Inhalt
Verschwörungsmanifeste?
L’or, c’est fini. L’alchimie aussi.
Hugues Jallon, Le cours secret du monde, Editions verticales, 2025.
Gold ist out. Die Alchimie auch.
In Le cours secret du monde (2025) widmet sich Hugues Jallon einer radikalen Revision dessen, was als „geheim“ oder „verborgen“ gilt – nicht aus esoterischem Interesse, sondern als kontrapunktische Suchbewegung gegen das hegemoniale, rationale Weltwissen. Das „Geheime“ ist bei Jallon keine fixe Kategorie, kein abgeschlossener Inhalt oder dogmatisches System. Es ist vielmehr ein Denkraum, eine Öffnung, eine Leerstelle, aus der sich alternative Formen von Geschichte, Wahrnehmung und Weltdeutung ergeben. Die Zuschreibungen an das „Geheime“ im Roman sind vielfältig und bewusst widersprüchlich. Sie zielen darauf, das Verhältnis zwischen Sichtbarkeit, Wahrheit, Wissen und Macht neu zu justieren.
Il n’y a pas de début à cette histoire. Il n’est même pas sûr qu’on puisse la raconter. On ne peut pas faire l’histoire d’un monde auquel on n’a pas accès.
Il y a trop de secrets.
Hugues Jallon, Le cours secret du monde, Editions verticales, 2025.
Es gibt keinen Anfang für diese Geschichte. Es ist nicht einmal sicher, ob sie überhaupt erzählt werden kann. Man kann nicht die Geschichte einer Welt erzählen, zu der man keinen Zugang hat.
Es gibt zu viele Geheimnisse.
Hugues Jallon ist ein französischer Schriftsteller und Verleger, der nach einer Verlagskarriere bei den Éditions La Découverte 2018 die Leitung der Éditions du Seuil übernahm. Jallon hat sich öffentlich zu verschiedenen politischen Themen geäußert, darunter die Verteidigung der Meinungsfreiheit und Kritik an staatlichen Maßnahmen. Als Autor hat Jallon mehrere Werke veröffentlicht, darunter La Base (2004), Zone de combat (2007), Le début de quelque chose (2011), La conquête des cœurs et des esprits (2015), Hélène ou le soulèvement (2019) und Le capital, c’est ta vie (2023). Seine Arbeiten zeichnen sich durch dichte Beschreibungen sozialer und psychischer Zustände der zeitgenössischen Welt aus und behandeln Themen wie Panik, Trauma, Flucht, Verschwinden, Isolation und Regression.
Jallon verlor die Leitungsposition des Verlags Seuil wegen seiner radikal linken Gesinnung 1 und vielleicht auch, damit verbunden, wegen der Veröffentlichung eines Verschwörungsmanifests, das nun auch die Lektüre seines eigenen neuesten Buchs, Le cours secret du monde (2025), in ein bestimmtes Licht rücken könnte. Diese Neuerscheinung setzt die Thematik seines Werks fort, indem es sich mit Alchemisten, Magiern, Wissenschaftlern, Spionen, Revolutionären und Dichtern beschäftigt, die auf der Suche nach verborgenen Wahrheiten sind. Jallon stellt die Frage, ob die sogenannten Häretiker des 20. Jahrhunderts, die an den Grenzen von Wissenschaft und Vernunft operierten, uns heute noch etwas zu sagen haben, insbesondere in einer Zeit, in der die „okkulten Kräfte des Kapitals“ unsere Seelen beherrschen. Das Werk lädt dazu ein, heimlich von anderen Welten und Leben zu träumen.
Zurück zum Verschwörungsmanifest bei Seuil: „War die Pandemie nur ein Vorwand, um Freiheitsbewegungen von Hongkong bis zu den Gelbwesten niederzuschlagen? In Frankreich sorgt gerade ein anonymes „Manifest der Verschwörung“ für Furore.“ So beginnt ein Artikel in der Welt aus dem Jahr 2022, Martina Meister fragt darin, warum Hugues Jallon als Verlagsleiter von Seuil entschieden hat, dieses manifeste conspirationniste in seinem Haus herauszugeben, das sie so einschätzt: „Es ist gespickt mit Zitaten von großen Denkern oder Literaten wie Machiavelli, Hegel, Marx, Nietzsche, Freud, Baudelaire, Pynchon, Adorno, Deleuze und natürlich Foucault. Kein Autor fehlt, der in den Bibliotheken jener Bildungsbürger steht, die bislang offensichtlich nicht verstanden haben, dass es sich dabei „allesamt“ um Verschwörungstheoretiker handelt.“ 2
Eroberungsepos der Nachkriegszeit: La conquête des cœurs et des esprits (2015)
Jallons Fragestellungen einer Art Gegengeschichte zu einer hegemonialen modernen Welt finden sich bereits in seinen früheren Werken: Der Anfang seines La conquête des cœurs et des esprits (2015) ist kein traditioneller Romaneinstieg, sondern ein vielstimmiger Chor der Nachkriegsmoderne, in dem die Grenzen zwischen Subjekt und Spektakel, Innenwelt und Außenpolitik, Mythos und Medienillusion verschwimmen. Jallon inszeniert die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein post-utopisches Zeitalter, in dem die Eroberung des Raumes mit der inneren Leere des Menschen kollidiert – und das auf hypnotische, poetisch-politische Weise. Der Beginn von Hugues Jallons Epos in Gesängen ist ein hochverdichteter, rhythmisch strukturierter Text, der eine Mischung aus epischer Beschwörung, medialer Simulation und dokumentarischer Evokation erzeugt. Er funktioniert wie ein hypnotisches Prolog-Gedicht, das weniger eine Handlung einleitet als vielmehr einen Zustand, ein historisch-emotionales Klima: die Nachkriegszeit, „le milieu de l’après-guerre“, die zum mythischen Nullpunkt einer Epoche stilisiert wird. Der Roman beginnt mit der Formulierung „C’est à El Lago, au milieu de l’après-guerre“ – ein konkreter Ort (El Lago) trifft auf eine abstrakte Zeitlichkeit („au milieu de l’après-guerre“), die weder datiert noch lokalisiert ist. Dies schafft sofort eine unheimliche Schwebe: Wir sind gleichzeitig „danach“ und „vorher“, in einem historischen Vakuum, das eher mythologisch als chronologisch ist. Die Nachkriegszeit wird zur Bühne für neue Träume, neue Helden – aber auch für neue Formen der Kontrolle, Propaganda und psychischen Manipulation. Der Text ist fragmentiert, elliptisch, ohne klare Erzählerinstanz, fast filmisch montiert. Die Sätze brechen ab, neue Bilder setzen ein, Übergänge bleiben suggestiv. Die rhythmische Wiederholung von „C’est au milieu de l’après-guerre“ wird wie ein Refrain eingesetzt, der das Geschehen strukturiert und gleichzeitig jede chronologische Linearität sprengt.
Was folgt, ist eine Verschmelzung von innerhäuslichem Alltag und globalem Spektakel: Frauen in Shorts im Wohnzimmer, Kinder, die durch das Bild laufen – aber gleichzeitig ein Countdown, Funksprüche, das Zittern eines Bildes, das suggeriert: Wir sehen die erste Mondlandung. Der Text springt zwischen Innenraum und Weltraum, zwischen Wohnzimmer und Fernsehen, zwischen individueller Intimität und kollektiver Projektion. Diese Gleichzeitigkeit schafft ein Gefühl der Unwirklichkeit – als wäre die Welt selbst zum Simulakrum geworden. Das Geschehen ist durchdrungen von Medienbildern, Signalen, Kommentaren – und trotzdem emotional aufgeladen: „Quelque chose meurt en nous / Mais quoi ?“
Der Held – klar als Neil Armstrong erkennbar – wird einerseits gefeiert: ein schweigsamer, zielgerichteter, „fanatischer“ Mann mit „Kaltblütigkeit“. Andererseits wird sein Mythos systematisch entzaubert. Wir erfahren von seiner Kindheit, seiner Schweigsamkeit, seiner sozialen Unauffälligkeit. Der Text zeigt, wie aus biografischen Splittern ein Bild des „Helds ohne Gesicht“ entsteht – ein archetypischer Held, in dem sich individuelle Geschichte und nationale Mythologie überschneiden. Das Motto der Verlagsankündigung – „für die Eroberung unserer Seelen“ = „pour la conquête de nos âmes“ – wird hier eingelöst: Nicht mehr das Territorium, sondern das Innere des Menschen wird erobert. Die „conquête“ ist nicht nur militärisch oder technologisch, sondern psychologisch, emotional, medial. Die Sprache des Romans durchzieht eine unterschwellige Melancholie: Die Helden der Nachkriegszeit, so scheint es, haben uns nicht befreit, sondern verwandelt – in Zuschauer, in Funktionsträger, in passive Zeugen.
Sowohl in La conquête des cœurs et des esprits als auch in Le cours secret du monde geht es um Individuen, die jenseits der etablierten Normen nach tieferen Wahrheiten suchen. Jallon untersucht, wie ideologische und wirtschaftliche Kräfte das individuelle und kollektive Bewusstsein beeinflussen und manipulieren. Beide Bücher verwenden eine nicht-lineare, poetische Sprache, die traditionelle Erzählstrukturen herausfordert.
Erschöpfung des Subjekts: Le capital, c’est ta vie (2023)
Im Jahr 2007 heißt es noch in Zone de combat, wir müssten Therapiemethoden und Gesprächsgruppen, Coaching-Sitzungen und Fitnesskurse aneinanderreihen, um zu überleben, um unser Leben selbst in die Hand zu nehmen: „Man muss sich den gemeinsamen Empfehlungen fügen. Die Versprechungen für ein gesichertes Wohlbefinden sind unendlich geworden. Zwischen terroristischen Gefahren und Managementtechniken leben wir in ständiger Angst vor körperlicher und sozialer Zerrüttung. In der Kampfzone unterscheidet nichts mehr zwischen den Gefahren der Welt und den intimen Territorien. Einige formlose Gruppen bereiten sich auf das Unausweichliche vor. Gemeinsam ist alles möglich geworden. Ein einziges Wort vereint uns: Angst.“ 3 Die Urlaubsgruppe in einem nordafrikanischen Feriendorf in Le début de quelque chose (2011) ist wie eine Wildschweinherde gezeichnet, und sie ist erholungsbedürftig, wie Emily Barnett schreibt: „Jallon verwandelt dieses keimfreie Eden in einen Abfalleimer für westliche Neurosen, indem er eine zusätzliche Unordnung einführt. Die Minibar leert sich, ein Kind weint, die Neonröhren im Speisesaal explodieren, ein Gewitter bricht los: Das lächelnde Dorf verwandelt sich in einen Zufluchtsort, ein Ghetto, ein Krankenhaus oder sogar ein Konzentrationslager, während draußen etwas wächst, das stark an einen Bürgerkrieg erinnert. Ein eiskalter Kurzroman nach Brecht (die Distanzierung, die Gefahren der kollektiven Passivität), der die Gemüter erhitzen muss.“ 4
Hugues Jallon hat schließlich unter dem irritierenden Titel Le capital, c’est ta vie (2023) 5 eine beklemmende Bestandsaufnahme der Entmenschlichung entfaltet, die der allgegenwärtige Kapitalismus in seinen Subjekten anrichtet. Der Roman begleitet ein Ich, das im Strudel ökonomischer und sozialer Zwänge zwischen Panikattacken und Selbstoptimierungsimperativen zerrieben wird. Der Roman reiht sich ein in eine Strömung der französischen Gegenwartsliteratur, die sich durch eine neue Form der „littérature du symptôme“ auszeichnet – Texte, in denen persönliche Krisenerfahrungen (Depression, Burnout, Angststörungen) nicht nur dokumentiert, sondern als Spiegel kollektiver Zustände inszeniert werden. In dieser Hinsicht steht Le capital, c’est ta vie in der Nähe von Autoren wie Édouard Louis oder Annie Ernaux – doch Jallon geht einen Schritt weiter: Er sucht nicht nur nach Ursachen, sondern auch nach Rhythmen, nach Resonanzen. Sein Text tastet, stammelt, stockt und bricht aus – und wird gerade darin zum Ausdruck eines Zeitalters, das sich nicht mehr zu fassen weiß. Jallons fragmentarische Erzählweise und konzentriert geschichtete Szenen verdichten die Entfremdung, indem sie Wert als absolutes Maß etablieren – eine Logik, die sich etwa in Prominenz, Konsumrausch und medialer Sichtbarkeit manifestiert. Popkulturelle Ikonen wie Kim Kardashian werden dabei als Chiffren für die Hohlheit von Sichtbarkeit und Kommerz gesetzt, während intime Erfahrungen und globale Mechanismen untrennbar verwoben werden. So legt der Roman schonungslos dar, wie Märkte nicht nur Wirtschaft, sondern auch Selbstverständnis und Beziehungen kolonisieren und dabei einen psychischen Preis fordern, der über individuelle Grenzerfahrungen hinaus die Gesellschaft in Frage stellt.
Der Roman beginnt ohne Handlung, ohne klassische Exposition. Kein Name, kein Dialog, keine Chronologie. Stattdessen: ein Körper. Ein Körper, der zittert, friert, dessen Atmung versagt. Der Erzähler beschreibt in beklemmenden, eindringlichen Bildern seine Erfahrung mit Panikattacken. Diese Passagen sind keine medizinischen Berichte, sondern poetische Verdichtungen eines unhaltbaren Zustands: Der Körper verliert seine Kohärenz, das Ich zerfällt. Die Sprache selbst beginnt zu taumeln, sich zu wiederholen, zu stottern. Was Jallon hier beschreibt, ist nicht bloß eine psychische Störung – es ist das Erlebnis einer vollständigen Desintegration der Weltbezüge. Die Panik kommt „par en dessous“, sie kriecht von den Beinen in die Brust, sie entreißt dem Subjekt seine Orientierung. In diesen Momenten, so der Erzähler, gibt es keine Zukunft, keine Vergangenheit – nur Gegenwart in ihrer zerstörerischen Form. Jallons Erzähler dokumentiert die alltägliche Zermürbung: der Gang vom Bett zum Café, der Rückzug ins eigene Viertel, die Furcht vor Blicken, vor Gesprächen, vor dem Nichts. Es sind Szenen der Depression, aber auch der Verzweiflung über den Mangel an Resonanz. Diese Verstörung wird in der Struktur des Textes gespiegelt: Es gibt keine Kapitel, keine lineare Entwicklung, sondern Abschnitte, die wie Wellen anrollen, mit plötzlichen Einschüben, Abschweifungen, Listen. Jallon schreibt gegen die Linearität an – wie jemand, der sich keinen festen Boden mehr vorstellen kann.
Der Protagonist leidet nicht „nur“ an Panik, sondern an einer tiefgreifenden Entfremdung von der Welt, in der „projets de vie“ nur noch als Projektmanagement von Konsumzielen, Karriereschritten, Selbstoptimierung und „petits plaisirs“ existieren. Die Erschöpfung, die das Ich ergreift, ist auch die Erschöpfung eines Subjekts, das zu funktionieren hat – nicht weil jemand es zwingt, sondern weil es sich selbst als Investitionsobjekt begreift: ein kleines Unternehmen im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Leistung und Effizienz. Jallon stellt diese Durchökonomisierung des Lebens nicht nur dar – er baut sie ein. In fast manischer Dichte reihen sich Reflexionen über das DSM-5, psychiatrische Kliniken, Pharmaindustrie, Management-Rhetoriken, ökonomische Theorien, globalisierte Warenströme. Die Welt erscheint als ein einziger Markt – buchstäblich. In einem geradezu grotesken Teil des Romans listet der Erzähler dutzendfach den „marché de…“ auf: „le marché du sommeil“, „le marché de la préadolescence“, „le marché de la fin de vie“, „le marché de l’attention“, „le marché de la beauté“… In der Montage von Subjektivem und Globalem, von Nervensystem und Weltwirtschaft, von Panikattacke und Containerhandel offenbart sich eine erschütternde Wahrheit: Es gibt keinen Ort außerhalb des Systems, keine „heile Welt“, keinen Rückzugsraum. Selbst die Versuche, sich dem Zugriff zu entziehen – durch Rückzug, Krankheit, Schweigen – scheinen bereits Teil des Spiels zu sein. Und doch ist gerade die Artikulation dieser Aussichtslosigkeit ein Moment der Autonomie.
Die literarische Form spiegelt dabei genau das, worüber sie spricht: Überforderung, Kontrollverlust, Entgrenzung. Jallon nutzt Wiederholungen, elliptische Sätze, abrupte Perspektivwechsel, Einschübe aus anderen Diskursbereichen. Zwischen lyrischen Beschreibungen von Atemnot und Zitaten aus psychiatrischen Fachtexten entsteht ein Sog, der den Leser weniger „mitnimmt“, als ihn überrollt. Man liest nicht linear, man taumelt. Dabei erzeugt der Text eine dichte sensorische Atmosphäre: Das Zittern der Hände, der Druck auf der Brust, das Pulsieren im Kopf – körperliche Empfindungen werden zu sprachlichen Partituren. In Momenten höchster Panik verengt sich der Blick auf scheinbar Nebensächliches – eine zitternde Zigarette, eine Ameise im Sand, das Rascheln von Spatzen im Geäst – und weitet sich dann wieder auf makroskopische Maßstäbe aus, etwa wenn der Text über Containerlogistik, Wirtschaftsnobelpreise oder geopolitische Entwicklungen reflektiert. Diese stilistische Strategie ist keine bloße Manier, sondern Teil einer poetologischen Setzung: Der Roman performt die Fragmentierung, die er thematisiert.
Der Kapitalismus erscheint hier nicht als System mit Fehlern, sondern als Zustand, der jede Kategorie von „normal“ verschiebt – psychisch, sozial, sprachlich. Der Erzähler leidet, zweifelt, ruft um Hilfe – aber es gibt keine Instanz mehr, die antworten könnte. Die Panik wird zum Symbol dafür, dass das „Ich“ als Einheit nicht mehr trägt. Der Roman legt zwar eindrucksvoll dar, wie Kapitalismus das Individuum bis in die intimsten Bereiche durchdringt und zur Entfremdung führt, doch bleibt die Darstellung oft in einem moralischen Nihilismus verhaftet, ohne echte Handlungsalternativen oder Widerstandsmöglichkeiten zu präsentieren. So wird die Kapitalismuskritik zwar pointiert und aufrüttelnd, doch die Lösung des Problems bleibt vage, was die Frage aufwirft, ob der Roman wirklich zu einer tiefergehenden Reflexion anregt oder sich letztlich in der Darstellung der Ohnmacht erschöpft. Allerdings bleibt auch festzuhalten: Le capital, c’est ta vie entwirft keine Verschwörungstheorien oder geheimen Machtzirkel. Vielmehr arbeitet Jallon daran zu zeigen, wie offen sichtbare, alltägliche Marktmechanismen und Selbstoptimierungsimperative das Individuum zermürben – ganz ohne den Rückgriff auf angebliche „geheime Mächte“.
Wege zum Verborgenen
La vieillerie poétique avait une bonne part dans mon alchimie du verbe.
Je m’habituai à l’hallucination simple : je voyais très franchement une mosquée à la place d’une usine, une école de tambours faite par des anges, des calèches sur les routes du ciel, un salon au fond d’un lac ; les monstres, les mystères ; un titre de vaudeville dressait des épouvantes devant moi.
Puis j’expliquai mes sophismes magiques avec l’hallucination des mots !
Je finis par trouver sacré le désordre de mon esprit. J’étais oisif, en proie à une lourde fièvre : j’enviais la félicité des bêtes, – les chenilles, qui représentent l’innocence des limbes, les taupes, le sommeil de la virginité !
Aus: Arthur Rimbaud, Une Saison en Enfer, Délires II, Alchimie du Verbe.
In meiner Alchemie des Wortes hatten die alten poetischen Gesetze großen Raum.
In einfachsten Halluzinationen sah ich sehr deutlich; hier eine Moschee, anstelle einer Fabrik, eine Music-Band von Engeln gebildet, Silberkarossen auf Sternstraßen, dort ein Schloß auf dem blauen Grunde des Ozeans, ekle Fabelwesen und grüne Geheimnisse. Selbst der Titel einer Posse sprang mir in die Augen wie ein schreckliches Geschehnis.
Ich erklärte meine magischen Sophismen mit der Halluzination der Worte.
Schließlich schien mir das Chaos meiner Gedanken wie ein heiliges Wunder. Ich tat nichts, lebte wie in einem schweren Fieber, sah neidisch auf die Glückseligkeit der Tiere. Beschäftigte mich mit den Raupen, die die Unschuld des Vorhimmels symbolisierten, genauso wie die Maulwürfe den Schlaf der Jungfräulichkeit.
Aus: Arthur Rimbaud, Ein Sommer in der Hölle, Delirien II, Alchemie des Wortes, Nachdichtung von Paul Zech, Sämtliche Dichtungen des Jean Arthur Rimbaud, Fischer Taschenbuch Verlag, 1990, 109f.
Die Kardashians werden in Le capital, c’est ta vie (2023) erwähnt, und das nicht beiläufig oder bloß als popkulturelles Ornament, sondern als Teil einer tiefgreifenden Gesellschaftsanalyse. Die Kardashians – besonders Kim Kardashian – erscheinen für den entleerten, visuell kodierten Kapitalismus der Gegenwart, in dem Körper, Oberfläche und Medienpräsenz zur dominanten Form des Seins werden. Kim wird explizit als „Frau ohne Talent“ zitiert, die dennoch zu globalem Ruhm gelangte – eine ironische Umkehrung des meritokratischen Selbstbilds westlicher Gesellschaften. Der Erzähler kontrastiert seine eigene psychosomatische Panik, seine Arbeitsunfähigkeit, seine Depression mit der makellosen, chirurgisch optimierten Figur der Kim Kardashian – als ob ihre Sichtbarkeit, ihre scheinbare Kontrolle über Körper und Image die Kehrseite seines Verstummens und Zerfalls sei. Hier fungiert sie als Gegenbild zum zersetzten Subjekt des neoliberalen Prekariats.
Die Kardashians stehen für die Transformation von Bedeutung in Sichtbarkeit, von Sein in Performance. Ihre Omnipräsenz verweist auf den medialen Zwang zur ständigen Präsenz, auf eine neue Form des „Zwangs zur Selbstverwertung“. Was früher als „sakral“ galt, tritt heute als ästhetisch-performative Machtstruktur auf – in der Öffentlichkeit des Digitalen verkörpert durch die Kardashian-Ästhetik. Die Oberflächen der Popkultur werden zu Trägern von unbewussten Sehnsüchten, Ängsten und Normierungen – die Kardashians sind Ikonen eines neuen, entleerten Mystizismus. Im Roman markieren sie eine unheimliche Sakralität der Oberfläche – eine „Geheimlehre ohne Geheimnis“, die allen zugänglich scheint, aber niemandem gehört.
Hugues Jallons Le cours secret du monde (2025) ist kein Roman im klassischen Sinn, sondern eine hybride Textform zwischen Collage, Erzählung, Essay und spekulativer Geschichtsreflexion. Es ist ein „komponierter Drift“, der sich durch Jahrhunderte, Weltanschauungen, Obskuritäten und Visionen bewegt – auf der Suche nach einem „geheimen Verlauf der Welt“, der sich den etablierten Erklärungen, historischen Kanons und rationalistischen Weltbildern entzieht. In Hugues Jallons beiden Romanen Le capital, c’est ta vie (2023) und Le cours secret du monde begegnet uns eine je auf ihre Weise radikal kritische Sicht auf die gegenwärtige Gesellschaft. Doch sie entfaltet sich in zwei sehr unterschiedlichen Formen: Während Le capital das Leiden des Individuums im neoliberalen Alltag in eindringlichster Subjektivität beschreibt, geht Le cours secret du monde darüber hinaus und versucht, das Gewebe der Realität selbst zu durchleuchten – nicht im Modus der Analyse, sondern im Verfahren der spekulativen Erzählung, der okkulten Montage, der poetischen Enthüllung eines tieferen, „geheimen“ Weltlaufs.
Le capital, c’est ta vie ist ein Roman der Panik. In episodischen, atemlosen Abschnitten beschreibt der Erzähler seine psychischen Krisen, seine Angststörungen, seine Unfähigkeit, in der Welt zu funktionieren. Diese Zustände sind jedoch nicht rein individuell, sondern Symptome einer allgemeinen Lebensform, die auf Dauererschöpfung und Selbstüberforderung basiert. Das Kapital, so Jallon, kolonisiert nicht nur Arbeit und Konsum, sondern vor allem Zeit, Körper und Empfinden. Die Ich-Figur befindet sich in einem Zustand ständiger Entgleisung, der sich in körperlichen Reaktionen niederschlägt: Atemnot, Zittern, Kreislaufkollapse. Dabei wird nicht nur das Arbeitsleben als Ursache ins Visier genommen, sondern auch das gesamte kulturelle Umfeld – die Vereinzelung, die mediale Beschallung, das Verschwinden des echten Gesprächs, die Unmöglichkeit, sich noch als lebendiges, sinnstiftendes Wesen zu erfahren.
Dem steht Le cours secret du monde nicht entgegen, sondern ergänzt es auf einer anderen Ebene. Während der erste Roman in der Ich-Perspektive und im körperlich-erfahrbaren Raum bleibt, bricht der zweite radikal mit der Form der autofiktionalen oder selbstanalytischen Prosa. Er folgt keiner stringenten Handlung, sondern entwirft eine Welt in Splittern, Überlagerungen, historischen Miniaturen, esoterischen Theorien und kulturphilosophischen Meditationen. Jallon zeichnet eine andere Art von Kartographie: nicht des Alltags, sondern der verborgenen Geschichte – einer Geschichte, die sich abseits der offiziellen Narrative entfaltet. In den Spuren von Jacques Bergier, René Daumal, Helena Blavatsky oder Georges Gurdjieff tastet sich das Buch durch okkulte Bewegungen, geheime Lehren, verdrängte Wissensformen. Die Frage, was „die Welt im Innersten zusammenhält“, wird nicht wissenschaftlich, sondern poetisch, magisch, imaginär gestellt.
Et puis, le 28 janvier 1972, dans un reportage de vingt minutes à la télévision française, une voix annonce : « Cet homme est une légende » et on devine une silhouette qui marche vers nous dans une forêt, sa belle chevelure tirée en arrière. Il porte un manteau noir jeté sur ses épaules et une chemise blanche à jabot, une petite canne d’argent à la main.
Il dit qu’il est né il y a plus de dix-sept mille ans, qu’il parle dix-sept langues et huit dialectes, il dit qu’il a traversé le temps, qu’il est le comte de Saint-Germain, le célèbre alchimiste qui a connu Casanova, qui a vécu un temps au château de Chambord et à la cour de Louis XV. Il dit qu’il est le dernier des templiers. Il dit aussi qu’il appartient au peuple de l’Atlantide, un peuple de grands hommes qui a quitté la terre, en laissant quelques-uns de ses appareils sous les fondations de la cathédrale de Chartres. Il fume le cigare, il goûte de grands crus, il roule dans une voiture de sport qui ressemble à une Corvette, il possède un magasin d’antiquités place des Vosges. Quand il se promène dans les jardins de Versailles, il dit qu’il se rappelle les grandes fêtes que donnait le roi. Le pommeau de sa canne dissimule un percuteur qui la transforme en arme à feu. Il dit qu’il a fréquenté des types de l’OAS, et des nazis. Avant de répondre aux questions, il laisse passer quelques secondes de silence, et son visage de marbre s’éclaire parfois d’un petit sourire ironique teinté de mélancolie. Il dit que, évidemment, personne ne le croira.
Quelques mois plus tard, lors d’une soirée en l’honneur de Dalida et de son dernier album, Pascal Sevran, un animateur vedette de la télévision, présente à la chanteuse le comte de Saint-Germain, dont le nom circule dans tout Paris. C’est le début d’une histoire d’amour folle. Dalida est célèbre, elle est riche, mais elle dit que, grâce à lui, elle est « devenue une femme ». Il la conduit en voiture, il s’occupe de ses affaires, il fait tourner les tables et montre à la télévision comment il peut transformer du plomb en or, il se met à la peinture, il fabrique des sculptures de bronze qui figurent de grands oiseaux, il enregistre aussi, en duo avec elle, une chanson, « Et de l’amour, de l’amour », puis tout seul « Pour une femme », « Le frimeur », et d’autres encore. Il ressemble un peu à Alain Delon qui a eu, lui aussi, une histoire avec Dalida dans les années cinquante, et, comme lui, il est attiré par les armes. Alors qu’ils rentrent très tard d’un dîner à l’hôtel particulier de Montmartre, il tire sur le petit ami de la bonne portugaise de Dalida, ce qui lui vaut un mois de prison à Fresnes. Il est tyrannique, agressif, jaloux, et Dalida finit par le quitter. Leur amour a duré neuf ans.
Hugues Jallon, Le cours secret du monde, Editions verticales, 2025.
Dann, am 28. Januar 1972, verkündet eine Stimme in einer zwanzigminütigen Reportage im französischen Fernsehen: „Dieser Mann ist eine Legende“, und man erahnt eine Gestalt, die mit zurückgebundenem schönem Haar auf uns in einem Wald zukommt. Er trägt einen schwarzen Mantel, der über seine Schultern geworfen ist, ein weißes Hemd mit Rüschen und einen kleinen silbernen Stock in der Hand.
Er sagt, er sei vor mehr als siebzehntausend Jahren geboren, spreche siebzehn Sprachen und acht Dialekte, habe die Zeit durchquert, sei der Graf von Saint-Germain, der berühmte Alchemist, der Casanova gekannt habe und eine Zeit lang im Schloss Chambord und am Hofe Ludwigs XV. gelebt habe. Er sagt, er sei der letzte Templer. Er sagt auch, dass er zum Volk von Atlantis gehört, einem Volk großer Männer, das die Erde verlassen hat und einige seiner Geräte unter den Fundamenten der Kathedrale von Chartres zurückgelassen hat. Er raucht Zigarren, trinkt edle Weine, fährt einen Sportwagen, der wie eine Corvette aussieht, und besitzt ein Antiquitätengeschäft an der Place des Vosges. Wenn er durch die Gärten von Versailles spaziert, sagt er, dass er sich an die großen Feste erinnert, die der König gab. Der Knauf seines Stockes verbirgt einen Schlagbolzen, der ihn in eine Schusswaffe verwandelt. Er sagt, dass er mit Leuten von der OAS und Nazis zu tun hatte. Bevor er Fragen beantwortet, lässt er einige Sekunden Stille verstreichen, und sein ausdrucksloses Gesicht hellt sich manchmal mit einem kleinen ironischen, melancholischen Lächeln auf. Er sagt, dass ihm natürlich niemand glauben werde.
Einige Monate später, bei einer Abendveranstaltung zu Ehren von Dalida und ihrem letzten Album, stellt Pascal Sevran, ein bekannter Fernsehmoderator, der Sängerin den Grafen von Saint-Germain vor, dessen Name in ganz Paris die Runde macht. Es ist der Beginn einer verrückten Liebesgeschichte. Dalida ist berühmt, sie ist reich, aber sie sagt, dass sie dank ihm „eine Frau geworden“ ist. Er fährt sie im Auto, kümmert sich um ihre Angelegenheiten, dreht Tische und zeigt im Fernsehen, wie er Blei in Gold verwandeln kann, er beginnt zu malen, fertigt Bronzeskulpturen von großen Vögeln an und nimmt mit ihr ein Duett auf, “ Et de l’amour, de l’amour“, dann solo ‚Pour une femme‘, ‚Le frimeur‘ und andere. Er ähnelt ein wenig Alain Delon, der in den fünfziger Jahren ebenfalls eine Affäre mit Dalida hatte und wie er von Waffen angezogen ist. Als sie sehr spät von einem Abendessen in einem Herrenhaus in Montmartre zurückkehren, erschießt er den Freund von Dalidas portugiesischer Hausangestellter, was ihm einen Monat Gefängnis in Fresnes einbringt. Er ist tyrannisch, aggressiv, eifersüchtig, und Dalida verlässt ihn schließlich. Ihre Liebe dauerte neun Jahre.
Trotz aller Unterschiede verbinden die beiden Bücher ein Misstrauen gegenüber der Oberfläche der Wirklichkeit, eine tiefe Skepsis gegenüber den ideologischen Versprechungen des Fortschritts und der Moderne. Doch während Le capital diese Skepsis aus dem Innersten eines leidenden Subjekts heraus formuliert – eines Subjekts, das sich im Ausnahmezustand der Psyche befindet –, äußert Le cours secret sie über den Umweg der Geschichte, der okkulten Erzähltraditionen, der alternativen Denkbewegungen. Es ist, als hätte Jallon nach der klinisch-existentiellen Diagnose in Le capital das Bedürfnis verspürt, die große Erzählung dahinter zu durchleuchten: Warum leben wir so? Warum sind wir so? Wer hat uns dieses Weltbild eingeimpft, in dem Körper und Geist auseinanderfallen, in dem Gefühle pathologisiert und Geschichte als lineare Fortschrittserzählung verkauft werden?
Beide Texte teilen eine Unabhängigkeit des Denkens, die sich weder an den akademischen Diskurs noch an politische Programme bindet. Ihre Kritik ist keine agitatorische, sondern eine poetisch-ontologische. Dabei fällt auf, dass beide Romane auf eine je eigene Weise gegen die instrumentelle Rationalität schreiben: Le capital durch die Zersetzung der Sprache im Rhythmus der Angst, Le cours secret durch die Neuzusammensetzung des Weltwissens aus Verschwundenem, Verschwiegenem, Verdrängtem. In beiden Fällen wird das Schreiben selbst zum Ort der Widerständigkeit: als poetische Geste gegen das Vergessen, gegen die Vereindeutigung, gegen das, was Jallon nicht ohne Ironie als so seiende Welt, „le monde tel qu’il est“, beschreibt.
Zugleich unterscheidet die beiden Bücher auch die Perspektive auf das Subjekt. In Le capital ist es eine verletzliche, zerfallende Ich-Figur, deren Erleben protokolliert wird – ein erschöpftes, überfordertes, vereinsamtes Ich, das zwischen Café, Wohnung, Büro und Klinik pendelt. In Le cours secret tritt dieses Ich hinter die erzählenden Stimmen zurück und macht Platz für einen polyphonen, assoziativen Erzählstrom, in dem Biografien, Visionen, Hypothesen und Mythen durcheinanderfließen. Das Subjekt ist hier nicht mehr bloßes Opfer seiner Zeit, sondern Teil einer viel größeren Bewegung, eines geheimen Stroms, der unter der Oberfläche der Geschichte verläuft.
So lassen sich die beiden Romane auch als komplementär lesen: Le capital, c’est ta vie als intime Innenansicht eines kranken Körpers in einer kaputten Gesellschaft; Le cours secret du monde als außenliegende Kartographie all jener Kräfte, die diese Gesellschaft hervorgebracht haben – sichtbar, unsichtbar, rational oder esoterisch. Was beide verbindet, ist der Versuch, eine Sprache zu finden für das, was sich nicht mehr sagen lässt: das Verstummen des Sinns, das Schweigen der Welt, die Explosion im Innersten. Und was sie unterscheidet, ist nicht die Haltung – denn beide sind radikal unabhängig –, sondern die Blickrichtung: von innen nach außen im einen, von außen nach unten (ins Unterirdische) im anderen. Jallon erweist sich damit gewissermaßen als Autor einer doppelten Kritik – existenziell und metaphysisch zugleich.
Visionäre einer Geheimlehre
Die Leitfrage des jüngsten Werks von Jallon lautet nicht: Was ist die Geschichte?, sondern: Was wurde aus ihr ausgeschlossen? Der Text versammelt eine Reihe von Figuren – reale Personen, spirituelle Lehrer, Außenseiter, „Suchende“ –, die auf je eigene Weise eine alternative Sicht auf die Wirklichkeit entworfen haben. Aus diesen Porträts setzt sich ein schillerndes, widersprüchliches, aber in sich konsequentes Gegenbild zur westlich-rationalistischen Moderne zusammen.
Georges Gurdjieff – der Archetyp des geheimen Wissens
Die vielleicht zentrale Figur in Le cours secret du monde ist Georges I. Gurdjieff, ein esoterischer Lehrer mit unklarer Herkunft, charismatischer Ausstrahlung und einer schillernden Biografie zwischen orientalischer Mystik, Hypnose, Tanz, Askese und spekulativer Philosophie. Der Erzähler folgt Gurdjieffs Spuren nicht, um ein geschlossenes System zu rekonstruieren – im Gegenteil: Die biografischen Angaben sind bruchstückhaft, widersprüchlich, mythisch überformt. Gurdjieff war, so der Erzähler, vielleicht vieles – ein Spion, ein Scharlatan, ein Heiliger, ein Revolutionär, ein Tyrann, ein Theatermacher –, aber vor allem war er Träger eines „Enseignement“ (in Versalien), das nicht dokumentiert, sondern verkörpert, getanzt, geatmet, gelebt werden sollte.
Puis c’est la guerre.
Ses disciples semblent vivre à l’écart de toute la violence qui se déchaîne d’un seul coup à l’été 1914. Les yeux brillants, les joues brûlantes de larmes, ils Travaillent. Ils Respirent avec leur Âme. Ils n’en sont qu’au début avec lui. Puis c’est la révolution d’Octobre, en Russie, et la guerre civile. Un voyage commence, de Essentouki à Sotchi puis Tbilissi. Gurdjieff emmène sa petite société nomade et crasseuse à travers les montagnes du Caucase, le long de la mer Noire. Il la conduit dans une forêt ancienne, initiatique, auprès de dolmens ensevelis dans la broussaille. Ils vont à Constantinople, puis à Sofia, couchés dans le fond d’un wagon, dormant dans les forêts, puis à Belgrade, à Berlin, à Londres où la Société théosophique reçoit Gurdjieff en grande pompe.
« Vous devez trouver un maître, vous seuls pouvez décider de ce que vous voulez faire, demandez-vous du fond du cœur ce que vous désirez, allez de l’avant », conclut-il lors d’une conférence qu’il donne à Londres. Alfred Richard Orage est dans la salle, c’est un socialiste, il écrit que l’Angleterre a besoin du socialisme, il dirige la revue The New Age, qui publie ses amis George Bernard Shaw, H. G. Wells, Ezra Pound, et finira lui aussi, dans « l’Enseignement ».
Gurdjieff débarque à Paris. Avec sa toque d’astrakan, toujours une jambe repliée sous lui, il organise ses séances dans les locaux de l’institut de gymnastique rythmique fondé par le musicien Émile Jaques-Dalcroze, rue de Vaugirard. Il s’installe au prieuré des Basses-Loges à la fin du mois d’août 1922, dans le village d’Avon, à soixante kilomètres de Paris. C’est un château immense pour loger tous ceux qui l’accompagnent. Il y a un parc entouré de très hauts murs, et de la terre à cultiver. « Travaillez bien, répète-t-il, devenez meilleurs, vous commencez à mieux penser, c’est bien. »
Hugues Jallon, Le cours secret du monde, Editions verticales, 2025.
Dann bricht der Krieg aus.
Seine Anhänger scheinen von all der Gewalt, die im Sommer 1914 plötzlich ausbricht, unberührt zu sein. Mit leuchtenden Augen und tränenfeuchten Wangen arbeiten sie. Sie atmen mit ihrer Seele. Sie stehen mit ihm noch ganz am Anfang. Dann kommt die Oktoberrevolution in Russland und der Bürgerkrieg. Eine Reise beginnt, von Essentuki nach Sotschi und dann nach Tiflis. Gurdjieff führt seine kleine nomadische und schmutzige Gesellschaft durch die Berge des Kaukasus, entlang der Schwarzem Meer. Er führt sie in einen alten, geheimnisvollen Wald, zu Dolmen, die im Gestrüpp begraben sind. Sie gehen nach Konstantinopel, dann nach Sofia, schlafen im Laderaum eines Waggons, in den Wäldern, dann in Belgrad, Berlin und London, wo die Theosophische Gesellschaft Gurdjieff mit großem Pomp empfängt.
„Ihr müsst einen Meister finden, nur ihr allein könnt entscheiden, was ihr tun wollt, fragt euch aus tiefstem Herzen, was ihr wollt, geht voran“, schließt er in einem Vortrag, den er in London hält. Alfred Richard Orage ist im Saal, er ist Sozialist, er schreibt, dass England den Sozialismus braucht, er leitet die Zeitschrift The New Age, die seine Freunde George Bernard Shaw, H. G. Wells und Ezra Pound veröffentlicht, und wird schließlich ebenfalls in der „Lehre“ landen.
Gurdjieff kommt nach Paris. Mit seiner Astrakanmütze und immer einem Bein unter sich angezogen, organisiert er seine Sitzungen in den Räumlichkeiten des vom Musiker Émile Jaques-Dalcroze gegründeten Instituts für rhythmische Gymnastik in der Rue de Vaugirard. Ende August 1922 lässt er sich im Priorat Basses-Loges im Dorf Avon, sechzig Kilometer von Paris entfernt, nieder. Es ist ein riesiges Schloss, das Platz für alle bietet, die ihn begleiten. Es gibt einen von sehr hohen Mauern umgebenen Park und Ackerland. „Arbeitet gut“, wiederholt er, „werdet besser, ihr fangt an, besser zu denken, das ist gut.“
Der Erzähler sieht in Gurdjieff einen Zeugen einer anderen Dimension von Wahrheit, einer Wahrheit, die sich dem westlichen Denken mit seiner fixierten Opposition von Körper und Geist, Glauben und Wissen entzieht. Gurdjieffs Welt ist eine Welt der Übergänge, der inneren Alchemie, der rituellen Wiederholung – eine Praxis des „Erwachens“, nicht der Erklärung. Der Erzähler zieht daraus die Folgerung, dass jede Lehre, die sich als „wahr“ bezeichnet, gleichzeitig auch eine Schule der Disziplin, der Körperlichkeit und der Erfahrung sein muss. Die Wahrheit liegt nicht in Texten, sondern in Zuständen.
René Daumal – der poetisch-spirituelle Selbstmörder
Der Dichter und Mystiker René Daumal, bekannt durch Le Mont Analogue, wird als Schüler Gurdjieffs eingeführt, aber auch als jemand, der in eigener, tragischer Radikalität eine „poétique de la certitude mystique“ verfolgt hat. In der Beschreibung Daumals spielt der Text mit dessen Nähe zu Rimbaud, mit seinem Willen, „voyant“ zu werden, mit seinen Experimenten zwischen Drogen, Tod und Sprache. Für den Erzähler ist Daumal ein verlorenes Kind der Moderne, einer, der durch das poetische Wort hindurch nach einer absoluten Wirklichkeit suchte, aber daran zerbrach.
Il [d.i. Gurdjieff] organise des exercices d’attention et de sensation, des séances d’auto-hypnose, des ateliers de couture pour faire des costumes et coussins, et des Danses sacrées, toujours. Le 8 juillet 1924, il écrase sa Citroën contre un arbre. Son corps ensanglanté repose sur l’herbe tiède, à côté de la carcasse tordue, du moteur arraché fumant au loin. Pas de morphine, non, dit-il aux médecins. Et puis, il est debout dans les jours qui suivent. Il demande des cigarettes. Ses disciples abattent des arbres pour allumer des feux immenses partout dans le parc. Aux belles femmes, il exige leur « premier corps », et elles le suivent dans sa chambre. « Je me suis sentie atteinte au cœur de mon sexe », raconte une romancière.
Il vend le Prieuré et s’installe au 6, rue des Colonels-Renard, chez Mme Salzmann, l’une de ses proches disciples. C’est là que René Daumal rend visite régulièrement au vieil homme mystérieux qui lui redonne « l’espoir et la raison de vivre. Je vois que le savoir caché dont j’avais rêvé existe dans le monde et qu’un jour je pourrai, si je le mérite, y accéder ». Daumal a vingt-deux ans. C’est un mystique, c’est un drogué. C’est un poète qui est né comme Rimbaud, dans un village perdu à cinq kilomètres de Charleville-Mézières, un coin misérable des Ardennes qui semble avoir le don d’enfanter des « voyants ». À quelques mois près, tous les deux sont morts au même âge, à trente-six ans. Rimbaud disparaît bien avant la Grande Guerre – il s’est essayé misérablement au commerce des armes après en avoir fini avec la poésie. Daumal, lui, naît après cette guerre qui apporte au monde la destruction de masse moderne.
Hugues Jallon, Le cours secret du monde, Editions verticales, 2025.
Er organisiert Aufmerksamkeits- und Sinnesübungen, Selbsthypnose-Sitzungen, Nähworkshops, um Kostüme und Kissen herzustellen, und immer wieder heilige Tänze. Am 8. Juli 1924 prallt er mit seinem Citroën gegen einen Baum. Sein blutüberströmter Körper liegt auf dem lauwarmen Gras neben dem zerfetzten Wrack, der Motor ist herausgerissen und raucht in der Ferne. Kein Morphium, nein, sagt er zu den Ärzten. Und dann steht er in den folgenden Tagen wieder auf. Er verlangt Zigaretten. Seine Anhänger fällen Bäume, um überall im Park riesige Feuer zu entfachen. Von den schönen Frauen verlangt er ihren „ersten Körper“, und sie folgen ihm in sein Zimmer. „Ich fühlte mich in meinem Geschlecht verletzt“, erzählt eine Schriftstellerin.
Er verkauft das Priorat und zieht in die Rue des Colonels-Renard 6 zu Frau Salzmann, einer seiner engsten Anhängerinnen. Dort besucht René Daumal regelmäßig den mysteriösen alten Mann, der ihm „Hoffnung und einen Sinn im Leben“ zurückgibt. Ich sehe, dass das verborgene Wissen, von dem ich geträumt habe, in der Welt existiert und dass ich eines Tages, wenn ich es verdiene, Zugang dazu haben werde“. Daumal ist zweiundzwanzig Jahre alt. Er ist ein Mystiker, ein Drogenabhängiger. Er ist ein Dichter, der wie Rimbaud in einem abgelegenen Dorf fünf Kilometer von Charleville-Mézières geboren wurde, einer elenden Gegend in den Ardennen, die die Gabe zu haben scheint, „Seher“ hervorzubringen. Beide starben im Alter von 36 Jahren, nur wenige Monate nacheinander. Rimbaud verschwand lange vor dem Ersten Weltkrieg – nachdem er sich erfolglos im Waffenhandel versucht hatte, nachdem er mit der Poesie abgeschlossen hatte. Daumal wurde nach diesem Krieg geboren, der der Welt die moderne Massenvernichtung brachte.
Aus der Figur Daumals entwickelt sich eine poetologische Folgerung: Worte allein tragen keine Wahrheit – sie müssen durch den Körper, durch Askese, durch Grenzerfahrung aufgeladen sein. Die Sprache selbst wird zur Schwelle: Sie kann zur Initiation führen – oder zur Selbstauflösung. Der Erzähler liest Daumal als jemanden, der an der Schwelle blieb – gescheitert, aber bedeutend gerade in diesem Scheitern.
Jacques Bergier – der technomystische Vermittler
Ein weiterer zentraler Akteur des Buchs ist Jacques Bergier, ehemaliger Widerstandskämpfer, Wissenschaftsautor, Grenzgänger zwischen Spionage, Science-Fiction, Okkultismus und Atomphysik. Bergier ist nicht Initiierter im klassischen Sinne, sondern vielmehr ein kompilierender Geist, der unterschiedlichste Weltbilder, Theorien, Spekulationen miteinander verbindet. Er glaubt an die „cryptocratie“, eine Herrschaft des Wissens durch geheime Eliten. Für den Erzähler ist Bergier eine ironische Figur der Moderne, jemand, der sich der rationalen Welt bedient, um über sie hinauszugehen – durch „magisches“ Denken, das sich seiner eigenen Konstruktion bewusst ist.
Par l’entremise de René Alleau, un historien de l’alchimie, il rencontre Louis Pauwels qui vient de quitter le groupe de Gurdjieff. Pour Pauwels, c’est une sorte d’illumination. À propos de son nouveau maître, il écrit : « Le spectacle de cette intelligence en mouvement n’a jamais manqué de produire en moi une exaltation des facultés sans laquelle la conception et la rédaction de cet ouvrage m’eussent été impossibles. » Il semble un enfant qui boit littéralement les paroles de Bergier, et les recueille religieusement.
À partir de ce matériau, ils écrivent tous deux Le Matin des magiciens qui paraît en 1960, un gros livre, dont on trouve parfois un exemplaire aux pages jaunies dans les maisons de campagne ou les locations de vacances. Il se présente comme une « introduction au réalisme fantastique », qui veut faire dialoguer les dernières avancées de la science avec les savoirs occultes millénaires. L’ouvrage est en réalité une sorte de chevauchée démente à travers les siècles où l’on croise tous les savoirs anciens, des continents enfouis aux civilisations disparues, des savoirs alchimiques aux mondes extraterrestres, en passant par la Terre creuse et la Société des neuf inconnus, Thulé et l’ésotérisme nazi, les Mayas, la psychologie des profondeurs, l’île de Pâques, la Synarchie, la théorie de la relativité, les romans d’Aldous Huxley, les secrets de l’énergie et de la matière, etc.
Le livre connaît un succès énorme et inattendu. On ne sait pas ce qu’il se passe dans la France des Trente Glorieuses et du gaullisme triomphant, on ne sait pas pourquoi le public se jette sur ce pavé de plus de six cents pages assez indigestes qui mélange tout et dont on ne retient pas grand-chose. Bergier et Pauwels créent dans la foulée la revue Planète, pour continuer à « réconcilier, dans une certaine mesure, la pensée ancienne, disons magique, avec la pensée avancée d’aujourd’hui » avec son slogan célèbre : « Rien de ce qui est étrange ne nous est étranger ! » Le public en redemande.
Dix ans plus tard, quand « le réalisme fantastique » finit par lasser, Pauwels se trouve un nouveau maître. Il rejoint la clique d’Alain de Benoist et la Nouvelle Droite, ce groupe d’intellectuels et d’activistes fascinés par les grands mythes païens et celtiques, les civilisations nordiques, et qui recyclent de vieilles idées ultranationalistes et racistes. Toute cette nébuleuse autour du GRECE, le Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne, voit ses idées popularisées par Le Figaro Magazine, que crée Louis Pauwels en 1978. Il reste alors dans l’histoire pour avoir écrit, en 1986, que la jeunesse de l’époque, mobilisée contre la réforme des universités, était atteinte de « sida mental ».
À cette période, le Front national est encore un petit parti de quelques centaines de membres où se retrouvent de vrais néonazis. Le monde que l’on croyait définitivement mort en 1945 à proximité d’un bunker au centre de Berlin recommence à respirer.
Hugues Jallon, Le cours secret du monde, Editions verticales, 2025.
Durch René Alleau, einen Alchemiehistoriker, lernt er Louis Pauwels kennen, der gerade die Gruppe von Gurdjieff verlassen hat. Für Pauwels ist dies eine Art Erleuchtung. Über seinen neuen Meister schreibt er: „Der Anblick dieser Intelligenz in Bewegung hat in mir stets eine Begeisterung hervorgerufen, ohne die mir die Konzeption und das Verfassen dieses Werkes unmöglich gewesen wären.“ Er wirkt wie ein Kind, das Bergier buchstäblich aus der Hand frisst und seine Worte religiös sammelt.
Aus diesem Material schreiben die beiden 1960 Le Matin des magiciens (Der Morgen der Magier), ein dickes Buch, von dem man manchmal ein Exemplar mit vergilbten Seiten in Landhäusern oder Ferienwohnungen findet. Es präsentiert sich als „Einführung in den fantastischen Realismus“, die die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft mit jahrtausendealtem okkultem Wissen in einen Dialog bringen will. Das Werk ist in Wirklichkeit eine Art wahnsinniger Ritt durch die Jahrhunderte, auf dem man auf alles alte Wissen stößt, von versunkenen Kontinenten bis zu verschwundenen Zivilisationen, von alchemistischem Wissen bis zu außerirdischen Welten, über die hohle Erde und die Gesellschaft der neun Unbekannten, Thule und die Nazi-Esoterik, die Mayas, die Tiefenpsychologie, die Osterinsel, die Synarchie, die Relativitätstheorie, die Romane von Aldous Huxley, die Geheimnisse der Energie und der Materie usw.
Das Buch war ein unerwarteter Riesenerfolg. Man weiß nicht, was in Frankreich während der dreißig glorreichen Jahre und des triumphierenden Gaullismus vor sich ging, man weiß nicht, warum sich die Öffentlichkeit auf diesen über sechshundert Seiten starken, ziemlich schwer verdaulichen Wälzer stürzte, der alles durcheinanderwirbelte und von dem man nicht viel behalten konnte. Bergier und Pauwels gründen daraufhin die Zeitschrift Planète, um „in gewisser Weise das alte, sagen wir magische Denken mit dem fortschrittlichen Denken von heute zu versöhnen“, mit ihrem berühmten Slogan: „Nichts, was seltsam ist, ist uns fremd!“ Die Öffentlichkeit verlangt nach mehr.
Zehn Jahre später, als der „fantastische Realismus“ schließlich langweilig wurde, fand Pauwels einen neuen Meister. Er schloss sich der Clique um Alain de Benoist und der Nouvelle Droite an, einer Gruppe von Intellektuellen und Aktivisten, die von den großen heidnischen und keltischen Mythen und den nordischen Zivilisationen fasziniert waren und alte ultranationalistische und rassistische Ideen recycelten. Die ganze nebulöse Bewegung um die GRECE, die Groupe de recherche et d’études pour la civilisation européenne (Forschungs- und Studiengruppe für europäische Zivilisation), sah ihre Ideen durch das 1978 von Louis Pauwels gegründete Le Figaro Magazine populär werden. Er ging in die Geschichte ein, weil er 1986 schrieb, dass die Jugend jener Zeit, die gegen die Universitätsreform mobilisiert war, an „mentalem AIDS“ leide.
Zu dieser Zeit ist der Front National noch eine kleine Partei mit einigen hundert Mitgliedern, in der sich echte Neonazis tummeln. Die Welt, die man 1945 in der Nähe eines Bunkers im Zentrum Berlins für endgültig tot gehalten hatte, beginnt wieder zu atmen.
Bergier verkörpert damit eine Schlüsselfrage des Textes: Kann das moderne Wissen sich selbst überschreiten? Kann die Aufklärung zu einer „geheimen Aufklärung“ werden? Der Erzähler folgert daraus nicht, dass Bergier recht hatte, sondern dass sein Denken einen Spielraum eröffnet, in dem sich alternative Lesarten der Geschichte entwickeln lassen – nicht als Fakten, sondern als Denkbewegungen.
Helena Blavatsky – die Prophetin des esoterischen Feminismus
Mit Helena Petrovna Blavatsky, Mitbegründerin der Theosophischen Gesellschaft, betritt eine gänzlich andere Figur den Text – eine Frau, eine Prophetin, eine ruhelose Reisende, die Weltbilder systematisch miteinander verknüpft: Ost und West, Antike und Moderne, Mythos und Wissenschaft. Für den Erzähler ist Blavatsky eine „inspirierte Fälscherin“, eine Figur von enormer Imagination, die die Welt als ein Gewebe von Zeichen, Spuren, Chiffren verstand – und zugleich eine politische Frau, die sich nie unterordnete, nie verweilte, nie aufgab.
Helena Blavatsky avait autrefois affirmé que ses « Divins Instructeurs » lui avaient confié l’existence d’une civilisation disparue, préhistorique, « une civilisation millénaire qui pourrait révéler d’étranges secrets à l’humanité », qui aurait laissé de mystérieux « entrepôts souterrains » dont les entrées (au Tibet, au Pérou, dans l’Antarctique et ailleurs) sont cachées, impossibles à trouver, sauf par des initiés. Avec elle, de nombreux « chercheurs de vérité » pensent qu’il s’agirait peut-être des habitants de l’Atlantide, ou des Lémuriens, ou des Hyperboréens, ou d’autres encore des « Ancêtres Supérieurs », des « Dieux du Passé » venus de planètes lointaines, peut-être de la Nébuleuse de la Lyre, que les astrophysiciens ont renommée M57. Certains parlent d’« Anciens Astronautes », des êtres venus du fond de l’espace intergalactique, dotés de technologies et de savoirs avancés, qui auraient installé leurs bases au cœur de galeries creusées dans les profondeurs de la Terre.
Hugues Jallon, Le cours secret du monde, Editions verticales, 2025.
Helena Blavatsky hatte einst behauptet, dass ihre „göttlichen Lehrer“ ihr von der Existenz einer verschwundenen, prähistorischen Zivilisation erzählt hätten, „einer jahrtausendealten Zivilisation, die der Menschheit seltsame Geheimnisse offenbaren könnte“ und die mysteriöse „unterirdische Lagerstätten“ hinterlassen habe, deren Eingänge (in Tibet, Peru, der Antarktis und anderswo) versteckt und unauffindbar seien, außer für Eingeweihte. Mit ihr glauben viele „Wahrheitssuchende“, dass es sich dabei vielleicht um die Bewohner von Atlantis, die Lemurier, die Hyperboreer oder andere „Höhere Vorfahren“, „Götter der Vergangenheit“ , die von fernen Planeten, vielleicht aus dem Sternnebel der Leier, den Astrophysiker M57 getauft haben, gekommen sind. Manche sprechen von „alten Astronauten“, Wesen aus den Tiefen des intergalaktischen Raums, die über fortschrittliche Technologien und Kenntnisse verfügten und ihre Stützpunkte inmitten von Tunneln in den Tiefen der Erde errichtet hätten.
Blavatsky steht im Text für das mächtige Moment weiblicher Weltaneignung in einer Zeit, die das Weibliche mystifizierte, aber nicht ernst nahm. Der Erzähler nimmt sie nicht beim Wort, sondern im Impuls: Ihr Denken war offen, durchlässig, widerständig gegen jegliche Einhegung. Aus ihrer Figur zieht sich der Gedanke, dass jede Geheimlehre nicht abgeschlossen sein kann – dass sie vielmehr ein Experiment der Weltdeutung sein muss, ein nomadisches Denken, das sich jeder Dogmatisierung entzieht.
Neben den großen Porträts versammelt der Text eine Vielzahl weiterer Figuren – Maler, Esoteriker, Kompilatoren, moderne Medienikonen, deren Kult der Oberfläche als neue Mystik inszeniert wird. Diese scheinbare Heterogenität ist kein Bruch, sondern gehört zum Projekt des Buchs: Jede Zeit hat ihre eigenen Formen des Geheimwissens – und auch ihre Karikaturen. Der Kult um das Sichtbare (z. B. Körper, Prominenz, Lifestyle) erscheint als inverses Abbild der unsichtbaren Weisheiten früherer Zeiten. Der Erzähler spielt mit dieser Gleichzeitigkeit von Ironie und Ernst, von Glauben und Simulation. Es ergibt sich ein Bild der Moderne als Entzauberungsspektakel, das zugleich eine neue Form des Magischen hervorbringt – das mediale Bild als sakralisierte Oberfläche.
Gegenarchiv zur Verfügbarkeit des Wissens
Aus all diesen Stimmen, Spuren, Personen ergibt sich kein dogmatisches System, sondern ein offenes, widersprüchliches, sich selbst reflektierendes Feld von Versuchen, das Unsichtbare zu denken. Der „cours secret du monde“ ist nicht im Sinne einer absoluten Wahrheit zu verstehen, sondern als Gegenbewegung zur totalen Sichtbarkeit, zur totalen Verfügbarkeit der Welt. Es geht um eine Rückgewinnung von Tiefe, Bedeutung, Resonanz – ohne dabei in Esoterik oder Schwärmerei zu kippen. Der Erzähler zieht keine endgültigen Schlüsse, sondern tastet sich durch die Lehren, Mythen und Fragmente auf der Suche nach einem anderen Denken: einem Denken, das nicht kontrolliert, sondern wahrnimmt; das nicht erklärt, sondern andeutet; das nicht fixiert, sondern in Bewegung bleibt.
Hugues Jallon hat mit Le cours secret du monde eine Art literarisch-philosophisches Gegenarchiv geschaffen – einen Raum, in dem die verdrängten, vergessenen, belächelten oder bewusst ausgeschlossenen Formen des Wissens erneut in Bewegung geraten. Das Buch selbst wird zur Gegenlehre: keine Esoterik, sondern eine Ethik des Fragens, eine Poetik der Unsicherheit. Der Erzähler ist kein Guru – sondern ein Leser, ein Sammler, ein Poet des Ungesagten. Und was er zeigt, ist vielleicht das Wesentlichste: dass die Wirklichkeit nicht dort beginnt, wo alles gesagt ist, sondern dort, wo das Schweigen Fragen aufwirft. Ob uns das alles hilft, die Publikation des Verschwörungsmanifests bei den Editions Seuil, wie eingangs geschildert, zu verstehen, bleibt hingegen offen.
Anmerkungen- Vgl. „Le Seuil perd son Jallon“, Nouvel Observateur, 2. Juni 2024.>>>
- Martina Meister, Corona-Manifest: „Wir werden gewinnen, weil wir tiefer gehen“, Die Welt, 18. Februar 2022.>>>
- Verlagsankündigung, Editions verticales.>>>
- „Jallon transforme cet éden aseptisé en poubelle des névroses occidentales, tout en y introduisant un désordre supplémentaire. Le minibar se vide, un enfant pleure, les néons du réfectoire petent, un orage éclate : le village souriant a tôt fait de muter tour tour en refuge, en ghetto, en hôpital, voire en espace concentrationnaire, tandis qu’au dehors grandit ce qui ressemble fort une guerre civile. Résolument brechtien (la distanciation, les dangers de la passivité collective), un court roman glacant qui ne peut que déranger les esprits.“ Emily Barnett, „Le début de quelque chose: bienvenue dans le Club Med de l’horreur“, Les Inrockuptibles, 15. Februar 2011.>>>
- Vgl. dazu: „Hugues Jallon, l’étonnant patron des Editions du Seuil“, Nouvel Observateur, 21. Januar 2023; Raphaëlle Leyris, « Le Capital, c’est ta vie » : paniquer avec Hugues Jallon, Le Monde, 18. März 2023.>>>