Poetiken der Kindheit: Maylis Adhémar, L’école est finie (2025)

Maylis Adhémars L’école est finie (Stock, 2025) erzählt die Geschichte des neunjährigen Al, der sich im südfranzösischen Dorf Cos in den Pyrenäen gegen die Härte und Gängelung des Schulsystems zur Wehr setzt. Gemeinsam mit seiner Freundin Adeline gründet er die geheime „ACE“ – die Association Contre École – und erschafft sich im verlassenen Fort Barbaresque eine eigene, poetische Gegenwelt. Dort erleben die Kinder Abenteuer, pflegen Rituale, begraben einen Vogel und schreiben ihre Geschichten in die Wände – fern von den Erwartungen der Erwachsenen. Al beobachtet die Welt der Erwachsenen mit kritischem Blick: Schule, Familie, Geschichte und Politik erscheinen als Zonen der Disziplin, der Entfremdung, aber auch der Erinnerung. Der Roman ist eine poetische Hommage an die rebellische Kraft der Kindheit und die Sehnsucht nach Freiheit, Zugehörigkeit und eigener Wahrheit. So wählt Adhémar als Motto auch Bobins Zitat: „Kinder sind wie Seeleute: Wohin sie auch schauen, überall ist es unendlich weit.“ 1 Der Schluss wird diese Stelle nochmals aufnehmen. Maylis Adhémars L’école est finie entfaltet auf fesselnde und zugleich poetisch intensive Weise eine Kindheit in den 1990er Jahren in einem südfranzösischen Dorf. In der Gestalt des neunjährigen Protagonisten Al zeichnet die Autorin nicht nur eine Kindheit voller Abenteuer und Widerstände, sondern auch ein komplexes Bild vom Verhältnis zwischen individueller Freiheit, institutioneller Gewalt und poetischer Imagination. Der Roman bringt kindliche Erfahrungswelten zur Darstellung, geprägt von innerer Fantasie, gesellschaftlichem Druck und der oppositionellen Kraft kindlicher Kreativität.

Il faut que ça s’arrête.

C’est maintenant.

La peur doit changer de camp.

« ACE vaincra ! »

Je crache un râle silencieux. Vincent et Adeline me regardent. Je lève le poing. La révolution de l’an 1995 peut commencer.

Adeline s’approche de la quatrième fenêtre et tire doucement sur le volet – elle avait la charge de les fermer avec Marie-Ève Leroy. La vitre apparaît, transparente et nue, à notre merci. Vincent bondit, la grève de galets venus du fond des mers. Foudroyés, les carreaux. Nous sommes ivres. Adeline explose, en larmes, sans qu’on sache si c’est encore cette foutue peur ou bien la joie. Maintenant, on y va. Ma main se faufile entre les débris de verre dont l’un vient se planter au creux de ma paume, là où luit encore la cicatrice du pacte de Paulilles. La fenêtre de notre classe est ouverte et je plonge la tête la première dans sa gueule.

Ça n’a pas la même tronche sans la sorcière. Nous contemplons ahuris cette salle ridicule, juste des chaises et des tables, un espace grotesque où notre vie se réduit. Adeline ne pleure plus, elle marche dans l’allée centrale comme si elle allait se marier, elle avance lentement vers l’autel, là-haut sur le pupitre. L’école est une église que nous allons profaner. Vincent sort le matériel de son sac à dos tandis que je renverse joyeusement le bureau de la maîtresse, puis les autres, Marie-Ève, Aymeric, le mien, oui tous les autres. J’envoie valser les cahiers et les craies, je lacère au couteau les affiches sur les murs, le feu rouge, le feu vert, la frise chronologique, les devoirs civiques de l’élève, le portrait de Jules Ferry, oh oui, le portrait de Jules Ferry en bouillie. Et Vincent dévisse les bocaux de fumier, ouvre les poches plastique d’où tombent les vers de terre, merdes des chiens errants, bouses à scarabées, coupes de ronciers, Vincent fait voler dans l’air l’huile de vidange, la graisse de canard. La classe devient décharge et dépotoir, cuisine et chiottes, moisissure et forêt. Adeline, transfigurée, atteint son fiancé, le grand tableau noir des humiliations, saisit une craie et écrit au tableau :

Mort à l’école !

Vive la liberté !

ACE vaincra !

Ce moment est historique, inoubliable.

Maylis Adhémar, L’école est finie, Stock, 2025.

Das muss aufhören.

Jetzt ist es soweit.

Die Angst muss die Seiten wechseln.

„ACE wird siegen!“

Ich stöhne leise. Vincent und Adeline schauen mich an. Ich hebe meine Faust. Die Revolution von 1995 kann beginnen.

Adeline nähert sich dem vierten Fenster und zieht vorsichtig an der Jalousie – sie hatte zusammen mit Marie-Ève Leroy die Aufgabe, sie zu schließen. Die Scheibe erscheint, transparent und nackt, uns ausgeliefert. Vincent springt vor, der Kies aus den Tiefen des Meeres prasselt herab. Die Scheiben zersplittern. Wir sind wie berauscht. Adeline bricht in Tränen aus, ohne dass wir wissen, ob es noch immer diese verdammte Angst ist oder die Freude. Jetzt geht es los. Meine Hand schiebt sich zwischen die Glasscherben, von denen eine in meiner Handfläche stecken bleibt, genau dort, wo noch die Narbe des Paulilles-Pakts leuchtet. Das Fenster unseres Klassenzimmers ist offen und ich tauche kopfüber hinein.

Ohne die Hexe sieht es ganz anders aus. Fassungslos betrachten wir diesen lächerlichen Raum, nur Stühle und Tische, ein grotesker Ort, auf den sich unser Leben reduziert hat. Adeline weint nicht mehr, sie geht den Mittelgang entlang, als würde sie heiraten, langsam nähert sie sich dem Altar, dort oben auf dem Pult. Die Schule ist eine Kirche, die wir entweihen werden. Vincent holt das Material aus seinem Rucksack, während ich fröhlich den Schreibtisch der Lehrerin umwerfe, dann die anderen, Marie-Ève, Aymeric, meinen, ja, alle anderen. Ich werfe Hefte und Kreide durch die Luft, zerschneide mit einem Messer die Plakate an den Wänden, die Ampel, die Zeitleiste, die Hausaufgaben der Schüler, das Porträt von Jules Ferry, oh ja, das Porträt von Jules Ferry ist völlig zerfetzt. Und Vincent schraubt die Mistgläser auf, öffnet die Plastiktüten, aus denen Regenwürmer fallen, Hundekot, Käferkot, Brombeerschnitte, Vincent wirft Altöl und Entenfett in die Luft. Das Klassenzimmer verwandelt sich in eine Müllhalde, eine Küche und eine Toilette, Schimmel und Wald. Adeline, wie verwandelt, erreicht ihren Verlobten, die große Tafel der Demütigungen, schnappt sich eine Kreide und schreibt an die Tafel:

Tod der Schule!

Es lebe die Freiheit!

ACE wird siegen!

Dieser Moment ist historisch, unvergesslich.

Die poetische Zentralfigur des Romans ist die Kindheit als imaginativer Rückzugsraum und subversiver Gegenentwurf zur Erwachsenenwelt. Al und seine Gefährtin Adeline gründen mit der ACE („Association Contre École“) eine geheime Widerstandsbewegung gegen das Schulsystem. Die Schule erscheint in der kindlichen Wahrnehmung nicht als Ort des Lernens, sondern als Symbol institutioneller Gewalt: Autorität, Unterwerfung, Dressur. Die Kinder erschaffen demgegenüber ihr eigenes Reich – das „royaume du Fortin“, ein verlassenes Fort an der Küste, das sie mit Geschichten, Artefakten und Symbolen füllen. Die Sprache der Kinder ist eine poetische, bildhafte, mythologische Sprache: Al ist „le comandante Al“, Vercingétorix sein innerer Begleiter, Adeline die Tänzerin, Maline die dreibeinige Hündin, ihre loyale Gefährtin. Das Fort wird zur Chiffre einer poetischen Kindheitsutopie, die sich bewusst vom realen, durch Disziplin und Kontrolle bestimmten Raum abgrenzt. Das Spiel wird dabei nicht als bloße Freizeitbeschäftigung dargestellt, sondern als existenzielle, kreative, poetische Praxis: ein Widerstand gegen das Erwachsenwerden und gegen die strukturelle Gewalt der Erwachsenenwelt. Das imaginative Spiel verwandelt die kindliche Umgebung – das Schulzimmer, die Garrigue, den Hafen – in ein mythisches Szenario. Diese Umcodierung des Realen in eine narrative Wirklichkeit ist Ausdruck der poetischen Kraft der Kindheit.

Das Fort Barbaresque ist ein zentraler poetischer Raum des Romans. Es wird eingeführt mit der Szene: „Quand, une fois arrivé à découvert, je vois apparaître la mer hérissée de nos montagnes et surtout lui, le fort de la Barbaresque…“ (Kap. 5). Das Fort wird zur Bastion der Freiheit, zum Ort kreativer Imagination, Widerstand und Gemeinschaft. Die Inschrift „ACE“ (Association Contre École), die die Kinder in den Bunker ritzen, ist ein Akt symbolischer Selbstermächtigung: „En grand. En très grand !“ Das Fort ist nicht nur ein Ort für Spiel, sondern für Geschichte, Gedächtnis und poetische Transformation. Die Kinder eignen sich die Geschichte (Vauban, Nazis, Widerstand) neu an und transformieren sie in eine kindliche Mythopoetik. Die Beziehung zu Maline, der dreibeinigen Hündin, steht hier exemplarisch für eine poetische Ästhetik des Mangels, der Verletzlichkeit und des Mitgefühls. Maline wird Teil des ACE und fungiert als lebendiger Widerstand gegen die normierende Welt der Erwachsenen.

Adhémars Roman ist durchzogen von einer intensiven Bildlichkeit, die durch den kindlichen Erzählerblick erzeugt wird. Die Metaphern entstehen aus der direkten körperlichen und emotionalen Erfahrung des Kindes. Beispielsweise wird das Klassenzimmer zur Gefängniszelle, das Fort zur Festung der Freiheit, der Großvater zum Widerstandskämpfer, die Lehrerin zur tyrannischen Besatzerin.

Besonders eindrucksvoll ist die konsequente Aufwertung des Sinnlichen. Die Umwelt wird mit Gerüchen, Farben, Geräuschen und Texturen beschrieben: der Geschmack von Plantain, das Geräusch von „ploc“ beim Fall des Vogels Tito, das Licht auf dem Meer, die Wärme der Sonne auf der Haut. Diese Sensibilität bildet die Grundlage für eine poetische Welterfahrung, in der Bedeutungen nicht rational, sondern körperlich und emotional erschlossen werden. Die Bildwelt ist zugleich mythopoetisch aufgeladen: Al imaginiert sich als gallischer Krieger, sein Kampf gegen Schule und Vater als Fortsetzung eines historischen Widerstands. Diese Selbstmythisierung verweist auf die poetische Kraft kindlicher Fantasie, die der autoritären Welt der Erwachsenen eine eigene Erzählung entgegenstellt.

Tu te tais et tu souris à maman.
J’ai dit : regarde maman.
Mais souris !
Va te laver les mains.
Debout.
Allez, on se dépêche.
Debout maintenant !
Mange tes tartines, tu vas être en retard.
Va te brosser les dents.
N’oublie pas le cahier bleu.
Ces chaussures !
Je t’avais dit de les cirer.
Bonne journée.
Et sois bien sage !
En rang.
Dans le calme.
Vous pouvez vous asseoir.
Je te dérange ?
C’est l’heure de la sieste ?
Au travail.
Le passé composé du verbe manger ?
C’est à toi que je parle.
Tu diras à maman qu’elle doit te coucher plus tôt.
La nuit ça ne se fait pas à l’école.
Hé oh !
Je veux entendre les mouches voler.
Sortez en récréation.
Doucement.
Ne courez pas.
Ne criez pas.
On ne dépasse pas les marronniers.
J’ai dit quoi ?
On ne dépasse pas les marronniers.
Descends de cet arbre.
Ne bouge pas.
Je t’ai à l’œil.
Tu diras à maman que le peigne, ça existe.
On se tait, les nouveaux !
En rang.
Encore un zéro.
Tu les collectionnes ?
Parasite.
Tends les doigts.
À la niche.
À la niche, j’ai dit !

La litanie aurait pu continuer pendant mille ans. Alors nous l’avons fait.
Hooligans. Gangsters. Apaches !

C’est comme ça que les adultes nous ont traités. L’insulte s’est répandue partout, dans les bouches des vieux et sur nos fronts. Ils n’ont rien compris. Ce qui s’est passé, tous les enfants l’ont imaginé un jour, au moins une seconde.

Nous voulions seulement créer un monde où nous aurions pu habiter.

Maylis Adhémar, L’école est finie, Stock, 2025.

Du bist still und lächelst Mama an.
Ich habe gesagt: Schau Mama an.
Aber lächle!
Geh dir die Hände waschen.
Steh auf.
Los, beeil dich.
Steh jetzt auf!
Iss dein Brot, du kommst zu spät.
Geh dir die Zähne putzen.
Vergiss das blaue Heft nicht.
Die Schuhe!
Ich habe dir gesagt, du sollst sie putzen.
Schönen Tag.
Und benimm dich!
In Reih und Glied.
Ruhig.
Ihr könnt euch hinsetzen.
Störe ich?
Ist es Zeit für die Siesta?
An die Arbeit.
Die Vergangenheitsform von „essen“?
Ich rede mit dir.
Sag Mama, sie soll dich früher ins Bett bringen.
Nachts wird in der Schule nicht gearbeitet.
Hallo!
Ich möchte eine Stecknadel fallen hören.
Geht in die Pause.
Leise.
Nicht rennen.
Nicht schreien.
Nicht über die Kastanienbäume hinausgehen.
Was habe ich gesagt?
Nicht über die Kastanienbäume hinausgehen.
Komm runter von dem Baum.
Beweg dich nicht.
Ich habe dich im Blick.
Sag deiner Mutter, dass es Kämme gibt.
Still, ihr Neuen!
In Reih und Glied.
Schon wieder eine Null.
Sammelst du die etwa?
Parasit.
Streck die Finger aus.
In die Ecke.
In die Ecke, habe ich gesagt!

Die Litanei hätte noch tausend Jahre so weitergehen können. Also haben wir es getan.
Hooligans. Gangster. Apachen!

So haben uns die Erwachsenen behandelt. Die Beleidigungen verbreiteten sich überall, in den Mündern der Alten und auf unseren Stirnen. Sie haben nichts verstanden. Was passiert ist, haben alle Kinder sich einmal vorgestellt, zumindest für eine Sekunde.

Wir wollten nur eine Welt schaffen, in der wir leben konnten.

Die Zeitstruktur des Romans ist durch eine doppelte Bewegung geprägt: einerseits die Gegenwärtigkeit kindlicher Erfahrung, andererseits die Retrospektive der Erzählinstanz, die kindliches Erleben poetisch verdichtet. Der Roman beginnt mit einer litaneiartigen, fast atemlosen Abfolge von Imperativen – einer stilistischen Montage, die die Zwanghaftigkeit des Alltags sprachlich inszeniert. Daran schließt sich der lange Block der ersten Erzählung („Le livre d’Al – 1994“) an, welcher im Präsens erzählt wird und den Lesenden unmittelbar in den kindlichen Erfahrungsraum hineinzieht. Diese lineare Zeit wird jedoch immer wieder durchbrochen: durch imaginative Sprünge in mythische oder historische Zeiten (Römerzeit, Zweiter Weltkrieg), durch poetische Verdichtungen von Erinnerungen und durch den Wechsel von narrativer Zeit zur erzählten Zeit. Es entsteht ein poetischer Zeitschnitt, der der inneren Logik kindlicher Erfahrung folgt – der Erinnerung, der Imagination, dem Moment. Der Rückblick auf 1994 erhält in der „Seconde partie – Juillet 2003“ eine neue Rahmung. Die Perspektive verschiebt sich: die Kindheit wird zur Vergangenheit, die auf ihre Bedeutung hin befragt wird. Doch bleibt der poetische Ton bestehen – die Kindheit wird nicht „vergangen“, sondern als mythischer Ursprungsraum weitergetragen.

Die Zeitstruktur von L’école est finie folgt nicht der linearen Logik eines klassischen Entwicklungsromans, sondern bildet die spezifische Zeitwahrnehmung des kindlichen Erzählers ab – eine Zeitwahrnehmung, die stark subjektiv, episodisch und poetisch überformt ist. Der überwiegende Teil des Romans spielt im Jahr 1994 und wird im Präsens erzählt, was die Unmittelbarkeit des kindlichen Erlebens betont. Diese Gegenwartsperspektive erzeugt ein Gefühl von „Jetztzeit“, von dichter Wahrnehmung und emotionaler Nähe. Juillet 2003: Im zweiten Teil wird Al als junger Erwachsener gezeigt, der in die Vergangenheit zurückblickt. Diese Rückblende reflektiert das kindliche Erleben aus einer veränderten, distanzierteren Perspektive. Hier entsteht eine erste Form der Narration über die eigene Kindheit, die der poetischen Erinnerung gewidmet ist. Die Zeit der Kindheit wird im Roman nicht als Durchgangsstadium oder bloße Vorform des Erwachsenenlebens dargestellt, sondern als eigene, dichte Erfahrungszeit – eine „Zeitinsel“, die sich von der Chronologie des Alltagslebens ablöst. Szenen dehnen sich aus (z. B. das Versteckspiel, die Rituale im Fort), während andere wie durch Erinnerung gebrochen wirken. Diese Dehnung oder Verdichtung der Zeit folgt keiner äußeren Chronologie, sondern der inneren Logik kindlicher Aufmerksamkeit und Bedeutung. Die Schule, die Eltern, die Erwachsenen im Dorf leben in einer Welt der linearen Zeit: Zeitplan, Stundenplan, Arbeitszeit, Lebenslauf. Die Kinder dagegen leben in einer anderen Zeitordnung, einer „poetischen Gegenzeit“, in der Uhren, Kalender und Regeln keine Rolle spielen. Diese alternative Zeit wird besonders deutlich in Sätzen wie: „Je suis le maquisard du temps de papy.“ Al nimmt sich selbst aus der linearen Zeit heraus und schreibt sich in mythische, historische oder erfundene Zeitachsen ein. Viele Motive kehren im Roman wieder: die Nachmittagsflucht zum Fort, die Gespräche mit dem Großvater, das Schulritual. Diese Wiederholungen erzeugen eine zirkuläre Zeitstruktur, die den Alltag der Kindheit als rituell und symbolisch strukturiert zeigt. Es gibt dabei kein Vorankommen im klassischen Sinn, sondern ein Verweilen, eine Wiederkehr – ein Widerspruch zur Fortschrittslogik der Erwachsenenwelt. Im Rückblick von 2003 wird deutlich, dass das kindliche Erleben nicht vergangen ist, sondern im Erzählen gegenwärtig bleibt. Diese Narration aus der Erinnerung ist eine Form poetischer Rekonstruktion: Die Vergangenheit wird nicht bloß erinnert, sondern literarisch und emotional neu erschaffen. Damit wird die Zeitstruktur zur poetologischen Aussage: Kindheit ist nicht abgeschlossen, sondern bleibt als sinnstiftender Raum lebendig.

Al steht im Zentrum der Handlung, doch seine Kindheit ist keine solipsistische Erfahrung. Vielmehr ist sie durchzogen von Beziehungen – zur Familie, zur Freundin Adeline, zu Tieren, zu imaginären Figuren. Diese Konstellationen erzeugen ein dichtes Netz an Resonanzen, das die Kindheit als kollektives, relationales Phänomen beschreibt. – Adeline verkörpert die zarte, verletzliche und zugleich unbeugsame Kraft kindlicher Solidarität. Ihre Muttersituation – eine kranke Mutter, soziale Unsicherheit – konfrontiert sie mit der Härte der Realität, doch gerade darin entsteht ihre poetische Stärke. Ihre Tanzbewegungen sind Ausdruck eines poetischen Körperwissens jenseits der Sprache. – Papy Robert wiederum bildet das moralische Zentrum des Romans. Als ehemaliger Résistance-Kämpfer steht er für eine andere Erwachsenenwelt – eine, die zuhört, schützt, versteht. In seiner Figur artikuliert der Roman die Möglichkeit eines generationsübergreifenden poetischen Bündnisses. – Im Gegensatz dazu stehen die Eltern und die Lehrerin für eine Welt der Kontrolle, der Erwartungen und der normativen Bildung. Diese Figuren sind nicht karikatural überzeichnet, sondern ambivalent gezeichnet – sie sind nicht „böse“, sondern Teil eines Systems, das Kinder als unfertige Erwachsene behandelt. Papy Robert erscheint als einzige erwachsene Figur, die Zugang zur kindlichen Poetologie hat. In der Szene, in der Al sich im Garten versteckt, heißt es: „Ding ding. Le bruit de papy.“ (Kap. 42) Der Großvater erkennt nicht nur den Fluchtort, sondern auch die innere Not des Kindes. Sein Satz: „L’école, c’est l’instruction donc la liberté“ wird jedoch von Al durch ein poetisches Gegenprogramm beantwortet: „Mon oeil !“ Das bildungsidealistische Narrativ des Großvaters kollidiert mit dem unmittelbaren Erleben von Schule als Ort der Disziplin und Unterdrückung. Dennoch bleibt Robert eine ambivalente Figur: ein Vertreter einer anderen, humanistisch geprägten Erwachsenenwelt.

Der Erzähler von L’école est finie ist zugleich kindlich und reflektiert. Adhémar gelingt es meisterhaft, eine Stimme zu erzeugen, die aus der Perspektive eines Kindes spricht, ohne kindisch zu wirken. Der Text changiert zwischen unmittelbarer kindlicher Wahrnehmung und poetischer Reflexion. Die Satzrhythmen, die Wortwahl, die semantischen Wiederholungen – all dies erzeugt eine spezifische Sprachmelodie, die die poetische Wahrnehmung der Kindheit evoziert. Ein weiteres zentrales narratives Mittel ist die Ironie. Der kindliche Erzähler benennt die Absurditäten des Erwachsenenlebens – Arbeitswahn, Ordnungsliebe, Disziplinfetisch – mit lakonischer Schärfe. Gleichzeitig unterwandert der Text durch den Gestus der kindlichen Rebellion auch seine eigene Nostalgie: Die poetische Kraft der Kindheit wird nie naiv verklärt, sondern in ihren Ambivalenzen gezeigt – zwischen Schönheit, Schmerz, Widerstand und Verlust.

Ein bemerkenswerter Aspekt des Romans ist die Einbettung kindlicher Erfahrung in ein dokumentarisch-historisches Geflecht. Der Zweite Weltkrieg, der Algerienkrieg, der Genozid in Ruanda – all diese Ereignisse durchziehen die Erinnerung, das Erzählen, die symbolische Ordnung des Romans. Diese historischen Dimensionen werden nicht abstrakt vermittelt, sondern durch die Wahrnehmung des Kindes erfahrbar gemacht: in Geschichten des Großvaters, in Friedhofsinschriften, in politischen Radiomeldungen. Die Kindheit wird so zu einem Ort, an dem kollektives Gedächtnis aktiviert und verarbeitet wird – eine poetische Form politischer Bildung. Der Roman führt eindrücklich vor, wie das kindliche Spiel nicht losgelöst von der Welt verläuft, sondern tief mit ihren Gewalt-, Erinnerungs- und Machtstrukturen verbunden ist. Kindheit wird zur Matrix einer anderen Geschichtsschreibung – eine, die nicht von Siegern, sondern von Fragenden erzählt wird.

Vacances ! Vacances ! Mot merveilleux. Oh, mes chères grandes vacances ! On court enfin. On file jusque chez moi. Adeline vole sur les pavés. Elle sourit à ma mère, à papy, à mes sœurs. Heureuse. Aérienne. Elle fait la roue. Une reine.

Après le dîner, on regarde les informations. Depuis quelques jours, notre armée est au Rwanda, c’est l’opération Turquoise. On va arrêter la guerre là-bas. Des images de soldats blancs aux crânes rasés, en treillis, kalach à la main, s’impriment sur l’écran de la télévision et dans ma tête. Je les trouve très classe.

« Si je ne deviens pas marin, je serai combattant, je dis.

– Quand il y a des militaires, ce n’est jamais une bonne nouvelle, répond papy. La guerre, faut être fou pour la faire. »

Je le dévisage avec étonnement.

« Oui mais toi, tu l’as bien faite !

– Al m’a parlé de quand vous étiez dans le maquis à Valmanya, vous êtes un héros, poursuit Adeline, admiratrice.

– C’était ça ou devenir un salaud », lâche-t-il en éteignant la télé.

Papy aime bien raconter les guerres d’avant. Pour ça, il est comme un livre d’histoire, avec plein de rebondissements et de couleurs dedans. Mais dès qu’il voit des armes ou des gens qui s’emballent pour nos guerres d’aujourd’hui, ça l’agace.

« Vous savez qu’on a un héros, un vrai, au village, nous annonce-t-il. Le médecin à l’hôpital de Perpignan, monsieur Andréi, est parti au Rwanda avec les soldats de l’opération Turquoise pour sauver des gens. Lui, c’est un véritable héros. Soldat c’est juste un boulot. »

On est très impressionnés par cette information dont, curieusement, les journaux ne parlent pas. Monsieur Andréi est le héros de Cos, de toutes les Pyrénées-Orientales, voire de la France entière !

Papy se lève et nous demande de le suivre. On sort de chez nous pour grimper chez lui. Adeline et moi, on traîne dans le salon pendant qu’il fouille une caisse en métal. Le séjour de papy ressemble à un musée. Quasiment tout ce qui est affiché au mur est lié au passé ou à la mort. Il y a pêle-mêle les médailles militaires et scolaires, une photo de lui en soldat, une autre de mamie (je ne l’ai pas connue), une de ma mère et sa sœur à l’époque où elles étaient petite filles (ces petites filles n’existent plus).

Maylis Adhémar, L’école est finie, Stock, 2025.

Ferien! Ferien! Was für ein wunderbares Wort. Oh, meine lieben großen Ferien! Endlich können wir rennen. Wir laufen schnell nach Hause. Adeline fliegt über die Pflastersteine. Sie lächelt meiner Mutter, meinem Opa und meinen Schwestern zu. Glücklich. Leicht wie eine Feder. Sie macht einen Radschlag. Eine Königin.

Nach dem Abendessen schauen wir die Nachrichten. Seit einigen Tagen ist unsere Armee in Ruanda, es ist die Operation Turquoise. Wir werden dort den Krieg beenden. Bilder von weißen Soldaten mit rasierten Köpfen, in Kampfanzügen und mit Kalaschnikows in den Händen prägen sich auf den Fernsehbildschirm und in meinen Kopf ein. Ich finde sie sehr cool.

„Wenn ich nicht Seemann werde, werde ich Soldat“, sage ich.

„Wenn Soldaten im Spiel sind, ist das nie eine gute Nachricht“, antwortet Opa. „Krieg zu führen ist etwas für Verrückte.“

Ich schaue ihn erstaunt an.

„Ja, aber du hast es doch gut gemacht!“

„Al hat mir erzählt, dass du im Valmanya-Widerstand warst, du bist ein Held“, fährt Adeline bewundernd fort.

„Das war entweder das oder ein Mistkerl werden“, sagt er und schaltet den Fernseher aus.

Opa erzählt gerne von den Kriegen früher. Dabei ist er wie ein Geschichtsbuch, voller Wendungen und Farben. Aber sobald er Waffen sieht oder Leute, die sich für unsere heutigen Kriege begeistern, ärgert ihn das.

„Wisst ihr, dass wir einen Helden haben, einen echten, in unserem Dorf?“, verkündet er uns. “Der Arzt im Krankenhaus von Perpignan, Monsieur Andréi, ist mit den Soldaten der Operation Turquoise nach Ruanda gegangen, um Menschen zu retten. Er ist ein echter Held. Soldat ist nur ein Beruf.“

Wir sind sehr beeindruckt von dieser Information, über die seltsamerweise in den Zeitungen nichts zu lesen ist. Monsieur Andréi ist der Held von Cos, der gesamten Pyrénées-Orientales, ja sogar von ganz Frankreich!

Opa steht auf und bittet uns, ihm zu folgen. Wir verlassen unser Haus, um zu ihm hinaufzusteigen. Adeline und ich bleiben im Wohnzimmer, während er eine Metallkiste durchwühlt. Papys Wohnzimmer sieht aus wie ein Museum. Fast alles, was an den Wänden hängt, hat mit der Vergangenheit oder dem Tod zu tun. Es gibt ein Durcheinander von Militär- und Schulmedaillen, ein Foto von ihm als Soldat, ein weiteres von Oma (die ich nicht gekannt habe), eines von meiner Mutter und ihrer Schwester, als sie noch kleine Mädchen waren (diese kleinen Mädchen gibt es nicht mehr).

L’école est finie ist kein nostalgischer Rückblick, sondern ein poetisch-politisches Manifest für die Ernsthaftigkeit kindlicher Erfahrung. Adhémar zeigt, dass Kindheit nicht durch Überwindung, sondern durch Anerkennung und poetische Artikulation Bestand erhält. Der Text ist ein poetischer, politischer und literarisch vielschichtiger Roman über Kindheit, der weit über eine nostalgische Erinnerung hinausgeht. Maylis Adhémar entwirft eine Kindheitsutopie, die nicht rückwärtsgewandt ist, sondern subversiv und zukunftsweisend. Die Kindheit erscheint als Ort der Imagination, der Revolte, der Verletzlichkeit und der poetischen Autonomie. Die „Poetik der Kindheit“ bei Adhémar ist eine Poetik der Freiheit: Sie nimmt die kindliche Erfahrung ernst – in ihrer Tiefe, ihrer Schönheit, ihrer Trauer und ihrer Kraft zur Weltverwandlung. Der Roman zeigt, dass Kindheit nicht bloß eine Phase vor dem Ernst des Lebens ist, sondern selbst eine ernstzunehmende Welt mit eigenem Recht, eigener Sprache und eigener Ethik.

Die Kindheit bei Adhémar ist eine Gegenmacht: eine Kraft des Sehens, Fühlens, Erinnerns. Ihre Poetik liegt in der Sprache, im Spiel, in der Revolte – und in der Treue zu jenen, die nicht sprechen können: Tiere, Vögel, die Verletzten. Der Roman ist ein Aufruf zur poetischen Empathie: „On voulait seulement créer un monde où on aurait pu habiter.“

Anmerkungen
  1. « Les enfants sont comme les marins : où que se portent leurs yeux, partout c’est l’immense. » Christian Bobin, La Part manquante.>>>

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