Anthropologie der Angst: Éric Chauvier

Die ersten Szenen entwerfen eine archaische Welt: frühe Hominiden, die sich aufrichten, mit Raubtieren kämpfen, erste Werkzeuge benutzen. Chauvier beginnt seine Chronik nicht mit heroischer Ursprungsmythologie, sondern mit dem prekären Moment der Aufrichtung – einer evolutionären Zäsur, die das Sehen und das Gesehenwerden verändert. Der aufrechte Gang wird nicht als Triumph dargestellt, sondern als Krise. Laut Chauvier machte die Entwicklung zum aufrechten Gang auf den Hintergliedmaßen die frühen Vertreter der Art in horizontaler Position weniger verwundbar und ließ sie imposanter erscheinen, wodurch sie bestimmte Raubtiere einschüchterten und ein Gefühl von Stabilität, vielleicht sogar Sicherheit, empfanden. Diese Stabilität war jedoch ambivalent, da sie, sich aufrichtend, zur Beute von Kreaturen wurden, die sie zuvor nicht bedroht hatten, und da sie nun ihre Artgenossen auf vielfältige, gewaltsame Weise sterben sahen. Diese Bipedie wird als traumatisch beschrieben, vieles wurde begehrenswert und todbringend zugleich, und diese Widersprüche resultierten in beunruhigenden Affekten. Aus dieser neuen Perspektive entwickelt sich ein Bewusstsein, das bald mit der Erfahrung des Sterbens konfrontiert ist. Die Sterblichkeit erscheint nicht als Erkenntnis, sondern als diffuser Schatten, der sich in der Wahrnehmung der toten Körper, der Leere nach dem Verschwinden eines anderen, der Stille nach dem Schrei niederschlägt.

Durant des millénaires, ils guettent des animaux qu’ils ne peuvent pas aborder. Ils s’enhardissent, finissent par les attaquer au moyen d’éclats de pierres pointus, améliorent leur force, leur précision, parviennent très rarement à en assommer. C’est alors une joie de se repaître de leur chair crue. Ils apprennent la chasse, mais sans oublier leur condition de proie. Comment le pourraient-ils ? La bipédie est traumatique. Tout devient désirable et mortifère. Ces contradictions naissent et meurent en affects troublants. Lumière de l’antilope. Chair de lune. Subsiste la matière brute de l’effroi, lorsqu’ils trépassent dans un rictus qui ne signifie rien aux autres. Périr est une observation mutique, une pure extériorité, un rêve qui ne leur appartient pas. Leur disparition n’est pas plus notable que la course du rhinocéros fonceur, que l’épanchement de leur soif, qu’un arbre abattu par la foudre, que le chatouillement d’un insecte sur un gros orteil. Périr est une observation mutique, une pure extériorité, un rêve qui ne leur appartient pas. Leur disparition n’est pas plus notable que la course du rhinocéros fonceur, que l’épanchement de leur soif, qu’un arbre abattu par la foudre, que le chatouillement d’un insecte sur un gros orteil.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Seit Jahrtausenden lauern sie auf Tiere, denen sie nicht näher kommen können. Sie werden mutiger, greifen sie schließlich mit spitzen Steinen an, verbessern ihre Kraft und ihre Treffsicherheit und schaffen es nur sehr selten, sie zu töten. Dann ist es eine Freude, sich an ihrem rohen Fleisch zu laben. Sie lernen die Jagd, vergessen dabei aber nicht, dass sie selbst Beute sind. Wie könnten sie auch? Der aufrechten Gang ist traumatisch. Alles wird begehrenswert und tödlich. Diese Widersprüche entstehen und vergehen in verstörenden Emotionen. Das Licht der Antilope. Das Fleisch des Mondes. Was bleibt, ist die rohe Materie des Schreckens, wenn sie mit einem Grinsen sterben, das für andere keine Bedeutung hat. Zu sterben ist eine stumme Beobachtung, eine reine Äußerlichkeit, ein Traum, der ihnen nicht gehört. Ihr Verschwinden ist nicht bemerkenswerter als der Lauf eines wilden Nashorns, als das Ausgießen ihres Durstes, als ein vom Blitz getroffener Baum, als das Kitzeln eines Insekts auf einem großen Zeh. Vergehen ist eine stumme Beobachtung, eine reine Äußerlichkeit, ein Traum, der ihnen nicht gehört. Ihr Verschwinden ist nicht auffälliger als der Lauf eines wilden Nashorns, als das Ausgießen ihres Durstes, als ein vom Blitz getroffener Baum, als das Kitzeln eines Insekts auf einem großen Zeh.

Zunächst befindet sich die Kreatur noch in einem Zustand der Angstlosigkeit oder genauer gesagt, in einer Zeit, in der die Angst vor dem Tod in ihrer späteren, bewussten Form noch nicht existierte. Die Sterblichkeit war vorhanden – Artgenossen starben brutal –, aber sie war eine „stumme Beobachtung“ („observation mutique“), eine „reine Äußerlichkeit“ („pure extériorité“). Der Tod war ein Vorgang, der ihnen nicht „gehörte“, etwas Äußeres, Unpersönliches, vergleichbar mit der Bewegung eines Tieres oder einem Wetterereignis. Es gab kein Konzept des Sterbens, keine Abstraktion, die es ihnen ermöglicht hätte, den Tod auf sich selbst zu beziehen oder eine zukünftige Endlichkeit zu projizieren. Dies ist der Ausgangspunkt der Erzählung, eine „Ära absoluter Gnade“ im Hinblick auf die Todesangst, bevor Bewusstsein und Angst die Entwicklung der Menschheit bestimmen.

Sprache entsteht bei Chauvier nicht durch Bewusstsein oder Erkenntnis, sondern durch körperliches Unbehagen. Die Läuse, die das Fell der Hominiden befielen, erzeugten Reaktionen, aus denen sich erste Kommunikationsformen entwickeln. Diese Verschiebung der sprachlichen Genesis zeigt, dass kulturelle Praktiken nicht aus einem abstrakten Fortschrittsimpuls hervorgehen, sondern aus Leiden, Trieb, Störung. Sprache wächst aus der Notwendigkeit, nicht aus dem Bedürfnis nach Wahrheit. Daraus resultiert eine anthropologische These: Der Mensch spricht, weil er leidet. Was er artikuliert, ist keine Idee, sondern eine Reaktion. Chauvier macht diese These nicht argumentativ geltend, sondern gestaltet sie szenisch und sprachlich durch dichte Bilder, abschnittweise Wiederholungen und suggestive Kadenzen.

Die Wissensbezüge des Buches sind tief in Chauviers anthropologischem Hintergrund verwurzelt, werden aber stets literarisch transformiert. Das gesamte Narrativ wird von einer zentralen, anthropologischen These getragen: Der Motor der Geschichte der Menschheit ist die Todesangst. Die Zivilisation ist für Chauvier ein stets gescheiterter, immer wieder neu begonnener Versuch, die Todesangst zu beschwören oder zu bannen. Diese Grundprämisse durchzieht das Buch wie ein Leitmotiv und liefert den Deutungsrahmen für die gesamte menschliche Entwicklung.

Die Angst entsteht in der Entwicklung der Spezies erst mit der Entwicklung von Bewusstsein und der Erkenntnis von Verlust und Sterblichkeit, nicht schon bei den frühen existenziellen Bedrohungen. Die Geschichte des Menschen ist geprägt von endlosen Versuchen, diese Angst, die aus dem Inneren und den Umständen aufsteigt, durch Kulturtechniken und -praktiken zu bewältigen oder zu verdrängen. Trotz aller Bemühungen bleibt die Angst, insbesondere die vor dem Tod, eine grundlegende und unüberwindbare Kraft, die letztlich zum Scheitern der auf Rationalität und Diversion basierenden Zivilisation führt und auch im digital simulierten „Paradies“ wieder auftaucht.

Éric Chauviers Text stellt dar, wie diese Angst, insbesondere die Todesangst und die Furcht vor dem Nichts, zu einem zentralen, antreibenden Moment der menschlichen Entwicklung wird. Die gesamte zivilisatorische Entwicklung – von der frühen Organisation um Rohstoffe, über die Entstehung sozialer Hierarchien, Religion, Krieg, Wissenschaft, Arbeit, Handel, bis hin zu Technologie und digitaler Simulation – wird als eine lange, tragische Kette von Diversionsmechanismen dargestellt, die einzig dem Zweck dienen, diese grundlegende Angst zu verdrängen oder zu kontrollieren.

Der Krieg wird zum Ritual der Sinnstiftung, die Religion zur Dramaturgie des Jenseits, die Technik zur Maschine gegen das Unverfügbare. In all diesen Fällen bleibt das Prinzip gleich: Die Konfrontation mit der Endlichkeit wird in ein System von Ersatzhandlungen verlagert. Besonders eindrücklich ist die Beschreibung des Krieges als „Maquette grandeur nature“ der Todesangst: Der Krieg ist ein Modell, in dem das Sterben organisiert, abstrahiert und kollektiviert wird. Die Beschreibung dieser Mechanismen erfolgt in einem Stil, der suggestiv und analytisch zugleich ist. Kurze, gedrängte Sätze wechseln sich mit langen, mäandernden Perioden ab, die sich zu syntaktischen Wirbeln verdichten. Die Prosa selbst gerät in eine Dynamik, die der Panik ihrer Figuren entspricht.

Der Autor legt dar, dass all diese Strategien, so komplex und weit entwickelt sie auch werden mögen, letztlich zum Scheitern verurteilt sind, da die Angst eine unüberwindbare Kraft bleibt. Das Buch zeigt, wie diese fortwährenden, aber fehlschlagenden Versuche der Angstbewältigung zu zyklischen Krisen, Zerstörung (sowohl von anderen als auch zur Selbstzerstörung) und einer fundamentalen Unfähigkeit führen, die menschliche Existenz auf Dauer zu stabilisieren oder von dieser Kernangst zu befreien.

Aus dem unmittelbaren Erleben wird eine Abstraktion. Die Welt der Hominiden verwandelt sich von einem Raum des Überlebens in ein Terrain symbolischer Ordnungen. Die Angst vor der Vernichtung, die zunächst körperlich gespürt wird, überträgt sich auf imaginäre Räume: Der Horizont wird zum Symbol für das Unbekannte, das Feuer zum Zeichen der Kontrolle, die Höhle zur Schwelle zwischen Leben und Tod. Damit ist der Grundmodus der Zivilisation etabliert: Abwehr durch Projektion. Die Angst wird nicht bewältigt, sondern externalisiert, in Bilder, Rituale und Institutionen verlagert. Diese Logik bleibt in allen weiteren Stufen der Menschheitsgeschichte erhalten.

Ici. Là-bas. Ici. Lorsque le mystère de l’âme devient obsessionnel, lorsque l’angoisse qui le sertit devient insupportable, ils fuient la vie lacustre. Ils fuient aussi loin que possible. Sur les parois d’une autre grotte, à la lueur d’une torche que cernent les ténèbres totales, dans le froid, les doigts écorchés, de façon compulsive, ils dessinent. An-dehors, rôdent de terrifiants félidés, de sombres plantigrades, des chiroptères démesurés. Ils le savent, mais ils continuent de dessiner. Que ces prédateurs les dévorent n’est pas le pire. Le pire serait qu’ils engloutissent les songes qui les poussent à dessiner de la sorte. Qu’ils dévorent la matière même de leurs rêves. Des chevaux, des branches, des flèches. Des yeux. Une femelle auroch au lever du jour. Un éléphant-girafe. Un phallus en érection. Un chasseur sans tête. Une flèche qui transperce des lèvres. Un petit cheval noir. Un grand cheval blanc. Un chasseur poursuivi par un félin. Des visages sans yeux. Des végétaux hallucinogènes. Des champignons qui poussent sur le corps d’un chasseur. Qu’importe les motifs, le plus important est de dessiner le plus loin possible de la chaleur de l’âtre, loin de sa lumière, loin des visages familiers. Fuir l’illusion du foyer. Le foyer qui donne la vie, le réconfort, le plaisir charnel, autrement dit tout ce qui peut disparaître sans prévenir. Fuir et éprouver le sens plein de cette question : n’est-il pas illusoire d’aimer et de protéger ses proches si l’auroch peut les éviscérer à tout moment ? En privilégiant les souterrains hostiles aux dépens du foyer rassurant, ils éprouvent au plus près, au plus juste, la tâche de vivre et de mourir. Ils ne conjurent pas la mort, ils l’affrontent. Ils ne la défient pas, ils la considèrent. Alors, dans cette poétique primordiale, leur angoisse s’apaise.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Hier. Dort drüben. Hier. Wenn das Geheimnis der Seele zur Besessenheit wird, wenn die Angst, die sie umklammert, unerträglich wird, fliehen sie aus dem Seeleben. Sie fliehen so weit wie möglich. An den Wänden einer anderen Höhle, im Schein einer Fackel, die von völliger Dunkelheit umgeben ist, in der Kälte, mit zerschundenen Fingern, zeichnen sie zwanghaft. Draußen lauern furchterregende Raubkatzen, düstere Plantigraden [Sohlengänger] und übergroße Chiropteren [Handflügler]. Sie wissen das, aber sie zeichnen trotzdem weiter. Dass die Raubtiere sie fressen, ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste wäre, wenn sie die Träume verschlingen würden, die sie zu dieser Art des Zeichnens veranlasst haben. Dass sie das Material ihrer Träume verschlingen. Pferde, Zweige, Pfeile. Und Augen. Ein weiblicher Auerochse bei Tagesanbruch. Eine Elefantengiraffe. Ein erigierter Phallus. Ein Jäger ohne Kopf. Ein Pfeil, der Lippen durchbohrt. Ein kleines schwarzes Pferd. Ein großes weißes Pferd. Ein Jäger, der von einer Raubkatze verfolgt wird. Gesichter ohne Augen. Pflanzen, die halluzinogen sind. Pilze, die auf dem Körper eines Jägers wachsen. Die Motive sind egal, das Wichtigste ist, so weit wie möglich von der Wärme des Herdes, von seinem Licht und von vertrauten Gesichtern entfernt zu zeichnen. Fliehen Sie vor der Illusion des Herdes. Das Heim, das Leben, Trost und fleischliche Lust spendet, mit anderen Worten alles, was ohne Vorwarnung verschwinden kann. Fliehen und die volle Bedeutung dieser Frage erfahren: Ist es nicht illusorisch, seine Lieben zu lieben und zu beschützen, wenn der Auerochse sie jederzeit ausweiden kann? Indem sie den feindlichen Untergrund auf Kosten des beruhigenden Heims bevorzugen, erfahren sie die Aufgabe, zu leben und zu sterben, hautnah und genau. Sie beschwören den Tod nicht herauf, sondern stellen sich ihm. Sie fordern ihn nicht heraus, sondern betrachten ihn. In dieser ursprünglichen Poetik beruhigt sich ihre Angst.

Besonders eindrucksvoll entfaltet Chauvier die Geburt der Höhlenmalerei. In der Tiefe der Erde, im Dunkel, fern vom sozialen Feuer, entstehen Bilder. Sie zeigen nicht, was ist, sondern was fehlt. Die Darstellung eines Jägers, eines Tiers, eines Schreis ist kein Realismus, sondern ein Zeichen der Abwesenheit. Das Bild ersetzt das Gestorbene, das Verlorene, das Unerklärliche. Damit wird die Kunst zur ersten Form der Todesbeschwörung. Der Mensch beginnt, sich über seine Bildproduktion zu entwerfen, aber immer als Reaktion auf das, was ihm entgleitet. Die poetische Kraft des Textes liegt darin, dass er diese Prozesse nicht nur beschreibt, sondern performativ nachahmt. Die Sprache wird selbst zu einem Medium der Erinnerung, der Evokation. Die Tätigkeit der frühen Höhlenmaler, die sich zum Zeichnen in die dunklen Tiefen der Erde zurückziehen, fügt der Idee einer ersten Form der „Todesbeschwörung“ eine wichtige Nuance hinzu: Das Malen ist nicht primär ein Mittel, die Angst zu „beschwören“ (conjurer) oder ihr zu „trotzen“ (défier), sondern eine Form des „Betrachtens“ (considérer) der Sterblichkeit. In dieser „poétique primordiale“ (urzeitlichen Poetik) finden sie eine Form der Beruhigung ihrer Angst. Der Akt des Bilderschaffens in der Dunkelheit ist eine Auseinandersetzung mit dem drohenden Verschwinden (dargestellt wird, was zu verschlingen droht) dient und in dieser Konfrontation einen Raum für Angstbewältigung schafft, auch wenn es keine „Lösung“ im Sinne einer magischen Bannung bietet.

Der Text beginnt mit einer Beschreibung der frühen Phase der Spezies, einer Zeit, in der der Tod noch nicht als existenzielle Bedrohung verstanden wurde, sondern als reines Naturphänomen:

Les premiers représentants identifiés de l’espèce évoluent sur leurs membres postérieurs. La stature verticale les rend moins vulnérables qu’à l’horizontale. Ils paraissent plus imposants, intimident certains prédateurs. Lentement, très lentement, ils apprennent à trouver leur direction. Ils sont attirés par une forêt, une forêt qui toise une étendue d’eau, une étendue d’eau qu’ils devinent source de vie. Ils ressentent une impression de stabilité, peut-être même de sécurité, ambivalente cependant, car en se redressant, ils deviennent la proie de créatures qui ne les importunaient pas lorsqu’ils rampaient : les lions des cavernes, les lycaons géants, les aigles gigantesques, les léopards solitaires. Ils voient leurs congénères expier dans des postures variées, griffés, énucléés, écartelés, dépecés, décapités, broyés, éviscérés, sans parler des nuances combinées de ces mises à mort. Parfois, ils évitent la course du rhinocéros fonceur. Mourir écrasés par cette masse furieuse ? La question ne se pose pas en ces termes. Mourir, ils ne savent pas ce que c’est. Ils respirent à pleins poumons. Le musc. Les viscères. La boue. Le vent.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Die ersten identifizierten Vertreter dieser Art bewegen sich auf ihren Hinterbeinen fort. Die aufrechte Haltung macht sie weniger verwundbar als in horizontaler Position. Sie wirken imposanter und schrecken manche Raubtiere ab. Langsam, sehr langsam lernen sie, sich zu orientieren. Sie werden von einem Wald angezogen, der eine Wasserfläche überragt, die sie als Quelle des Lebens erkennen. Sie verspüren ein Gefühl der Stabilität, vielleicht sogar der Sicherheit, das jedoch ambivalent ist, denn wenn sie sich aufrichten, werden sie zur Beute von Kreaturen, die sie beim Kriechen nicht belästigt haben: Höhlenlöwen, riesige Wildhunde, gigantische Adler, einsame Leoparden. Sie sehen ihre Artgenossen in verschiedenen Positionen sterben, zerkratzt, ausgeweidet, zerfleischt, zerrissen, enthauptet, zerquetscht, ausgeweidet, ganz zu schweigen von den kombinierten Varianten dieser Todesarten. Manchmal entkommen sie dem Ansturm eines Nashorns. Von dieser wütenden Masse zermalmt zu werden? Diese Frage stellt sich ihnen nicht. Sie wissen nicht, was Sterben ist. Sie atmen mit voller Lunge. Moschus. Eingeweide. Schlamm. Wind.

Die Bearbeitung von Steinen und die Herstellung von Werkzeugen markieren einen Wendepunkt, der zur ersten Wahrnehmung von Mangel und Verlust und damit zu einer Vorform der Angst führt:

Passent des milliers de solstices. Ils pressentent l’amorce d’une hiérarchie. Le congénère qui taille la pierre plus vite et mieux que les autres doit être protégé des prédateurs. Ils comprennent aussi qu’ils dépendent des ressources locales. Lorsqu’elles s’épuisent, il leur faut aller plus loin. S’élaborent une organisation sommaire, des jeux de regards, des amorces de connivences. Une fièvre collective les pousse à regarder au-delà du gisement. On ne sait où. Ils progressent désormais avec ce manque à l’esprit qui, bientôt, devient tourment. Pour la première fois, ils peuvent évaluer ce qu’ils perdent. Apparaît le drame de l’espèce : le sentiment d’incomplétude, l’insatisfaction, la fin de l’osmose, la courbure de l’horizon.

Eric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Tausende Sonnenwenden vergehen. Sie ahnen den Beginn einer Hierarchie. Der Artgenosse, der schneller und besser als die anderen Steine bearbeitet, muss vor Raubtieren geschützt werden. Sie verstehen auch, dass sie von den lokalen Ressourcen abhängig sind. Wenn diese erschöpft sind, müssen sie weiterziehen. Es entsteht eine rudimentäre Organisation, ein Spiel der Blicke, erste Anzeichen von Komplizenschaft. Eine kollektive Raserei treibt sie dazu, über die Lagerstätte hinauszuschauen. Man weiß nicht wohin. Sie schreiten nun mit diesem Mangel im Kopf voran, der bald zur Qual wird. Zum ersten Mal können sie einschätzen, was sie verlieren. Das Drama der Spezies tritt zutage: das Gefühl der Unvollständigkeit, die Unzufriedenheit, das Ende der Osmose, die Krümmung des Horizonts.

Mit der Fähigkeit, die Natur zu beeinflussen („détourner le cours naturel des choses“), entsteht ein Bewusstsein für Abhängigkeit von Ressourcen und die Möglichkeit des Verlusts. Dies führt zum „Drama der Spezies“: dem Gefühl der Unvollständigkeit („sentiment d’incomplétude“) und Unzufriedenheit („insatisfaction“). Obwohl dies noch nicht die explizite Angst vor dem Tod ist, ist es die erste Form der Angst, die aus der Reflexion über die eigene Situation und die Endlichkeit von Dingen entsteht. Es ist das Ende einer „Osmose“, einer unbewussten Harmonie, und der Beginn einer Existenz, die von Mangel und potenziellen Verlusten geprägt ist.

Éric Chauviers Un lac inconnu, bei den Editions Allia erschienen, präsentiert sich dem Leser als ein Werk von geringem Umfang – gerade mal hundert Seiten stark – dessen Ambition und intellektuelle Tiefe jedoch weit über diese physische Größe hinausreicht. Der Autor, der sowohl als Anthropologe als auch als Schriftsteller tätig ist, verbindet in diesem Text wissenschaftliche Analyse mit literarischer Form. Das Buch ist kein traditioneller Essay, sondern, wie Chauvier selbst es nennt, eine „poetische Metaerzählung“ („métarécit poétique“). Dieser hybride Ansatz ermöglicht eine longue durée literarischer Untersuchung von Menschheitsgeschichte, ihrer Triebkräfte und ihrer letztendlichen Entwicklungsrichtung. Chauviers Buchvorhaben ist ein faszinierendes Beispiel für die Überschreitung disziplinärer Grenzen und die Nutzung literarischer Mittel zur Darstellung komplexer anthropologischer Thesen. Ich beziehe mich neben dem Buch auch auf ein ausführliches Gespräch, das Chauvier in der Sendung Qwertz, das der französischsprachige Schweizer Rundfunk mit Chauvier geführt hat.

Die Struktur des Buches entfaltet die gesamte Geschichte der (westlichen) Zivilisation. Der narrative Bogen spannt sich von dem kritischen Moment, als unsere vierbeinigen Vorfahren die aufrechte Haltung annahmen und zu Zweibeinern wurden, bis hin zur Vernichtung unserer Spezies und dem Verschwinden ihrer letzten digitalen Überreste in einem schwarzen Loch. Diese immense zeitliche Spanne – von mehreren Millionen Jahren bis zum kosmischen Ende – wird in komprimierter, aber evokativer Prosa dargestellt. Die Herausforderung, solch schwindelerregende Zeiträume („vertige de temps“) literarisch zu gestalten, ohne sich in historischen Details zu verlieren, wird durch bewusste formale Entscheidungen gelöst.

Ein zentrales formales Merkmal und zugleich literarisches Instrument ist die weitgehende Abwesenheit konkreter geografischer oder historischer Marker. Es gibt keine einzige Datumsangabe, keinen spezifischen Ort und kaum Eigennamen. Selbst die menschliche Spezies wird nicht explizit benannt. Diese Ent-Lokalisierung und Ent-Historisierung verwandelt die Menschheitsgeschichte von einer chronologischen Abfolge spezifischer Ereignisse in eine allegorische Erzählung. Der Text wirkt, so Chauvier, als eine Art „Zerrspiegel“ („miroir déformant“), der uns ein entfremdetes Bild von uns selbst zurückwirft. Dies ermöglicht dem Leser, sich in das Gesagte zu projizieren, gleichzeitig aber eine notwendige Distanz zu wahren.

Das Aufkommen der Idee einer Seele und eines Jenseits markiert für den Menschen eine dramatische Eskalation der Angst:

Focus sur le moment où, près de l’âtre, ils allongent le corps, le corps mort, et pressentent, derrière les yeux fermés, entre ici et là-bas, quelque chose comme une substance gazeuse. Ils s’approchent, palpent les orifices, hument le visage, entrouvrent les paupières. Cette énième complication n’est pas des moindres. L’existence de l’âme. Ils se prennent à y accorder foi, autrement dit à éprouver, lorsque survient le doute – qui est consubstantiel à la croyance –, l’angoisse de mort. Nous y sommes, enfin, c’est dit, le pli est pris, aussi puissant que la course du mammouth laineux. Palper les visages ne suffit plus. Humer les orifices non plus. Cisailler les paupières, pas davantage. L’angoisse de mort croît de façon exponentielle, jusqu’à se confondre avec l’air saturé de la grotte.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Der Fokus liegt auf dem Moment, in dem sie sich am Herd um den Leichnam herum ausstrecken und hinter ihren geschlossenen Augen, zwischen hier und dort drüben, etwas wie eine gasförmige Substanz spüren. Sie nähern sich, tasten die Körperöffnungen ab, riechen am Gesicht, öffnen leicht die Augenlider. Diese x-te Komplikation ist nicht die geringste. Die Existenz der Seele. Sie beginnen, daran zu glauben, mit anderen Worten, wenn Zweifel aufkommen – die untrennbar mit dem Glauben verbunden sind –, verspüren sie Todesangst. Nun ist es endlich soweit, es ist gesagt, die Entscheidung ist gefallen, so mächtig wie der Lauf eines Wollmammuts. Die Gesichter zu ertasten reicht nicht mehr aus. Auch nicht mehr, an den Körperöffnungen zu riechen. Die Augenlider zu schneiden, auch nicht. Die Todesangst wächst exponentiell, bis sie sich mit der stickigen Luft in der Höhle vermischt.

Hier wird der Moment markiert, in dem die Spezies beginnt, an die Existenz einer Seele zu glauben, die den Körper nach dem Tod verlässt. Diese abstrakte Vorstellung, paradoxerweise untrennbar verbunden mit dem Zweifel, der jeder Überzeugung innewohnt, löst die eigentliche Angst vor dem Tod aus. Es ist nicht mehr nur die stumme Beobachtung des Endes anderer, sondern die erschreckende Möglichkeit des eigenen Übergangs oder Verschwindens. Diese Angst vor dem Tod wächst „exponentiell“ und wird so allgegenwärtig wie die „gesättigte Luft der Höhle“. Dies ist ein entscheidender Punkt, da die Angst nun ein tief existentielles, introspektives Problem wird, das mit der Vorstellung des eigenen Selbst nach dem Tode verbunden ist.

Religion wird als ein von „Dramaturgen“ orchestriertes Projekt zur Kontrolle der Massen durch Furcht eingeführt, eine grobmotorische Form der Diversion:

Dans sa forme primitive, la religion naît de cette grossière exigence de diversion. Elle ne porte en elle aucune morale. Il lui faut avant tout orchestrer un monde métaphorique et redoutable, un monde qui n’existe pas, mais qu’importe, dès lors qu’il peut être craint. Mieux : ce monde tient sa réalité de la peur de celui qui s’y projette.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

In ihrer ursprünglichen Form entsteht Religion aus diesem groben Bedürfnis nach Ablenkung. Sie beinhaltet keinerlei Moral. Sie muss vor allem eine metaphorische und furchterregende Welt erschaffen, eine Welt, die nicht existiert, aber das spielt keine Rolle, solange sie gefürchtet werden kann. Besser noch: Diese Welt verdankt ihre Realität der Angst derer, die sich in sie hineinversetzen.

Nachdem die ursprünglichen primitiven Gottheiten nicht ausreichen, um die Pulsions und das drohende Chaos zu kontrollieren, wird eine neue Form der Religion geschaffen. Diese Religion ist explizit eine „grobmotorische Notwendigkeit der Diversion“ („grossière exigence de diversion“), geschaffen von „Dramaturgen“. Sie hat keine Moral, sondern dient dazu, einen „metaphorischen und redoutablen“ („métaphorique et redoutable“) Welt zu orchestrieren, deren Realität sich direkt aus der Furcht der Gläubigen („tient sa réalité de la peur de celui qui s’y projette“) speist. Dies zeigt, wie die Angst bewusst als Werkzeug zur sozialen und politischen Kontrolle eingesetzt wird. Religion ist hier eine institutionalisierte Form der Ablenkung, die nicht auf der Besänftigung, sondern auf der Bewirtschaftung und Verstärkung der Furcht basiert, um das Verhalten der Massen zu steuern.

Der Krieg wird von Chauvier als eine paradoxe Strategie dargestellt, die Unsicherheit des Todes durch kollektives Sterben zu überwinden, wobei die Realität für die Soldaten eine andere ist als die Rhetorik der Führer:

C’est une innovation notable de l’espèce que de parvenir à vaincre l’incertitude de la mort en orchestrant ce qu’il convient de reconnaître comme un suicide collectif.

Entre les assauts, son souffle glacé les étreint, les envahit, les liquéfie, les assassine avant l’heure. Au moment du contact avec l’ennemi, c’est pire encore. À croire que c’est la mort elle-même qui les guide, comme si leur esprit ne leur appartenait plus, comme si leur corps arpentait déjà les enfers.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Es ist eine bemerkenswerte Innovation dieser Spezies, die Unsicherheit des Todes zu überwinden, indem sie etwas inszeniert, was man als kollektiven Selbstmord bezeichnen muss.

Zwischen den Angriffen umhüllt sie sein eisiger Atem, durchdringt sie, verflüssigt sie, tötet sie vorzeitig. Im Moment des Kontakts mit dem Feind ist es noch schlimmer. Man könnte glauben, dass sie vom Tod selbst geleitet werden, als ob ihr Geist ihnen nicht mehr gehörte, als ob ihre Körper bereits die Unterwelt durchstreifen würden.

Krieg wird von den Anführern als Mittel angepriesen, die Angst zu überwinden, indem man dem Tod nahekommt („vaincre la mort, c’est s’en approcher au plus près“). Aus der Perspektive der Anführer ist es eine „bemerkenswerte Innovation“, ein „kollektiver Selbstmord“, der die Unsicherheit des individuellen Todes ersetzt. Für die Soldaten auf dem Schlachtfeld ist die Realität jedoch, dass die „Angst“ („son souffle glacé les étreint“) sie zwischen den Angriffen quält und im direkten Kampf sogar noch „schlimmer“ („pire encore“) ist, fast als ob der Tod selbst sie führen würde. Krieg ist hier eine weitere Form der Diversion, die auf Massenangst aufbaut und diese zugleich verstärkt, insbesondere für die anordnenden Führer, für die das Schlachtfeld zur „lebensgroßen Nachbildung ihrer Todesangst“ wird.

Die Erfindung der Vernunft („Raison“) und die Entstehung der Moderne werden als ein systematisches Projekt zur Neutralisierung der Todesangst durch totale Kenntnis der Natur dargestellt:

Face à tant d’incertitudes, d’autres philosophes affirment qu’il suffit d’adopter un principe de certitude et l’affaire de l’angoisse de mort sera close. À les entendre, l’espèce doit embrasser un projet général basé sur la connaissance totale de la nature. Parvenu à ce point de perfection, il sera temps de percer l’énigme de la mort. À force de ressasser leurs théories, ils finissent par y croire. Usant d’analogies et de métaphores, ils s’activent à la cour des tyrans, préconisent l’adoption d’un système omniscient, doté d’une méthode universelle, à la seule fin de tout connaître, donc. La religion proteste, les tyrans acquiescent. Ainsi s’invente la Raison, mot relativement commun, que l’on sacralise d’une majuscule pour lui donner de l’importance. Les esprits éclairés s’autoproclament rationnels. Ils dénoncent et neutralisent les préjugés, les illusions et les errances qui défient leurs modèles. Ils moquent les croyances, éradiquent les coutumes, fustigent les émotions, en bref bannissent la vie ordinaire des anonymes, jugée inéligible. Les affects seraient la bave du monde, qui contaminerait la seule perspective qui vaille : l’accumulation de connaissances universelles comme moyen d’atteindre le point de perfectionnement de l’espèce, point que l’on devine abstrait, mais que l’on croit résolutoire. À l’angoisse de mort, s’opposerait la certitude de sa neutralisation au moyen de conventions partagées par des dramaturges faisant autorité en matière d’empirisme, de protocoles d’expériences, d’émission d’hypothèses et d’érection de théories. Autant dire la fine fleur, le gratin éclairé de l’espèce. Lequel élabore des encyclopédies, des dictionnaires raisonnés, des typologies, des taxinomies, des tableaux comparatifs, le tout assorti de plusieurs centaines de tomes de planches illustrées. La maîtrise rationnelle de la nature se présente comme un immense tableau dont les cases sont à noircir à chaque nouvelle validation de connaissance. Lorsque le tableau sera noirci, la nature sera parfaitement connue. Et l’angoisse de mort dissipée. Et la Raison couronnée. Peu à peu, les agents de l’économie de production s’engouffrent dans ce sillon, confondant à dessein ce qui peut se connaître et ce qui peut se posséder.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Angesichts dieser Unsicherheiten behaupten andere Philosophen, dass es ausreicht, einen Grundsatz der Gewissheit anzunehmen, um die Frage nach dem Tod zu klären. Ihrer Meinung nach muss die Menschheit ein allgemeines Projekt verfolgen, das auf der vollständigen Erkenntnis der Natur basiert. An diesem Punkt der Vollkommenheit angekommen, wird es Zeit sein, das Rätsel des Todes zu lösen. Indem sie ihre Theorien immer wieder wiederholen, glauben sie schließlich selbst daran. Mit Analogien und Metaphern werben sie an den Höfen der Tyrannen und befürworten die Einführung eines allwissenden Systems mit einer universellen Methode, dessen einziges Ziel es ist, alles zu wissen. Die Religion protestiert, die Tyrannen stimmen zu. So erfindet man die Vernunft, ein relativ gebräuchliches Wort, das man mit einem Großbuchstaben sakralisiert, um ihm Bedeutung zu verleihen. Die aufgeklärten Geister erklären sich selbst für rational. Sie prangern Vorurteile, Illusionen und Irrwege an, die ihren Modellen widersprechen, und neutralisieren sie. Sie verspotten Glaubenssätze, beseitigen Bräuche, geißeln Emotionen, kurz gesagt, verbannen sie das gewöhnliche Leben der Anonymen, das sie für unwählbar halten. Gefühle gelten als der Speichel der Welt, der die einzig gültige Perspektive vergiftet: die Anhäufung von universellem Wissen als Mittel zur Erreichung der Vollkommenheit der Spezies, ein Punkt, den man als abstrakt erahnt, aber für entscheidend hält. Der Angst vor dem Tod steht die Gewissheit gegenüber, dass sie durch Konventionen neutralisiert wird, die von Dramatikern geteilt werden, die in Sachen Empirismus, Versuchsprotokolle, Hypothesenbildung und Theorieerstellung maßgebend sind. Mit anderen Worten: die Crème de la Crème, die aufgeklärte Elite der Spezies. Diese erarbeitet Enzyklopädien, Lexika, Typologien, Taxonomien, Vergleichstabellen, ergänzt durch mehrere hundert Bände mit illustrierten Tafeln. Die rationale Beherrschung der Natur präsentiert sich als riesiges Gemälde, dessen Felder mit jeder neuen Erkenntnis schwarz ausgefüllt werden. Wenn das Bild ausgefüllt ist, wird die Natur vollständig erforscht sein. Und die Angst vor dem Tod wird verschwunden sein. Und die Vernunft wird triumphieren. Nach und nach schließen sich die Akteure der Produktionswirtschaft diesem Trend an und vermischen bewusst das, was man wissen kann, mit dem, was man besitzen kann.

Die Raison wird als ein von „Dramaturgen“ erfundenes Konzept eingeführt, ein „systematisches Projekt“ der totalen Naturkenntnis, das die Angst vor dem Tod durch Gewissheit neutralisieren soll. Die Modernität ist die praktische Umsetzung dieser Vision: Der Tod wird als „Fehler“ („erreur“) oder „schädliche Fehlfunktion“ („défaillance dommageable“) in der Maschine Körper betrachtet, der durch Wissenschaft und Technik behoben werden kann. Dies ist ein Versuch, die Angst zu besiegen, indem man die Endlichkeit rational als lösbares Problem umdeutet. Es ist eine Form der Diversion, die auf dem Glauben an die unbegrenzte Macht der Rationalität und des technischen Fortschritts basiert, aber letztlich die Angst nicht eliminiert, sondern nur verlagert oder neue Formen der Angst schafft:

Les esprits rationnels gambergent de plus en plus : on n’est jamais emportés par la mort, affirment-ils, mais par des maladies dont l’espèce aurait pu être préservée. Vaincre ces affections et le vieillissement, qui ne serait au fond qu’une maladie, voilà le véritable projet civilisationnel, proclament-ils. Car la mort n’est qu’une erreur, une défaillance dommageable dans un processus qui éliminera bientôt les anomalies survenues dans les corps, ces corps qui ne sont au fond que des machines, un peu de carlingue, beaucoup de tuyauteries et des points de fixation. Or, une machine, quoi qu’on en dise, quoi qu’on en pense, ça se répare. Ces dramaturges du rationnel deviennent la proie d’une illusion collective : la connaissance peut être augmentée jusqu’à permettre de vaincre la mort et parachever la vie. Cette vision, ils la nomment Modernité, avec une majuscule qui sanctifie leur intention. Ce mot renvoie à ce qui est récent, actuel, mais il faut ici le comprendre comme un désir compulsif de se réfugier dans l’instant afin d’occulter l’effroi qu’inspire la mort. Ignorant cet écueil, ces polymathes déclinent comme des mantras les perspectives qu’ouvre ce nouveau projet : la raison lumineuse contre l’obscurantisme, la science et les techniques au service du progrès et de l’émancipation – le mot est lâché, et sans doute n’est-il pas pire contresens que ce mot-là dans l’histoire de l’espèce. Quoi qu’il en soit, la propagande fonctionne : l’État doit se désolidariser des lieux de culte, devenus obsolètes, pour se focaliser sur la Modernité. Ce programme n’a de cesse de resurgir, produisant à chaque fois des œuvres encyclopédiques visant à tout dominer tout de suite tout le temps. À ce comportement archaïque et délétère, nul argument ne s’oppose véritablement.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Rational denkende Menschen grübeln immer mehr darüber nach: Wir werden niemals vom Tod ereilt, behaupten sie, sondern von Krankheiten, deren Art hätte verhindert werden können. Diese Leiden und das Altern, das im Grunde genommen nur eine Krankheit sei, zu besiegen, sei das eigentliche Ziel der Zivilisation, verkünden sie. Denn der Tod sei nur ein Fehler, ein schädlicher Ausfall in einem Prozess, der bald alle Anomalien im Körper beseitigen werde, diesen Körpern, die im Grunde genommen nur Maschinen seien, ein bisschen Karosserie, viel Rohrleitungen und Befestigungspunkte. Nun aber lässt sich eine Maschine, egal was man sagt oder denkt, reparieren. Diese Dramatiker der Vernunft werden Opfer einer kollektiven Illusion: Das Wissen kann so weit erweitert werden, dass es den Tod besiegen und das Leben vervollkommnen kann. Diese Vision nennen sie Modernität, mit einem Großbuchstaben, der ihre Absicht heilig spricht. Dieses Wort verweist auf das Neue, Aktuelle, muss hier aber als zwanghafter Wunsch verstanden werden, sich in den Augenblick zu flüchten, um die Angst vor dem Tod zu verdrängen. Diese Polymaths ignorieren diese Gefahr und wiederholen wie Mantras die Perspektiven, die dieses neue Projekt eröffnet: die erleuchtete Vernunft gegen den Obskurantismus, Wissenschaft und Technik im Dienste des Fortschritts und der Emanzipation – das Wort ist gefallen, und es gibt wohl keinen schlimmeren Widerspruch in der Geschichte der Menschheit als dieses Wort. Wie dem auch sei, die Propaganda funktioniert: Der Staat muss sich von den Kultstätten, die überholt sind, lösen, um sich auf die Moderne zu konzentrieren. Dieses Programm taucht immer wieder auf und bringt jedes Mal enzyklopädische Werke hervor, die darauf abzielen, alles sofort und für immer zu beherrschen. Gegen dieses archaische und schädliche Verhalten gibt es kein wirkliches Argument.

In einem scheinbar paradoxen Schritt fliehen die Höhlenbewohner vor der häuslichen Sicherheit, um an feindseligen Orten zu zeichnen, eine Handlung, die ihre Angst zeitweise besänftigt. Angesichts der unerträglichen Angst, die durch die Vorstellung der Seele und die Zerbrechlichkeit des häuslichen Lebens („illusion du foyer“) entsteht, suchen sie Zuflucht in feindseligen Umgebungen, um dort „kompulsiv“ zu zeichnen. Dieses Zeichnen wird als „primordiale Poesie“ beschrieben. Es ist keine Flucht vor der Realität des Todes (die Feinde lauern draußen), sondern ein direktes Sich-Stellen („l’affrontent“, „la considèrent“) zur Endlichkeit und der Möglichkeit des Verlusts. Im Gegensatz zu späteren, komplexeren Diversionen ist diese kreative Konfrontation in der Lage, ihre Angst zu besänftigen („leur angoisse s’apaise“). Ein direkter, kreativer Ausdruck der Existenz war vielleicht eine effektivere, wenn auch primitive, Form der Angstbewältigung als die späteren, repressiven oder illusorischen Strategien.

Szenen von brutaler Gewalt und existenziellem Schrecken, wie die Beschreibung des Todes in der Frühzeit oder Kriegsgrauen, werden oft durch lyrische Einschübe oder Metaphern kontrastiert oder untermalt. Chauvier spricht von einem „Arbeit am Lyrismus“ („travail sur le lyrisme“), der schwierigere oder deskriptivere Passagen konterkariert und das Buch vom reinen Essay abhebt. Die Sprache sucht eine andere Art der „Adhärenz ans Reale“ („capacité du langage à adhérer au réel“), wie der Interviewer des genannten Gesprächs bemerkt, eine Adhärenz, die nicht auf präjudizierendem Wissen basiert.

Verschiedene menschliche Aktivitäten und gesellschaftliche Strukturen werden konsequent durch die Linse dieser fundamentalen Angst betrachtet, hier ein Versuch der Systematisierung:

1. Wirtschaft und Produktion: Ökonomische Tätigkeit, insbesondere seit dem Neolithikum und der Entstehung von Stadtstaaten, wird als permanente „Ablenkung“ („diversion“) von der Todesangst gedeutet. Überbordende, „wahnsinnige“ Produktion („économie lorsqu’elle devient délirante“) entspringt dieser „Pulsion der Ablenkung“. Die Gier nach Reichtum wird als vorübergehende Zerstreuung von der Angst und die Wirtschaftskrise als Auslöser für neue Ablenkungsmechanismen gesehen.

2. Politische Strukturen, Macht und Krieg: Die Gründung von Städten, das Streben nach Macht und das Führen von Kriegen werden als Ausdruck desselben Angst-Abwehr-Mechanismus interpretiert. Der Anführer, vom Clan-Chef bis zum modernen Kriegstreiber, nutzt das Schlachtfeld als „lebensgroßes Modell seiner Angst“ („maquette grandeur nature de son angoisse“), um diese zu beschwören. Krieg dient der Ablenkung, der Stimmulierung der Massen und der Befriedigung der Ängste der Herrschenden. Abstrakte Konzepte wie „Nation“ oder „Schicksal“ dienen dazu, die Soldaten zu opfern.

3. Werte und Solidarität: Obwohl Chauvier das Vorhandensein von Werten wie Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness anerkennt („alternatives“), sieht er, wie sie „schnell misshandelt und letztendlich überfahren“ („assez rapidement malmenés et finalement qui passent à l’as“) werden, überdeckt von der dominanten Pulsion der Ablenkung. Für ihn scheinen diese Werte angesichts der „okkulten Mächte“ der Überproduktion und Zerstörung kaum noch eine echte Alternative darzustellen.

4. Abstraktion und Konzepte: Die menschliche Fähigkeit zur Abstraktion wird als fundamental, aber auch ambivalent dargestellt. Konzepte (Nation, Gott, Schicksal, Ratio) sind oft Mittel der „Kontrolle“ („permis de contrôler“) und dienen der Verschleierung der eigenen Todesangst oder der Ängste anderer. Chauvier sieht hier eine Parallele zu Marx‘ Kritik der Philosophie, die mehr beschreibt als transformiert, obwohl er seine eigene Perspektive eher auf die anthropologischen Pulsionen und nicht auf die reine Klassendialektik fokussiert. Die Aufklärung und die Sakralisierung der „Raison“ werden als ein weiteres, umfassendes Projekt zur Neutralisierung der Todesangst durch totale Erkenntnis entlarvt, das jedoch zu neuem Leid (Versklavung, Ausbeutung) führt.

5. Soziale Medien: Die Entstehung der sozialen Medien wird als „anthropologische Revolution“ („révolution anthropologique“) von immensem Ausmaß betrachtet, möglicherweise vergleichbar mit der Erfindung der Schrift. Sie sind „entmaterialisierte Prothesen“ („prothèses dématérialisées“), die ein echtes Leben nachahmen, ohne es zu sein. Ihr Aufkommen im Kontext der Krise 2008 ist für ihn kein Zufall; sie stellen ein „ultimativer Mechanismus“ („dispositif ultime“) der Ablenkung dar.

6. Transhumanismus und das Ende: Die dystopische Darstellung des Endes, bei dem die Ultrareichen ihr Bewusstsein in digitale „Boxen“ übertragen, ist für Chauvier eine „traurig vorhersehbare“ („tristement prédictible“) Konsequenz dieser historischen Entwicklung. Selbst diese ultimative Flucht vor der Sterblichkeit scheitert.

Les cortex des élus sont reproduits puis téléchargés sur le disque dur d’un méga-ordinateur capable de les numériser et de simuler leur fonctionnement cognitif. Cette prouesse doit permettre d’esquiver les métaphores et les analogies. Car l’angoisse de mort naît toujours de cette capacité qu’avait autrefois l’espèce de s’abstraire du réel pour se perdre en substitutions imagées : l’éther, le néant, les enfers, le grand rien, l’abîme, la fin totale, l’au-delà, le dernier soupir, le repos éternel, le grand voyage – liste non exhaustive. Mais ce temps est révolu. L’intelligence artificielle est programmée pour produire et reproduire la littéralité du monde – d’un monde à l’agonie, certes, mais, à ce stade, les organisateurs de ce plan de sauvegarde sont peu enclins à chipoter.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Die Großhirnrinde der Auserwählten wird reproduziert und dann auf die Festplatte eines Megacomputers heruntergeladen, der sie digitalisieren und ihre kognitiven Funktionen simulieren kann. Diese Meisterleistung soll Metaphern und Analogien vermeiden. Denn die Angst vor dem Tod entsteht immer aus der Fähigkeit, die die Spezies einst hatte, sich von der Realität zu lösen und sich in bildhaften Ersatzvorstellungen zu verlieren: Äther, Nichts, Hölle, das große Nichts, der Abgrund, das totale Ende, das Jenseits, der letzte Atemzug, die ewige Ruhe, die große Reise – die Liste ist nicht vollständig. Aber diese Zeit ist vorbei. Künstliche Intelligenz ist darauf programmiert, die Buchstäblichkeit der Welt zu produzieren und zu reproduzieren – einer Welt, die zwar in Agonie liegt, aber in diesem Stadium sind die Organisatoren dieses Rettungsplans wenig geneigt, zu feilschen.

Im Verlauf seines zeitlichen Durchgangs zeigt Chauvier die Entstehung von Gemeinschaften, Hierarchien, Religionen und Städten. All diese Formen erscheinen nicht als Fortschritte, sondern als Eskalationen des Abwehrverhaltens. Die Stadt ist nicht der Ort des Schutzes, sondern ein Knotenpunkt konkurrierender Strategien zur Angstbewältigung: Warenverkehr, Feste, Kriege, Götterdienste. Jeder Aspekt des zivilisierten Lebens dient dazu, die Gedanken an den Tod zu verdrängen. Am deutlichsten wird dies in der Rolle des Anführers: Der Chef, später der König oder Kriegsherr, übernimmt die Aufgabe, Hoffnung zu verbreiten und Versprechen zu machen. Dabei wird die Angst nicht aufgelöst, sondern in Loyalität, Gehorsam und Opferbereitschaft umgewandelt. Die Macht basiert auf der Umleitung existenzieller Furcht. Der Anführer („chef“) nutzt die Angst der Masse, um ihnen „Fieber“ („fièvre“), also Aufregung, Reiz und Hoffnung zu „destillieren“ („distiller la fièvre“). Je stärker dieses Fieber ist, desto ferner erscheint die Möglichkeit des Todes. Die Stadt („cité“) wird dabei als ultimatives Ablenkungsmanöver („sa diversion parfaite“) gegen den Tod imaginiert. Chauvier veranschaulicht, wie die Organisation des zivilisierten Lebens, von der Sammlung um den Herd bis zur Stadt, als eine Kette von Abwehrstrategien dient, die die Gedanken an den Tod verdrängen und die Angst in Loyalität und Gehorsam umwandeln, basierend auf der Umleitung existenzieller Furcht.

Quand le crépuscule descend, quand les stimuli déclinent, c’est la prostration, l’accablement, le vide, l’abîme. Apparaissent les spectres, les ombres et les mânes. Heureusement, les hameaux se dotent de greniers pour stocker les denrées, d’échoppes rudimentaires, d’enceintes fortifiées, protections nécessitant une âme dirigeante, aventureuse, agitatrice, inspiratrice, emplie d’espoir, en bref un chef capable de captiver ceux qui cèdent à l’angoisse. Ceux-là l’écoutent avec attention, qui leur parle d’horizons à conquérir, d’un devenir commun basé sur le partage de techniques repérées dans d’autres hameaux, des techniques en matière de culture, de poterie, de navigation, de confection de vêtements, d’hydrologie, de métallurgie. Il leur parle aussi d’embrasement, d’enchantement, d’éblouissement, leur inocule une fièvre embaumée de parfums, de nectars, de délices moirés. Et plus cette fièvre monte, plus la possibilité de leur mort leur semble s’éloigner, plus l’effroi s’estompe. Quant aux chefs, ils s’approprient peu à peu le pouvoir découlant de cet art de distiller la fièvre. Dans leur esprit s’impriment des mirages de stimuli : une cité. Ils mettent à profit les crépuscules et les morsures de l’angoisse pour intimider leur auditoire : la cité s’opposerait fondamentalement au trépas, serait sa diversion parfaite.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Wenn die Dämmerung hereinbricht, wenn die Reize nachlassen, kommt Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, Leere, Abgrund. Es erscheinen Gespenster, Schatten und Geister. Glücklicherweise verfügen die Weiler über Getreidespeicher zur Vorratshaltung, einfache Verkaufsstände und befestigte Umfriedungen – Schutzvorrichtungen, die eine führende, abenteuerlustige, aufrührerische, inspirierende und hoffnungsvolle Seele erfordern, kurz gesagt einen Anführer, der diejenigen zu begeistern vermag, die der Angst nachgeben. Diese hören ihm aufmerksam zu, wenn er ihnen von neuen Horizonten erzählt, von einer gemeinsamen Zukunft, die auf dem Austausch von Techniken aus anderen Weilern basiert, von Techniken in den Bereichen Landwirtschaft, Töpferei, Seefahrt, Kleiderherstellung, Hydrologie und Metallurgie. Er spricht zu ihnen auch von Begeisterung, Verzauberung, Blendung, steckt sie mit einer Fieberstimmung an, die von Düften, Nektaren und schillernden Köstlichkeiten erfüllt ist. Und je mehr diese Fieberstimmung steigt, desto weiter scheint ihnen die Möglichkeit ihres Todes zu entgleiten, desto mehr schwindet die Angst. Die Anführer hingegen eigneten sich nach und nach die Macht an, die sich aus dieser Kunst der Fieberverbreitung ergab. In ihren Köpfen entstanden Trugbilder: eine Stadt. Sie nutzten die Dämmerung und die Bisse der Angst, um ihr Publikum einzuschüchtern: Die Stadt würde dem Tod grundlegend entgegenstehen, wäre seine perfekte Ablenkung.

Die Moderne erscheint in Chauviers Text nicht als Aufklärung, sondern als finale Stufe der Verdrängung. Wissenschaft, Bürokratie, industrielle Arbeit und digitale Kommunikation erzeugen eine neue Form der „Effervescence“, die nicht mehr sakral oder mythologisch aufgeladen ist, sondern durch Geschwindigkeit, Funktionalität und Simulation wirkt. Die Todesangst wird jetzt nicht mehr mit Göttern oder Ritualen bearbeitet, sondern durch Informationsströme, Märkte und Bildschirme. Die Menschen verschwinden in ihren Avataren, ihre Ängste werden algorithmisch verarbeitet, doch sie bleiben. In Momenten der Stille, nach dem Scrollen, im Übergang zwischen Serienfolgen, kehrt das Nichts zurück. Chauvier schildert dies nicht dystopisch, sondern mit einem analytischen Blick, der in der literarischen Form selbst einen Widerstand gegen die glatte Oberfläche bietet. Für Chauvier bedeutet die Ära der modernen Technologie und digitaler Kommunikation eine finale Stufe der Verdrängung beschrieben. Die Menschen finden durch dematerialisierte Netzwerke und die Simulation des Lebens („vie dématérialisée“, „vie ordinaire simulée“) eine neue Form der Ablenkung von der Todesangst. Diese virtuelle Existenz („exister vraiment sur une sorte de scène sociale virtuelle“) schafft zwar kurzfristig Profite und das Gefühl der „effervescence“, aber das Zitat zeigt die Kehrseite: Je tiefer sie in die simulierte Welt eintauchen, desto stärker wird das Gefühl des Verlusts des realen, „rohen“ Lebens („le cru de vie“). Die Angst kehrt in Momenten der Stille zurück, trotz algorithmischer Verarbeitung, was belegt, dass auch die moderne Rationalität und Technik nur Symptome und weitere, letztlich gescheiterte, Ablenkungsmanöver sind.

Die ultimative Form der Diversion und des Versuchs, die Angst zu eliminieren, ist das Projekt, den Tod selbst zu zerstören, indem das Bewusstsein digitalisiert wird. Angesichts der globalen Katastrophe schlägt die Spezies eine letzte, radikale Diversion vor: die Zerstörung des Todes („détruire la mort“) selbst. Die Idee ist, dass die Angst aus der Abstraktionsfähigkeit und der Schaffung von Metaphern für den Tod entsteht. Indem man das Bewusstsein digitalisiert („cortex des élus sont reproduits puis téléchargés“) und in einer simulierten Literalität („littéralité du monde“) ohne Metaphern leben lässt, soll die Quelle der Angst beseitigt werden. Dieses „prothetische Leben“ ist den wenigen „Auserwählten“ („élus“) vorbehalten, die das Projekt finanziert haben. Die Ironie des Scheiterns dieser ultimativen Diversion liegt darin, dass, obwohl ihre Angst tatsächlich eliminiert wird, die digitalisierten Wesen dies nicht bemerken („ils ne s’en rendent pas compte“). Die Angst ist verschwunden, aber das Bewusstsein ihres Verschwindens fehlt, was die Sinnlosigkeit dieses letzten Fluchtversuchs unterstreicht.

Am Ende der Geschichte, als die digitale Simulation gestört wird und das System zusammenbricht, kehrt die fundamentalste Angst zurück:

Dans la dernière étincelle, dans la faille infinitésimale, dans la grâce pétrifiée de ce pli de cosmos, comme une révélation absurde, grotesque, voilà, voilà : l’angoisse irrépressible que l’espèce s’est frénétiquement employée à conjurer.

Éric Chauvier, Un lac inconnu, Editions Allia, 2025.

Im letzten Funken, in der winzigen Spalte, in der versteinerten Anmut dieser Falte des Kosmos, wie eine absurde, groteske Offenbarung, da ist sie, da ist sie: die unbändige Angst, die die Spezies verzweifelt zu beschwören versucht hatte.

Im allerletzten Moment, bevor der digitale „Boîtier“ vom Schwarzen Loch vernichtet wird, kehrt eine körperliche Empfindung zurück, gefolgt von einer „absurden, grotesken“ Offenbarung: die unbezwingbare Angst („l’angoisse irrépressible“), die die Spezies während ihrer gesamten Existenz so verzweifelt versucht hat zu bannen. Dies ist der tragische Abschluss. Die Angst vor dem Tod, die Quelle fast aller Handlungen und Entwicklungen der Spezies, kann letztlich nicht besiegt, zerstört oder dauerhaft verdrängt werden. Sie ist die letzte Empfindung, die im Moment der Vernichtung zurückkehrt, was die gesamte Geschichte als eine vergebliche Flucht vor dem Unausweichlichen darstellt.

In diesem düsteren Panorama der menschlichen Zivilisation als gescheiterter Fluchtversuch vor der Angst spielt die Literatur, insbesondere die Poesie, eine konträre und zentrale Rolle. Chauvier identifiziert die Poesie als die „einzige Form echter Emanzipation“ („la seule percée d’émancipation, elle est poétique“). Im Gegensatz zu abstrakten Konzepten, die unsere Erfahrung umgehen, ermöglicht die Poesie eine unmittelbare Erfahrung der Dinge. Dichter wie Mandelstam (den er zitiert), Yeats oder Sylvia Plath erreichen für ihn eine „richtige Größe“ oder „angemessene Dimension“ („juste mesure“, „juste taille“) im Verhältnis zur Welt und zur eigenen Sterblichkeit. Sie akzeptieren ihre Sterblichkeit („accepter sa condition de mortel“), was für Chauvier das Gegenteil des Verhaltens von Diktatoren und Oligarchen ist. Poesie vermag es, „an die Realität anzudocken, ohne diese vorwegzunehmen“.

Die Entstehung der Poesie oder des künstlerischen Impulses wird eindringlich durch die Szene in der Höhle dargestellt. Chauvier greift hier auf die (umstrittene) Hypothese des italienischen Archäologen Emmanuel Anati zurück, wonach die frühen Künstler enorme Risiken eingingen, sich in gefährliche Höhlen zurückzogen, um dort zu schaffen, und dabei die Konfrontation mit der Todesgefahr suchten. Es war der Akt selbst, das riskante „Happening“, das zählte, nicht nur das Ergebnis. Im Gegensatz dazu ist die Kunst heute oft zu einem „Tauschwert“ („valeur d’échange“) geworden, was ihren ursprünglichen, von Chauvier dargestellten Sinn neutralisiert hat. Die Funktion der Kunst sollte heute darin bestehen, das Geschehen zu „sublimieren“ und unsere gegenwärtige Lage erträglich zu machen.

Gedichte, Fragmente, Verse durchziehen den Schluss und markieren einen Übergang: Aus dem analytischen Blick wird eine andere Sprache. Die Poesie verzichtet auf Erklärung. Sie benennt nicht die Ursachen, sie zählt die Dinge nicht auf. Stattdessen schafft sie Resonanzräume. Hier, so scheint es, kann die Todesangst nicht gebannt, aber geteilt werden. Poesie ist keine Lösung, kein Trost und auch keine Erlösung. Sie ist die Form, in der das Unaussprechliche Raum bekommt. Chauviers Sprache ist in diesen Passagen nicht versöhnlich, doch sie ist offen. Sie fragt, ohne zu urteilen. Sie beschreibt, ohne zu kontrollieren. Sie lässt den Leser allein, aber nicht verlassen. Poesie wird nicht als „Heilmittel“ (remède) oder Trost dargestellt, sondern als eine „Illusion, die sich selbst als solche annimmt“. Gleichzeitig wird sie als „anti-fictionnelle“ bezeichnet. Im Gegensatz zu anderen Formen der Zivilisation – wie Religion oder digitale Simulation – versucht Poesie nicht, die Realität oder die Angst zu verschleiern. Sie schafft stattdessen „Resonanzräume“ und gibt dem „Unaussprechlichen“ Raum. So bietet Poesie einen Widerstand gegen die glatte Oberfläche der Verdrängung und ermöglicht eine Form des Teilens der Todesangst, auch wenn sie keine Erlösung verspricht.

Das Buch zeigt sich trotz seines sehr dunklen Bildes der Spezies nicht verzweifelt für das Individuum. Chauvier sieht keine Rettung für die Spezies als Ganzes, insbesondere weil diejenigen, die eine verhängnisvolle Zukunft anstreben, die Macht innehaben. Aber auf individueller Ebene gebe es „poetische Räume“ und Möglichkeiten, diese „richtige Größe“ oder „Harmonie“ in der Natur oder Stadt zu finden. Es gehe darum, dieses Maß durch Poesie und Kreativität zu finden.

Das Ende des Buches ist literarisch und metaphorisch aufgeladen. Die digitale Bewusstseins-Box, die dem schwarzen Loch entgegenrast, erlebt in ihren letzten Momenten die Erscheinung eines „unbekannten Sees“ („un lac inconnu“). Der Titel des Buches leitet sich von dieser Metapher ab, die nicht von Chauvier stammt, sondern von Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verwendet wurde, um das Unbewusste zu bezeichnen, und von Jean-Yves Tadié wiederaufgenommen wurde. Chauvier nutzt diese Metapher am Ende, um mit der Skala zu spielen: Am Rande des unendlichen Kosmos landet man letztlich an den Grenzen des Unbewussten des geklonten Kortex. Es ist ein Haiku-ähnliches Spiel der Skala. Die Assoziation im oben genannten Interview mit dem See in Dürers „Melencolia I“ unterstreicht die melancholische, tiefgründige Symbolik. Selbst im Angesicht der ultimativen Vernichtung kehrt die Existenz zum Rätsel des Inneren zurück.

Der Entstehungsprozess dieses vielschichtigen Werks war, wie Chauvier berichtet, langwierig – fünf bis sechs Jahre. Es begann als Essay und wurde durch zahlreiche Überarbeitungen und den Austausch mit seinem Herausgeber zu seiner finalen, poetischen Form gebracht. Chauvier beschreibt das Schreiben auch als das Bauen einer „kleinen Welt“ („petit monde“), die ihm als „Zuflucht“ („refuge“) dient. Diese kreative Tätigkeit selbst scheint eine Form der Bewältigung oder Sublimierung zu sein, die ihm „Freude am Schreiben“ („joie d’écrire“, „plaisir de la phrase“) bereitet.

Bleibt die Frage des Titels, Un lac inconnu. Anfangs wird eine Wasserfläche von den frühen Vertretern der Spezies als erahnte „source de vie“ (Quelle des Lebens) wahrgenommen, die eine ambivalente Stabilität bietet. Später wird die am See verbrachte „vie lacustre“ jedoch zunehmend mit einer wachsenden und schließlich unerträglichen Angst vor der Sterblichkeit verknüpft. Diese Angst führt zur Flucht aus dem als Illusion erkannten „foyer rassurant“ (beruhigenden Herd) am See in feindliche Räume. Am Ende der Erzählung, nachdem die physische Welt zerstört und alle technologischen Ablenkungen versagt haben, erscheint einem sterbenden digitalen Bewusstsein die „image d’un lac. Un lac inconnu“ (Bild eines Sees. Ein unbekannter See). Dieser unbekannte See kann als symbolische Rückkehr zu einer primordialen Erinnerung oder als Konfrontation mit der nackten, unvermeidlichen Realität der Existenz und des Todes interpretiert werden. Das Adjektiv „inconnu“ betont dabei, dass dieses grundlegende Geheimnis trotz aller Fortschritte und Versuche der Spezies, es zu umgehen oder zu leugnen, unbekannt und unzugänglich bleibt. Es erscheint, als die ultimative technologische Ablenkung, die digitale Unsterblichkeit, durch das schwarze Loch zunichte gemacht wird. Der Titel Un lac inconnu umspannt so die tragische Reise der Spezies von einem wahrgenommenen Ursprung des Lebens bis hin zur letzten Begegnung mit dem unerforschten Abgrund der Vernichtung.

In Chauviers früheren Büchern finden sich Anschlüsse: In Plexiglas mon amour trifft der Erzähler auf seinen alten Freund Kevin, der sich dem Survivalismus verschrieben hat. Während Éric zunächst skeptisch ist, lässt er sich zunehmend auf Kevins Lebensstil ein und beginnt, seine eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Laura erzählt die Geschichte eines Wiedersehens zwischen Éric und seiner Jugendliebe Laura. Während sie auf einem Parkplatz Wein trinken und rauchen, reflektiert Éric über ihre gemeinsame Vergangenheit, soziale Unterschiede und die Unmöglichkeit einer echten Verbindung. In Le Revenant kehrt Baudelaire als obdachloser Geist ins heutige Paris zurück. Er beobachtet die Stadt und ihre Bewohner, erkennt jedoch, dass seine poetische Sprache und Sensibilität in der modernen Welt keinen Platz mehr haben. Les Nouvelles Métropoles du désir beschreibt eine Szene in Chauviers Heimatstadt, in der drei Jugendliche einen Mann angreifen. Er folgt dem Opfer in einen trendigen Club und reflektiert über die Oberflächlichkeit moderner urbaner Kultur und die Entfremdung in globalisierten Städten. In Les Mots sans les choses kritisiert Chauvier die inflationäre Verwendung wissenschaftlicher Begriffe im Alltag, die oft ohne echtes Verständnis genutzt werden. Er warnt vor den Gefahren solcher Vereinfachungen und betont die Bedeutung präziser Sprache. Somaland erzählt von einem Experten, der die Auswirkungen einer Fabrik, die toxische Substanzen freisetzt, auf eine benachbarte Gemeinde untersucht. Dabei stößt er auf persönliche Geschichten der Bewohner und erkennt die tiefgreifenden sozialen und psychologischen Auswirkungen der Umweltverschmutzung. In Contre Télérama reagiert Chauvier auf einen Artikel, der die Vororte als hässlich bezeichnet. Er bietet eine ethnografische Untersuchung des Lebens in der Peripherie, beschreibt mit Humor und Ironie den Alltag der Bewohner und kritisiert die elitäre Sichtweise der Medien. La crise commence où finit le langage analysiert den Begriff „Krise“ und argumentiert, dass er oft als leere Hülle verwendet wird, die echte Diskussionen verhindert. Chauvier plädiert auch hier für eine Rückkehr zu präziser Sprache, um gesellschaftliche Probleme wirklich zu verstehen. Que du bonheur ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem modernen Streben nach Glück. Chauvier hinterfragt die Oberflächlichkeit dieses Ziels und beleuchtet die gesellschaftlichen Mechanismen, die das Glücksversprechen prägen. In Si l’enfant ne réagit pas beobachtet ein Anthropologe in einer Einrichtung für Jugendliche die Interaktionen zwischen Betreuern und Jugendlichen. Besonders die stille Joy fasziniert ihn, und er beginnt, die Grenzen wissenschaftlicher Beobachtung und persönliche Betroffenheit zu hinterfragen. Anthropologie reflektiert über die Praxis der Anthropologie und die Herausforderungen, die mit der Beobachtung und Interpretation menschlichen Verhaltens verbunden sind. Chauvier betont die Bedeutung von Selbstreflexion und die Grenzen objektiver Analyse. Diese Werke zeichnen sich durch Chauviers einzigartigen Stil aus, der ethnografische Beobachtungen mit persönlicher Reflexion verbindet. Er hinterfragt gesellschaftliche Normen, Sprache und die Rolle des Beobachters in der modernen Welt.

Insgesamt ist Éric Chauviers Un lac inconnu ein herausragendes Beispiel für ein Buch, das die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Forschung (insbesondere der Anthropologie), historischer Reflexion und literarischer Kreativität aufhebt. Mit seiner poetischen Form und seiner radikalen Metaerzählung entwirft Chauvier eine umfassende und zugleich höchst persönliche Vision der Menschheitsgeschichte, die von der fundamentalen Angst vor dem Tod als treibender Kraft geprägt ist. Das Buch zeichnet ein Bild der Zivilisation als einer Abfolge von gescheiterten Ablenkungsmanövern, die sich in Wirtschaft, Politik, Abstraktion und selbst in modernen Technologien manifestieren. Gleichzeitig bietet es in der Poesie einen Hoffnungsschimmer für die individuelle Emanzipation und die Akzeptanz der menschlichen, sterblichen Bedingung. Die literarischen Mittel – die Ent-Lokalisierung, die lyrische Prosa, die Verwendung von Metaphern wie dem „unbekannten See“ – sind dabei nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern konstitutiv für die Vermittlung zwischen komplexer anthropologischer und existenzieller Reflexion. Für Literaturwissenschaftler bietet das Buch eine reiche Grundlage, um über die Möglichkeiten und Grenzen von Narrativen zu sinnieren, die sich der Bewältigung fundamentaler menschlicher Fragen widmen und dabei traditionelle Genregrenzen sprengen.

Un lac inconnu ist ein Text über die Menschwerdung, aber nicht im affirmativen Sinn. Er zeigt, wie jede Form von Ordnung, Technik, Macht und Kultur auf eine Erfahrung antwortet, die nicht beantwortet werden kann: das Wissen um den eigenen Tod. Die Zivilisation erscheint als eine Geschichte des Scheiterns, doch nicht im moralischen Sinn, sondern als tiefer Ausdruck einer conditio humana, die keine Lösung kennt. Der Text ist deshalb nicht pessimistisch. Er ist klar. Seine literarische Kraft liegt in der Verknüpfung von Erkenntnis und Form. Die Sprache trägt die Angst nicht hinweg, aber sie trägt sie. Kurz bevor das letzte Überbleibsel der digitalisierten Menschheit (der korrodierte Boîtier t-345) in einem schwarzen Loch ausgelöscht wird, erscheint eine „Offenbarung“, in diesem letzten Moment der Existenz, die Erkenntnis der Angst selbst.


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