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Unsicheres Abbildungsverzeichnis
Erzählt wird die Geschichte der jungen Französin Alice, die ein Auslandspraktikum in New York absolviert und dort in eine intensive und zunehmend toxische Beziehung mit dem Fotografiestudenten Nathan gerät. Das narrative Grundmotiv des Romans ist das Sichtbar-Werden und zugleich das Sich-Entziehen. Zwischen dem Wunsch, sichtbar zu werden, Teil einer urbanen Bohème zu sein, und der Angst, sich selbst zu verlieren, schwankt Alice in einer Welt aus Kunst, Oberfläche, Emotionalität und Bildlichkeit. Die Beziehung zu Nathan, aber auch zu dessen charismatischer Freundin Léonore, wird zur Projektionsfläche für Alices Unsicherheiten und Sehnsüchte.
Audrey Jarres Debütroman Les négatifs entwickelt eine eindringliche Erzählung über diese junge Frau in der Großstadt, die sich in Liebe, Sprache und Bildern zu verlieren droht. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive der Protagonistin Alice, die zwischen kultureller Projektion, intellektueller Boheme und emotionaler Abhängigkeit steht. Jarre verbindet dabei Themen der Migration, der Mädchen- und Frauenrolle in einer von Männerblicken dominierten Welt sowie ästhetische und existenzielle Fragen rund um Fotografie, Selbstinszenierung und künstlerische Aneignung.
Der fotografische Negativbegriff ist doppeldeutig: Er bezeichnet einerseits den fotografischen Träger, der das Licht invertiert, das Unsichtbare bewahrt, das Sichtbare verkehrt. Andererseits ist er semantisch mit Verlust, Dunkelheit und Abwesenheit assoziiert. Der Roman funktioniert selbst wie ein Negativ: Er zeigt nicht nur, was ist, sondern vor allem das, was fehlt. Beziehungen, Zugehörigkeit und Bedeutung werden in Jarres Text durch ihre Risse, durch Lücken und Spiegelbilder sichtbar. Die Ich-Erzählerin Alice ist dabei selbst ein negatives Bild: Sie entwickelt kein festes Selbst, sondern schreibt sich als Projektionsfläche. In Begegnungen mit Nathan, dem Fotografen, mit dessen Freundin Léonore, mit der Stadt New York selbst, spiegelt sie ihre Möglichkeiten und Unzulänglichkeiten. Sie ist weniger Subjekt als Figur, weniger Akteurin als Objekt in einem Spiel aus Blicken, Posen und Reaktionen. Diese Entsubjektivierung wird auch über das Motiv der Kamera, über das Licht, über Rahmung und Reproduktion inszeniert. Alice wird zur musealen Figur und zum Modell – zum „Negativ“ des Anderen.
C’est ce que tu avais fait l’année d’avant, étudier ton environnement, comme flottant au-dessus sans jamais en faire partie. Tu avais le détachement nécessaire des tyrans pour imposer ta vision du monde. Tu avais si longtemps été exposée à ton parfait contraire que tu en connaissais la forme par cœur, en négatif. Tu savais ce que tu ne voulais pas devenir.
Audrey Jarre, Les négatifs, Scribes, 2025.
Das hattest du im Jahr zuvor getan, deine Umgebung studiert, wie über ihr schwebend, ohne jemals ein Teil von ihr zu sein. Du hattest die Distanziertheit, die Tyrannen brauchen, um ihre Weltanschauung durchzusetzen. Du warst deinem perfekten Gegenteil so lange ausgesetzt gewesen, dass du seine Form in- und auswendig kanntest, als Negativform. Du wusstest, was du nicht werden wolltest.
Jarre zeichnet Alice als moderne Version der flâneuse, die sich durch die Straßen New Yorks, durch Cafés, Galerien und Wohnungen treiben lässt, ohne festen Anker. Doch sie ist mehr als Beobachterin: sie spielt eine Rolle, schreibt sich selbst neu. Die Identität, die sie lebt, ist keine authentische, sondern eine entworfene, eine flüchtige, immer präsentierte. Dies zeigt sich besonders in ihrem Verhältnis zu Sprache: Sie reflektiert mehrfach darüber, wie es ist, auf Englisch zu leben, mit „Untertiteln im Kopf“. Sie übersetzt nicht nur Worte, sondern sich selbst. Ihre Beziehung zu Nathan ist geprägt von der Sehnsucht, gesehen zu werden, Teil zu sein – und gleichzeitig von der Angst, nur Abziehbild zu sein. Alices Status als „Expatriate“ fungiert dabei als Katalysator für Selbstversuche, aber auch als Trugschluss: Die Freiheit, jemand anders zu sein, ist erkauft mit der Unsicherheit, niemand mehr zu sein. Der Roman beschreibt ein Subjekt, das sich weniger durch Herkunft und Charakter definiert als durch Oberfläche, Haltung und Resonanz in den Augen der anderen.
Après le verre, Léonore nous avait proposé de continuer la soirée chez elle. Tout le monde avait suivi. C’était un mardi soir et personne n’avait envie de rentrer dormir, à part moi.
Deux taxis nous avaient fait traverser Manhattan en moins de dix minutes dans une course-poursuite urbaine sur les avenues qui, si elles m’apparaissaient encore exotiques et excitantes, étaient pour eux banales. Mes yeux avaient capturé chaque détail, mais je m’étais retenue de prendre des photos. Personne ne regardait par la fenêtre, ils étaient tous sur leurs téléphones.
Audrey Jarre, Les négatifs, Scribes, 2025.
Nach dem Umtrunk hatte Leonore uns vorgeschlagen, den Abend bei ihr zu Hause fortzusetzen. Alle waren dem gefolgt. Es war Dienstagabend und außer mir hatte niemand Lust, nach Hause zu gehen und zu schlafen.
Zwei Taxis hatten uns in weniger als zehn Minuten durch Manhattan gefahren, in einer urbanen Verfolgungsjagd über die Avenues, die mir zwar noch exotisch und aufregend erschienen, für sie aber alltäglich waren. Meine Augen hatten jedes Detail eingefangen, aber ich hatte mich zurückgehalten, Fotos zu machen. Niemand schaute aus dem Fenster, alle waren mit ihren Handys beschäftigt.
Die Beziehung zwischen Alice und Nathan entfaltet sich im Modus der Verführung, der Aneignung und schließlich der Grenzüberschreitung. Alice wird „Muse“, aber auch Modell, Medium und Manipulationsfläche. Nathan fotografiert sie, inszeniert sie, sagt ihr, wie sie wirken soll. Er ist ein klassischer Vertreter des „male gaze“ à la Laura Mulvey, der nicht nur schaut, sondern produziert: Er macht Alice zu einem Bild, einem Objekt seines Begehrens und seines Kunstwillens. Die Kamera ist hier ein Instrument der Kontrolle und der Macht. Zugleich will Alice gesehen werden. Die Machtstruktur ist doppeldeutig, weil sie sich auch selbst in diese Rolle begibt – sie will „Teil seines Films“ sein, will gefallen und erkannt werden. Diese Dynamik macht den Roman besonders vielschichtig: Jarre verurteilt nicht einfach, sondern zeigt ein Netz aus Bedürfnissen, Erwartungen und Projektionen. Der Missbrauch, der sich in der Beziehung andeutet, ist subtil, emotional, er ist kaum greifbar und gerade deshalb so zerstörerisch. Die Selbstaufgabe Alices ist kein Bruch, sondern eine allmähliche Erosion.
New York erscheint im Roman nicht bloß als Ort, sondern als Ästhetik. Die Stadt ist Projektionsfläche und Mythos, sie ist Kulisse. Alice fühlt sich „in einem Film“, und sie möchte Teil dieses Films sein. Jarre beschreibt New York nicht topographisch, sondern atmosphärisch. Cafés, Galerien, Apartments, Diner – sie alle sind Teil eines urbanen Skripts, das bestimmte Lebensentwürfe ermöglicht und andere ausschließt. Die Stadt wird zur medialen Matrix, in der sich die Subjekte inszenieren und verlieren. Die Poetik der Stadt hängt dabei eng mit der Kamera zusammen: New York ist fotografierbar, ikonisch. Alice bewegt sich wie durch ein endloses Filmset: Wie wirken, wie erscheinen, wie gelesen werden? Die Stadt ist ein Gewebe von Zeichen, ein textueller und visueller Code, den Alice zu entschlüsseln versucht, ohne ihn je ganz zu verstehen.
J’ai répondu à Ben que oui, il avait raison, j’écrivais.
Il n’a pas répondu tout de suite, comme s’il pesait ses mots pour trouver la combinaison la plus adéquate entre détachement et intérêt pour mon art en gestation.
J’imaginais ce qui devait se passer dans sa petite tête blonde. L’écriture, contrairement à la photographie, était à la portée de tous les possesseurs de papier et crayon. Elle ne se masquait pas derrière une éducation technique, il n’y avait aucun prérequis tangible avant de croire que ce qu’on avait fait était bon. On pouvait donc y faire n’importe quoi, et c’était probablement mon cas.
Nathan mangeait sans presque nous regarder, comme si tous les deux s’étaient entendus à l’avance sur le script de ce film muet. C’était peut-être un test, une validation sobre de ma présence dans leur monde par un tiers de confiance. Si c’était vrai, j’appréciais moyennement cet examen d’entrée dès le petit-déjeuner. La gueule de bois me rendait molle, j’avais l’impression que mon corps, sous l’afflux de questions, se recroquevillait sur lui-même.
Audrey Jarre, Les négatifs, Scribes, 2025.
Ich antwortete Ben, ja, er habe Recht, ich schreibe.
Er antwortete nicht sofort, als würde er seine Worte abwägen, um die beste Kombination aus Distanziertheit und Interesse an meiner im Entstehen begriffenen Kunst zu finden.
Ich stellte mir vor, was in seinem kleinen blonden Kopf vor sich gehen musste. Das Schreiben war, anders als die Fotografie, für jeden zugänglich, der Papier und Bleistift besaß. Es versteckte sich nicht hinter einer technischen Ausbildung, es gab keine greifbaren Voraussetzungen, bevor man glaubte, dass das, was man getan hatte, gut war. Man konnte also alles tun, was man wollte, und das war wahrscheinlich auch bei mir der Fall.
Nathan aß, fast ohne uns anzusehen, als hätten sich die beiden im Voraus auf das Drehbuch für diesen Stummfilm geeinigt. Vielleicht war es ein Test, eine nüchterne Bestätigung meiner Anwesenheit in ihrer Welt durch einen vertrauenswürdigen Dritten. Wenn das stimmte, gefiel mir diese Aufnahmeprüfung schon beim Frühstück nur mäßig. Der Kater machte mich schlapp, ich hatte das Gefühl, mein Körper würde sich unter der Flut von Fragen in sich zusammenrollen.
Der Roman verzichtet auf eine klassische Dramaturgie. Es gibt keine Zielgerichtetheit, keine kathartische Entwicklung, sondern eine progressive Auflösung. Die Zeit verläuft in Episoden, in Flashbacks. Diese Zeitstruktur reflektiert den inneren Zustand Alices: Orientierungslosigkeit, die zu Erschöpfung und Dissoziation führt. Wie in einem Film aus Einzelbildern verlieren die Ereignisse ihre Ursächlichkeit, sie sind einfach da. Die episodische Struktur macht Les négatifs zu einem modernen Großstadtroman, in dem die Erfahrungen nicht linear, sondern simultan und gebrochen verlaufen. Der Schluss ist kein Abschluss, sondern ein letzter Blick: wie bei einem Film, der mit einer unscharfen, offenen Szene endet.
Aus der Dunkelkammer
Audrey Jarres Debütroman Les négatifs ist nicht nur ein Großstadtroman und eine Erkundung weiblicher Subjektivität, sondern zugleich ein Beitrag zur gegenwärtigen Literatur über das Sehen, Gesehenwerden und die Rolle der Bilder. Jarre unterteilt ihren Roman in drei klar markierte Teile. Diese Struktur ist mehr als ein Gliederungsinstrument, sie bildet die narrative und poetische Achse des Romans und greift zugleich auf das technische Vokabular der analogen Fotografie zurück. Diese Dreiteilung lässt sich als ein symbolisches und poetologisches Entwicklungsverfahren lesen, als eine literarische Umsetzung fotografischer Prozesse der Aufnahme, der Verdichtung im Negativ und der Entwicklung im Abzug.
Die fotografische Metaphorik durchzieht den gesamten Roman. Bereits im Motto – einem Zitat aus Roland Barthes‘ La Chambre claire über die Fotografie als „micro-expérience de la mort“ – deutet Jarre an, dass ihr Text in engem Dialog mit der Bildtheorie steht. Die Fotografie wird nicht nur thematisch verhandelt, sondern strukturell implementiert. Die Fotografie ist nicht nur Medium der Repräsentation, sondern ein existenzielles Ereignis. Sie fixiert, objektiviert, verwandelt Leben in Stillstand, in Bild. Das Fotografiertwerden ist für Alice zugleich Bestätigung und Auslöschung: Sie wird gesehen, aber als etwas anderes als sie selbst.
Jarre integriert dabei auch einen Diskurs der Dokumentation, der Frage nach der Wahrheit des Bildes: Was zeigt ein Foto? Was erzählt es? Welche Geschichte konstruiert es? In der Beziehung zwischen Alice und Nathan wird das deutlich: Die Fotos, die er macht, sind angeblich „echt“, „authentisch“, aber sie entstehen unter Kontrolle, durch Inszenierung. Jarres Roman reflektiert fotografietheoretische Positionen in denen die Gewalt der Kamera, ihre historische wie politische Macht, thematisiert wird.
« Quand on regarde la photo finale, il est parfois difficile de reconnaître ce que l’on a vu dans le négatif. La version que l’on a cru saisir dans l’objectif est plus loin encore, elle a valeur de chimère. En développant, on avoue presque toujours s’être trompé.
« C’est la photo finale qui a raison, on ne peut lui opposer d’argumentation féroce : c’est elle qui décide.
« Les formes elles-mêmes, une fois transformées par l’apparition de leurs véritables couleurs, remplies par des bleus sombres ou des indigos terrestres, débarrassées de leurs cyans éthérés, ne se ressemblent plus. »
Le prof avait marqué une pause pour se racler la gorge, et le bruit guttural avait heurté ton tympan comme un acouphène.
« Les erreurs d’interprétation viennent de multiples sources. Il suffit que le négatif ait été un peu abîmé pour que le résultat ne soit pas exactement celui qui était prévu. Mais la faute peut seulement être imputée à l’imagination.
Après avoir pris la photo, sans être au contact de sa réalité, on a pu l’imaginer telle qu’on voudrait qu’elle soit. On est allé au-delà de sa réalité. Ainsi, le photographe débutant sera souvent déçu. Le négatif, c’est le photographe qui dit “je” et “tu”, qui objective sans avoir la réalité entière sous les yeux. Développer, c’est devenir humble par rapport à l’ensemble de ses perceptions. »
Tu avais soupiré sans retenue. Tu voulais être visible, montrer ton agacement. Tes épaules se levaient et s’abaissaient en cadence, comme une chorégraphie de danse contemporaine.
Audrey Jarre, Les négatifs, Scribes, 2025.
„Wenn man das endgültige Foto betrachtet, ist es manchmal schwierig zu erkennen, was man auf dem Negativ gesehen hat. Die Version, die man durch das Objektiv zu erfassen glaubte, ist noch weiter entfernt, sie hat den Wert einer Chimäre. Beim Entwickeln muss man fast immer zugeben, dass man sich geirrt hat.
„Es ist das endgültige Foto, das Recht hat, man kann ihm keine wilden Argumente entgegensetzen: Es ist die Entscheidung.
„Die Formen selbst, sobald sie durch das Erscheinen ihrer wahren Farben verwandelt, mit dunklen Blautönen oder irdischem Indigo gefüllt und von ihren ätherischen Cyanen befreit sind, ähneln einander nicht mehr.“
Der Lehrer hatte eine Pause gemacht, um sich zu räuspern, und das kehlige Geräusch war wie ein Tinnitus auf dein Trommelfell geprallt.
„Fehlinterpretationen kommen aus vielen Quellen. Es reicht schon, dass das Negativ ein wenig beschädigt wurde, damit das Ergebnis nicht genau so ausfällt, wie es beabsichtigt war. Der Fehler kann aber nur der Fantasie zugeschrieben werden.
Nachdem man das Foto aufgenommen hatte, ohne mit seiner Realität in Berührung zu kommen, konnte man es sich so vorstellen, wie man es gerne hätte. Man ist über ihre Realität hinausgegangen. Daher wird der Anfängerfotograf oft enttäuscht sein. Das Negativ ist der Fotograf, der „ich“ und „du“ sagt, der objektiviert, ohne die gesamte Realität vor Augen zu haben. Entwickeln heißt, demütig zu werden in Bezug auf die Gesamtheit seiner Wahrnehmungen.“
Du hattest hemmungslos geseufzt. Du wolltest sichtbar sein, deine Verärgerung zeigen. Deine Schultern hoben und senkten sich im Takt, wie bei einer Choreografie für zeitgenössischen Tanz.
Auch narrativ übernimmt der Roman fotografische Verfahren: Momentaufnahmen und unscharfe Bildränder und Auslassungen, Wiederholungen. Jarre schreibt, als würde sie durch ein Objektiv blicken: selektiv und fokussiert, ästhetisiert. Die Sprache folgt dieser Logik: Sie ist präzise, detailverliebt, dabei lakonisch und analytisch zugleich. In Les négatifs ist die Literatur eine Dunkelkammer: Sie speichert, belichtet und entwickelt. Die Poetik des Romans folgt in den drei Teilen dem Dreischritt der analogen Fotografie:
1 Alice – die Aufnahme, das Posieren, das Momenthafte
2 Négatifs – das Negativ, die Umkehrung, die Dunkelheit, die Unsichtbarkeit
3 Tirages – der Abzug, das Sichtbarwerden, die distanzierte Betrachtung
Diese Struktur ist allerdings nicht linear, sondern zyklisch – brechend, doppelt belichtet. Die Erzählung entsteht wie ein Foto: aus Licht und Schatten, aus Perspektive und Auslassung, aus Chemie und Mechanik.
Der erste Teil mit dem programmatischen Titel „Alice“ führt in die subjektive Welt der Erzählerin ein. Er ist geprägt von einer Sprache der Selbstbeobachtung, der Ironie, auch der Faszination. Alice beschreibt ihren Alltag in New York, ihre Liebe zu Nathan und ihre Begegnung mit Léonore – aber vor allem beschreibt sie sich selbst beim Erzählen. Diese Selbstbeschreibung folgt einer Ästhetik des „Sich-Zeigens“. Alice lebt in ständiger Reflexion über ihr Aussehen, über ihre Wirkung und Position in der urbanen Szenerie. Die Stadt wird zur Bühne, das eigene Ich zur Inszenierung. Jarre beschreibt dies mit einer Mischung aus Ironie und Melancholie: Alice ist sich ihrer Rolle bewusst, sie kennt die Codes, aber sie leidet unter deren Begrenzung. In fotografischen Begriffen ist dieser Teil die Aufnahme: das Posieren und das Festhalten eines Moments. Es geht um Komposition, es geht um Licht und um Sichtbarkeit. Alice sucht das richtige Licht, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Doch bereits hier deutet sich an, dass die Sichtbarkeit nicht Befreiung, sondern neue Begrenzung bedeutet. Die Kamera, die Alice begehrt, weil sie gesehen werden will, wird auch zum Instrument der Objektivierung.
Im zweiten Teil „Négatifs“ verschiebt sich die Poetik radikal. Die Sprache wird kühler, fragmentierter, weniger selbstironisch, dafür umso analytischer. Alice erzählt nun nicht mehr aus der Perspektive einer, die Teil eines Spiels ist, sondern als jemand, die langsam erkennt, dass sie selbst das Spielfeld ist. Sie ist Objekt in Nathans Bildern, gewissermaßen Muse wider Willen. Der Titel „Négatifs“ verweist auf den fotografischen Träger, der das Bild noch nicht sichtbar macht. Das Negativ ist keine Wahrheit, sondern eine Umkehrung: Licht wird zu Schatten, Hell zu Dunkel. Diese Umkehrung zeigt sich in Alices Wahrnehmung ihrer Beziehung zu Nathan: Was als Liebe begann, erscheint nun als Aneignung; was als Sichtbarkeit empfunden wurde, als Unsichtbarmachung. Die Negativ-Phase ist auch eine Phase der Verdichtung. Die Erzählung wird dichter und psychologisch komplexer. Jarre nutzt hier die Fotografie als Denkfigur: Alice wird zum Abbild und zur Spur. Die Kamera nimmt, aber gibt nichts zurück. Diese Phase ist die eingangs zitierte „micro-expérience de la mort“ (Barthes): das Ausgeliefertsein an den Blick, das Wissen um die eigene Abbildbarkeit. Es ist der Moment, in dem das Subjekt zur reinen Form wird.
Der dritte Teil „Tirages“ bringt eine neue Bewegung ins Spiel: Die Bilder werden „entwickelt“. Tirage, der Abzug, bedeutet in der klassischen Fotografie die sichtbare Manifestation des Bildes auf Papier. Es ist der Schritt vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, vom latenten Bild zur konkreten Form. Auch Alice beginnt sich zu entwickeln – nicht in dem Sinne, dass sie sich erlöst oder befreit, sondern dass sie beginnt, mit Abstand zu reflektieren. Der Ton wird klarer, reduzierter. Sie entzieht sich Nathans Blick, ohne ihn konfrontativ zu brechen. Sie erkennt, dass ihre Bilder nicht „sie selbst“ zeigen, sondern eine Version, die andere benötigen. Und sie beginnt, eine eigene Sprache für ihre Erfahrungen zu finden. Der Prozess des „tirage“ ist in Jarres Erzählung aber kein Abschluss, sondern ein erster Schritt zur Eigenzeitlichkeit. Die Bilder, die entstehen, sind nicht „wahrer“ als das Negativ, aber sie sind lesbar. Sie tragen die Spuren der Entwicklung in sich: die Belichtung, die Fehler und Kratzer. Alice wird nicht zur Heldin, aber sie wird zur Erzählerin.
Fotografische Praxis und intermediale Struktur
Les membres du groupe prenaient des photos, toujours à l’argentique, un nombre minimal de prises. Se focaliser sur l’essentiel. C’est toi qui développais tous les négatifs. Tu leur interdisais de le faire. Toi seule savais prendre les précautions nécessaires, tant pour la qualité de l’image que pour sa confidentialité. Ils glissaient les enveloppes sous ta porte. Tu aimais découvrir les clichés, seule dans la chambre noire, qui se dévoilaient peu à peu à toi.
Audrey Jarre, Les négatifs, Scribes, 2025.
Die Mitglieder der Gruppe machten Fotos, immer mit Film, eine minimale Anzahl von Aufnahmen. Sich auf das Wesentliche konzentrieren. Du warst derjenige, der alle Negative entwickelte. Du hast ihnen verboten, das zu tun. Nur du wusstest, wie man die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen trifft, sowohl für die Qualität des Bildes als auch für die Vertraulichkeit. Sie schoben die Umschläge unter deiner Tür durch. Du hast es geliebt, die Bilder allein in der Dunkelkammer zu entdecken, die sich dir nach und nach enthüllten.
Die poetische Gestaltung von Les négatifs beruht auf einem konsequenten Überschreiten medialer Grenzen. Jarre nutzt nicht nur fotografisches Vokabular, sondern strukturiert ihren Text nach Prinzipien der Bildproduktion. Das literarische Schreiben wird selbst zur „Kamera“, zum Mittel der Auswahl, Rahmung, Belichtung. Die Literatur ahmt die Ästhetik der Fotografie nicht nur nach, sondern integriert sie als epistemisches Modell, in Fokussierung, Unschärfe, Reihung oder Lichtkomposition:
- Szenen sind wie fotografische Ausschnitte komponiert. Alices Wahrnehmung selektiert, sie beobachtet Details mit fast mikroskopischer Genauigkeit. Dies erzeugt einen Eindruck von Intimität, aber auch von Isolation, als wäre alles durch ein Objektiv getrennt.
- Wie in der Tiefenunschärfe fotografischer Bilder bleibt vieles im Hintergrund verschwommen. Jarre erzwingt eine Lesebewegung, die auf Andeutungen angewiesen ist und Leerstellen als narrative Spannungsträger begreift.
- Wiederkehrende Motive (Fenster, Spiegel, Lichter, Kameras) erzeugen eine Serialität, die an fotografische Bildreihen erinnert. Dies ermöglicht nicht nur intermediales Referenzspiel, sondern strukturiert auch die Wiederholung als poetisches Mittel.
- Jarres Sprache operiert mit Hell-Dunkel-Metaphern, deren semantische Dimension über rein visuelle Effekte hinausweist: Sie steht für psychische Zustände, Erkenntnisprozesse, Machtverhältnisse.
Diese literarisch-visuelle Struktur rechtfertigt den Begriff der Intermedialität im emphatischen Sinne: Jarres Roman geht über einfache Fotoreferenzen hinaus und schafft ein mediales Dazwischen, in dem Text und Bild ineinandergreifen. Der Text ist keine bloße Erzählung über Fotografie, sondern eine sprachlich organisierte Reinszenierung ihrer Mechanismen.
C’est pour ça que parler de photographie avec Léonore, au départ, c’était un peu compliqué. Pour photographier quelque chose, il faut le voir, y avoir accès. Et nous évoluions dans deux mondes d’une différence radicale. Quand nous échangions nos premiers clichés, il semblait que ces derniers montraient deux endroits différents. Un œil neutre conviendrait qu’il s’agit de deux visions d’un seul lieu physique et de son inframonde. Il retrouverait des détails. Il dirait, pas franchement certain, mais pas non plus hostile à l’idée : « Oui, je crois que c’est le même endroit qu’ont photographié ces deux personnes. »
L’univers de nos photos était circonscrit au campus de March College, aux routes qui y menaient et puis aux villages environnants où certains étudiants comme moi vivaient off campus, par vanité excentrique ou manque de thune. C’était simple, la même consigne donnait lieu à des séries de photos sans commune mesure, comme si on nous avait demandé deux rendus différents. Et il ne s’agissait pas simplement de la « subjectivité du photographe », merci, je ne suis pas non plus né de la dernière pluie. Moi aussi, j’ai suivi Photography 101.
Audrey Jarre, Les négatifs, Scribes, 2025.
Deshalb war es anfangs etwas kompliziert, mit Leonore über Fotografie zu sprechen. Um etwas zu fotografieren, muss man es sehen, Zugang dazu haben. Und wir bewegten uns in zwei Welten, die sich radikal voneinander unterschieden. Als wir unsere ersten Bilder austauschten, schien es, als würden sie zwei verschiedene Orte zeigen. Ein neutrales Auge würde zustimmen, dass es sich um zwei Ansichten eines einzigen physischen Ortes und seiner Unterwelt handelt. Er würde Details wiederfinden. Er würde, nicht ganz sicher, aber auch nicht feindlich gesinnt, sagen: „Ja, ich glaube, es ist derselbe Ort, den diese beiden Personen fotografiert haben.“
Die Welt unserer Fotos war auf den Campus des March College, die Straßen, die dorthin führten, und die umliegenden Dörfer beschränkt, in denen einige Studenten wie ich aus exzentrischer Eitelkeit oder Geldmangel jenseits des Campus lebten. Es war ganz einfach: Die gleiche Aufgabenstellung führte zu unvergleichlichen Fotoserien, als hätte man uns um zwei verschiedene rendungen gebeten. Und es handelte sich nicht einfach um die „Subjektivität des Fotografen“, danke, ich bin auch nicht von gestern. Auch ich habe Photography 101 absolviert.
Audrey Jarre verankert Les négatifs in einer Tradition bild- und medientheoretischen Denkens. Das prominenteste intertextuelle Echo ist sicher Roland Barthes‘ La Chambre claire, das im Roman gleich mehrfach zitiert und durchdekliniert wird. Barthes‘ Idee vom „punctum“ – dem Bilddetail, das den Betrachter affektiv trifft – findet in Alices Wahrnehmung fotografischer Momente ein ästhetisches Gegenstück. Auch Susan Sontags Kritik am „fotografischen Zugriff“ wird deutlich: Die Kamera als Mittel der Distanzierung, der Aneignung und der Machtausübung ist ein zentrales Thema in Alices Beziehung zu Nathan. Ihre emotionale Abhängigkeit korrespondiert mit ihrer medialen Repräsentation: Als Motiv von Nathans Bildern ist sie ent-subjektiviert, gebannt und reduziert. Darüber hinaus lassen sich Anklänge an neuere Theoretikerinnen wie Ariella Azoulay finden, die in ihren Schriften zur fotografischen Ethik den „photographic event“ als soziales Gefüge beschreibt, in dem Betrachter, Fotograf und Sujet miteinander verbunden sind. Jarres Roman scheint diesen Gedanken aufzunehmen: Alice ist nicht nur Motiv, sondern auch Betrachterin und Erzählerin. Der Text spielt mit der multiplen Positionierung im Bildprozess.
Ein weiterer intermedialer Bezug besteht zur Filmästhetik: Mehrfach bezeichnet Alice ihr Leben als „Film“, beschreibt sich als „Rolle“ und spricht von „Szenen“. Diese Sprache der Cinematographie verleiht dem Text eine doppelte Medialität: Neben der Fotografie ist auch das bewegte Bild ein strukturierendes Prinzip. Der Roman wird zur Sequenz aus Einzelbildern, zur geschnittenen Erinnerung. So entsteht ein dynamisches Netzwerk aus Literatur, Fotografie, Film und Theorie, das Jarres Erzählung nicht nur in der Gegenwart verortet, sondern zugleich zur Reflexion über die Bedingungen heutiger Subjektwahrnehmung macht. Les négatifs ist damit ein genuin intermediales Werk, das zeigt, wie sehr unser Selbstbild von Bildern abhängt.
Bildstrecke einer Selbstwerdung
Après avoir passé trente minutes avec des inconnus à créer des simulacres de hasard, on en savait forcément un peu plus sur eux. Sur cette base, on garderait le meilleur triptyque : la rencontre et le soupçon, la filature, puis l’adieu. Ça devait raconter une histoire a posteriori, même si elle était différente de la réalité. On peut raconter ce que l’on veut à partir des images. Jusque-là, je suivais. Les mots, c’est un peu pareil.
Audrey Jarre, Les négatifs, Scribes, 2025.
Nachdem man dreißig Minuten mit Fremden verbracht hatte, um Scheinzufälle zu erzeugen, wusste man zwangsläufig ein wenig mehr über sie. Auf dieser Grundlage würde man das beste Triptychon beibehalten: die Begegnung und der Verdacht, die Beschattung und dann der Abschied. Es sollte eine Geschichte im Nachhinein erzählen, auch wenn sie sich von der Realität unterschied. Anhand der Bilder kann man erzählen, was man will. Bis dahin folgte ich. Mit Worten ist es ähnlich.
Les négatifs ist nicht nur ein Roman über eine Beziehung oder ein Auslandsjahr, sondern eine radikale Reflexion über das Subjekt im Zeitalter der Bilder. Die Dreiteilung in Alice, Négatifs, Tirages ist nicht bloß strukturell, sondern poetologisch: Sie folgt der Bewegung vom Posieren über das Verschwinden bis zur Entwicklung eines Blicks auf sich selbst. Jarre inszeniert literarisches Schreiben als Gegenbild zur fotografischen Fixierung. Ihr Roman ist eine Art fotografisches Album, aber eines mit Notizen, Zweifeln, leeren Seiten. Es ist ein Werk über das Sichtbarwerden in einer Welt, die von Blicken beherrscht wird, und über die Möglichkeit, sich diesem Blick zu entziehen – nicht durch Unsichtbarkeit, sondern durch das Schreiben selbst. So gelesen ist Les négatifs eine bildtheoretisch und intermedial informierte Studie über die Spannung zwischen Identität und Repräsentation, über das Negativ als Form der Wahrheit und über die Literatur als Ort der Entwicklung: nicht im Sinne von Fortschritt, sondern im Sinne des belichteten Papiers, das in der Flüssigkeit schwimmt, sich langsam zeigt und nie ganz fertig ist.
Audrey Jarres Les négatifs ist ein intimer, kluger, sprachlich sensibler Text über junge Menschen, die in einer Welt der Bilder nach sich selbst suchen. Der Roman zeigt eine Generation, die sich über Sichtbarkeit definiert und doch stets vom eigenen Bild entfremdet bleibt. Jarres Erzählen ist poetisch wie auch politisch: Es fragt nach Macht, nach dem Blick und nach der Rolle der Kunst in einer Welt, in der alles ästhetisierbar scheint. Les négatifs ist nicht nur ein Roman über eine Beziehung, sondern über eine Kultur, die permanent Bilder erzeugt und damit ihre Subjekte aufzulösen droht.