Fragen nach Verantwortung, Wirkung und Sinn von Literatur verhandelt. Auch nichtsprachliche Kommunikation – Blicke, Gesten, Rituale – spielt eine Rolle. Die literarische Welt wird zugleich als Diskursraum (Bücher, Gespräche, Rezensionen) und als symbolisch überformter Erfahrungsraum (Archive, Erinnerungen, Orte) dargestellt. Benacquista bedient sich einer Vielzahl von narrativen und poetischen Mitteln, um sein vielstimmiges Literaturverständnis zu entfalten. Der Roman kombiniert Ich-Erzählung mit essayistischen Einschüben, dialogischen Passagen und intertextuellen Bezügen. Besonders auffällig ist die Polyphonie der Stimmen: Neben Bertrand und Reynald treten auch Manuskriptausschnitte, Anekdoten und literarische Miniaturen in Erscheinung, die dem Text einen collageartigen Charakter verleihen.
Auch die Zeitstruktur ist fragmentiert: Rückblenden, Erinnerungen, Tagträume und imaginierte Szenarien durchbrechen die lineare Erzählung. Diese narrative Struktur reflektiert die Desorientierung des Protagonisten und die Brüche des Literaturbetriebs selbst. Zudem arbeitet der Roman mit einer dichten Bildsprache und metaphorischen Schlüsselszenen: Die „Limbes“ als Limbus der Literatur verweisen auf das Verlorengehen von Geschichten; der Garten (Jardin du Luxembourg) wird zur Bühne der letzten großen Dialoge und symbolisiert einen zeitenthobenen Denkraum. Die sinnliche Beschreibung von Büchern – deren Geruch, Haptik und Klang – bringt eine Poetik des Lesens zum Ausdruck, die auf Entschleunigung und Wahrnehmung zielt.
Totenglocke und Rettungsboot
Der Roman reflektiert die eigene Gattung immer wieder explizit. In den Dialogen mit Reynald, in den Erinnerungen an abgelehnte Manuskripte, in der Schilderung der „Limbes“ als Ablage für unveröffentlichte Romane zeigt sich ein Bewusstsein für die Fragilität der literarischen Form. Gleichzeitig erscheint der Roman aber auch als letztes Medium, das Komplexität, Ambiguität und Zeitlichkeit zulassen kann. Benacquista plädiert für eine Literatur, die nicht belehren, nicht erlösen kann, aber berühren darf. Die vielleicht nicht die Welt ändert, aber einen einzelnen Menschen retten kann – wie in der Szene, in der ein Mann durch die Erinnerung an einen Roman aus dem Koma erwacht. Diese Szene bildet den Gegenpol zur totalen Desillusion Reynalds und steht paradigmatisch für den ästhetischen Humanismus, den der Text nie ganz aufgibt. Die Gattungsreflexion umfasst damit auch eine Verteidigung des Romans gegenüber dem Essay, dem Algorithmus, dem instantanen Content. Der Roman ist langsam, tief, widersprüchlich. Genau darin liegt seine Kraft. Wenn Bertrand sagt, dass er jedes Buch überprüft, indem er es zuerst wie einen Schatz auspackt, ist das eine ästhetische Liebeserklärung an eine Form, die von vielen für veraltet gehalten werden mag. Gegen die Entwertung des Sinns durch Geschwindigkeit und Quantität setzt der Roman die Widerständigkeit des Erzählens.
Die Figur Pierre-Antoine Réa erhält im Verlauf des Romans eine emblematische Bedeutung. Sie steht für das Ideal des wahren Schriftstellers und verkörpert in der Perspektive des Ich-Erzählers – des Verlegers Bertrand Dumas – die Hoffnung auf ein literarisches Wunder, das seine kriselnde Verlagswelt vielleicht noch retten könnte. Réa ist der Autor des lang erwarteten Romans Café central, ein Werk, das der Erzähler seit vier Jahren ungeduldig erwartet. Bertrand Dumas beschreibt diesen Text als einen Roman, „wie es ihn nur einmal pro Generation gibt“. Réa ist in möglicher Heilsbringer – sein Werk wird mit der Kraft eines literarischen Ereignisses aufgeladen, das die Geschicke des Verlags zu wenden vermag. Im Kontrast zu anderen Autoren im Portfolio von Bertrand – etwa dem egomanischen und routinierten Benoît Clerc – steht Pierre-Antoine Réa für Tiefe, Sorgfalt und Authentizität. Während viele Autoren – so der Eindruck des Erzählers – ihre inneren Krisen oder banalen Alltagsereignisse in immergleichen Romanen recyclen, scheint Réa ein Schriftsteller zu sein, der die literarische Geduld und Genauigkeit wahrt. Seine vierjährige Arbeit an einem einzigen Roman hebt ihn aus dem hektischen Literaturbetrieb heraus. Réa erscheint weniger als vollständig ausgearbeitete Figur denn als Projektionsfläche für die Idealvorstellungen des Erzählers von literarischer Größe. Was Café central wirklich enthält, erfährt man nicht – stattdessen ist es der Glaube an das Werk, der zählt. Réa ist somit auch eine Art literarischer Mythos, ein Phantom des wahren Künstlertums. Der Umstand, dass Café central nach vier Jahren immer noch nicht fertig ist, verweist zugleich auf eine melancholische Note: Vielleicht ist die Figur Réa auch eine Illusion – ein letztes literarisches Fünkchen Hoffnung, das sich nie erfüllen wird. Der Glaube an ihn wird zur letzten Bastion des Verlegers gegen den ökonomischen und kulturellen Zerfall seines Verlags.
Ma seule certitude : ce roman apporterait enfin à Pierre-Antoine Réa la reconnaissance et mettrait en lumière ses précédents titres. Et cette fois nous allions réussir sa sortie, avec ou sans le concours de l’auteur, si peu doué pour le service après-vente…
Comment oublier le jour où je lui ai annoncé qu’il était invité dans une émission de télévision à grande écoute pour présenter Eroïca ? D’autres y auraient vu une excellente nouvelle.
— Si je pouvais résumer mon roman en quatre phrases, à quoi bon perdre quatre ans à l’écrire ? Vous savez comme moi qu’un auteur médiocre mais bon communicant a bien plus de chances de succès qu’un véritable écrivain infichu de se vendre. Imaginez Kafka en promo… La métamorphose ne serait jamais parvenu jusqu’à nous. Je laisse volontiers ma place à un Benoît Clerc, qui signerait de son sang un pacte avec Lucifer pour passer dans cette émission. Ou à un Laurent Neville, si bon à l’oral qu’il n’a même pas besoin de soigner l’écrit. Ils parlent comme des livres pour vendre leurs livres écrits comme ils parlent.
Comme lui, je me méfie des éloquents. Mon affection va vers les bègues, les empêchés, les trébuchants, qui écrivent pour ne pas parler.
— Quatre ans, 420 pages. N’ai-je pas déjà fourni ma part de travail, Bertrand ?
Tonino Benacquista, Tiré de faits irréels, Gallimard, 2025.
Meine einzige Gewissheit: Dieser Roman würde Pierre-Antoine Réa endlich Anerkennung bringen und seine bisherigen Titel ins rechte Licht rücken. Und dieses Mal würden wir die Veröffentlichung erfolgreich abschließen, mit oder ohne die Hilfe des Autors, der so wenig Talent für den Kundendienst hat …
Wie könnte ich den Tag vergessen, an dem ich ihm mitteilte, dass er in eine Fernsehsendung mit hoher Einschaltquote eingeladen worden war, um Eroica vorzustellen? Andere hätten dies als großartige Nachricht gewertet.
— Wenn ich meinen Roman in vier Sätzen zusammenfassen könnte, welchen Sinn hätte es dann, vier Jahre damit zu verschwenden, ihn zu schreiben? Sie wissen so gut wie ich, dass ein mittelmäßiger, aber gut kommunizierender Autor viel größere Erfolgschancen hat als ein echter, unfähiger Schriftsteller sich zu verkaufen. Stellen Sie sich Kafka als Promoter vor! Die Verwandlung wäre nie bis zu uns gelangt. Ich überlasse meinen Platz gerne einem Benoît Clerc, der mit seinem Blut einen Pakt mit Luzifer unterschreiben würde, um in dieser Sendung auftreten zu können. Oder einem Laurent Neville, der so gut mündlich ist, dass er sich nicht einmal um das geschriebene Wort kümmern muss. Sie reden wie Bücher, um ihre Bücher zu verkaufen, die so geschrieben sind, wie sie reden.
Wie er misstraue ich den Eloquenten. Meine Zuneigung gilt den Stotterern, den Verhinderten, den Stolpernden, die schreiben, um nicht sprechen zu müssen.
— Vier Jahre, 420 Seiten. Habe ich nicht bereits meinen Teil der Arbeit geleistet, Bertrand?
Benacquistas Tiré de faits irréels ist ein elegischer, kluger, zugleich sarkastischer wie bewegender Roman über das Ende einer Epoche. Bertrand Dumas ist nicht nur ein Verleger, er ist ein Leser, eine Figur, ein Autor und ein Medium – seine Geschichte ist die Geschichte der Literatur selbst. Der Roman verweigert sich einfachen Antworten: Weder die kulturpessimistische Position Reynalds noch die naive Hoffnung auf literarische Wirkung wird zur Lösung. Stattdessen entsteht ein Bild von Literatur als Ort des Zweifelns, der Ambivalenz, der offenen Fragen. Der Text bietet keine Rezepte, aber er demonstriert, dass das Erzählen selbst ein Akt des Widerstands gegen die Beschleunigung, die Banalisierung und die algorithmische Überformung der Welt ist. In einer Zeit, in der vieles „aus Fakten gemacht“ scheint, besteht Benacquista auf der Notwendigkeit, aus „unwirklichen Tatsachen“ – aus Möglichkeiten, aus Erinnerungen, aus Visionen – zu erzählen. Darin liegt seine poetische Kraft.
Merci à vous, les écrivains ! Merci de nous pointer ces subtils petits riens du quotidien qui échappent à notre vigilance ! Merci d’avoir des souvenirs, nous qui en manquons ! Merci de trouver les mots, même quand on aurait dit tout pareil ! Pour qui vous prenez-vous, fâcheux prosateurs, graphomanes obstinés, inlassables verbeux, diseurs de malaventure, gâcheurs de papier, vains rédacteurs, fabulistes épuisants, jamais découragés ? Croyez-vous vraiment que tout mensonge est bon à écrire ? Vous vous pensez charmeurs de phrases ? En avez-vous fait se dresser une seule sous nos yeux envoûtés ? Avez-vous su lui faire cracher son venin ? Ah mais, faire des phrases ne vous suffit plus ? Vous voilà déterminés à fabriquer une histoire ? Il était une fois, pensez-vous ? Non, cette fois-là ne vous a pas attendus, elle a été mille fois avant vous, et votre héros est déjà né, et bien né, sous la plume d’un poète mort depuis des lunes, lui-même inspiré par une légende dont nul n’est l’auteur, sinon une conscience collective qui aux temps anciens a chanté la geste du Premier Homme.
Tonino Benacquista, Tiré de faits irréels, Gallimard, 2025.
Danke, ihr Schriftsteller! Danke, dass ihr uns auf die subtilen Kleinigkeiten des Alltags hinweist, die wir übersehen! Danke, dass ihr Erinnerungen habt, die uns fehlen! Danke, dass ihr die richtigen Worte findet, selbst wenn wir das Gleiche gesagt hätten! Für wen haltet ihr euch eigentlich, ihr lästigen Prosaiker, hartnäckigen Graphomanen, unermüdlichen Wortklauber, Unglücksrapper, Papierverschwender, eitlen Redakteure, anstrengenden Fabulierer, die sich nie entmutigen lassen? Glaubt ihr wirklich, dass jede Lüge gut zum Schreiben ist? Glaubt ihr, dass ihr Sätze verzaubert? Habt ihr auch nur einen einzigen Satz vor unseren betörenden Augen aufgerichtet? Habt ihr ihn dazu gebracht, sein Gift auszuspucken? Reicht es euch nicht mehr, nur Sätze zu bilden? Ihr wollt eine Geschichte erfinden? Es war einmal, denkt ihr? Nein, dieses eine Mal hat nicht auf euch gewartet, es war schon tausendmal vor euch da, und euer Held ist bereits geboren und wohlgeboren, aus der Feder eines seit vielen Monden toten Dichters, der seinerseits von einer Legende inspiriert wurde, deren Autor niemand ist, außer einem kollektiven Bewusstsein, das in alten Zeiten die Heldentaten des ersten Menschen besungen hat.
Tiré de faits irréels lässt sich auch als poetisches Spätwerk lesen. Der Ton ist ruhiger, nachdenklicher, weniger auf Effekte als auf Tiefe ausgelegt. Der Text nimmt Abschied – von einem Beruf, von einer Epoche, von einer bestimmten Vorstellung von Literatur. Und dennoch: Der Roman enthält auch ein leises Trotzdem, ein Beharren auf der Kraft des Erzählens, selbst wenn es ins Leere zu laufen scheint. Im Kontext des Gesamtwerks von Tonino Benacquista markiert Tiré de faits irréels einen Höhepunkt der Selbstbefragung: Was kann Literatur noch? Was darf sie hoffen? Wie lässt sich angesichts eines beschleunigten, digitalisierten, ökonomisierten Alltags noch erzählen? Die Antworten, die der Roman gibt, sind fragil, tastend – aber gerade dadurch literarisch glaubwürdig. Der Text ist ein würdiger, stiller, nachdenklicher Beitrag zur späten Moderne, der das Erzählen als kulturellen Überrest und ethische Möglichkeit verteidigt.
Bertrand Dumas ist eine tief durchdachte, literarisch komplexe Figur. In seinem Denken, Handeln und Zweifeln konzentriert sich die zentrale Fragestellung des Romans: Ist Literatur heute noch möglich? Und wenn ja – unter welchen Bedingungen? Dumas beantwortet diese Frage nicht durch Theorie, sondern durch Haltung. Seine Figur ist ein Plädoyer für die Treue zur Sprache, zur Nuance, zur inneren Wahrheit – auch (und gerade) dann, wenn diese Haltungen keinen Platz mehr in der Welt zu haben scheinen.
— Il faut que je vous raconte une anecdote. Au salon du livre de Paris, je vous ai vu participer à une table ronde avec quelques-uns de vos confrères. Le modérateur, qui voulait d’emblée élever le débat, vous a posé une question qu’il a lue in extenso, une question longue, amphigourique et compliquée, l’air de dire « attention, va y avoir du niveau ! ». Quelque chose du genre : « Vous semble-t-il possible de préserver l’aspect essentiel de la littérature en tant qu’expression esthétique et culturelle en tenant compte des relations conflictuelles qu’entretiennent l’art, l’économie et la politique ? »
Aucun souvenir. Mais il serait malvenu de l’interrompre.
— … Grande perplexité du public et des intervenants, surtout vous, qui traversiez un grand moment de solitude. Vous vous souvenez de votre réponse ?
— Non…
— Eh bien voilà ce que vous avez répondu : NON. Pas un mot de plus ! Strictement aucun développement, juste ce NON, assené avec une calme assurance, un NON qui se suffisait à lui-même, un NON audible à deux niveaux de sens, car à la fois il répondait à sa question, finalement binaire, mais surtout il clouait le bec de ce type pontifiant. Tout le monde a applaudi ce providentiel NON !
Tonino Benacquista, Tiré de faits irréels, Gallimard, 2025.
— Ich muss Ihnen eine Anekdote erzählen. Auf der Pariser Buchmesse habe ich gesehen, wie Sie mit einigen Ihrer Kollegen an einer Podiumsdiskussion teilnahmen. Der Moderator, der von Anfang an die Debatte anheizen wollte, stellte Ihnen eine Frage, die er in extenso vorlas, eine lange, amphigorische und komplizierte Frage, die den Anschein erweckte, als wolle er sagen: „Achtung, jetzt kommt Niveau!“. So etwas wie: „Halten Sie es für möglich, den wesentlichen Aspekt der Literatur als ästhetischen und kulturellen Ausdruck zu bewahren und dabei die konfliktreichen Beziehungen zwischen Kunst, Wirtschaft und Politik zu berücksichtigen?“
Keine Erinnerung daran. Aber es wäre falsch, ihn zu unterbrechen.
— … Große Verwirrung im Publikum und bei den Sprechern, vor allem bei Ihnen, die einen großen Moment der Einsamkeit durchmachten. Erinnern Sie sich an Ihre Antwort?
— Nein
— Nun, hier ist Ihre Antwort: NEIN. Kein einziges Wort mehr! Keine weiteren Ausführungen,
nur dieses NEIN, das mit ruhiger Selbstsicherheit vorgetragen wurde, ein NEIN, das sich selbst genügte, ein hörbares NEIN mit zwei Bedeutungsebenen, denn es beantwortete nicht nur seine Frage, die letztlich binär war, sondern nagelte vor allem diesen päpstlich auftretenden Typen fest. Alle applaudierten diesem providentiellen NEIN!