Inhalt
- Eine Tugendlehre des Geistes aus dem Maghreb
- Koloniale Amnesie?
- Prägungen in Nordafrika
- Pierre Bourdieu (1. Ein algerischer Bildungsroman)
- Jean-François Lyotard (2. Hoffnungslose Widersprüchlichkeit)
- Roland Barthes (3. Marokkanische Erleuchtung)
- Michel Foucault (4. Genießen und schweigen)
- Jacques Derrida (5. Unbehagen an der Identität)
- Hélène Cixous (6. Höllisches Paradies)
- Étienne Balibar (7. Lektionen in Antirassismus)
- Jacques Rancière (8. Desidentifiziert Euch!)
- Rezeption des Buches
- Fazit zum Ertrag des Buches
Eine Tugendlehre des Geistes aus dem Maghreb
Onur Erdurs Monografie Schule des Südens: die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie widmet sich einem bisher im Großen erstaunlich vernachlässigten Aspekt der französischen Geistesgeschichte: den tiefgreifenden biografischen und intellektuellen Prägungen, die führende Denkerinnen und Denker der Nachkriegszeit durch ihre Erfahrungen in den französischen Kolonien Nordafrikas erfuhren. Das Buch bietet eine „neue, frische Perspektive auf diesen Theoriediskurs wie auch auf die politischen Dimensionen von Theorie im Allgemeinen“.
Die zentrale Prämisse des Buches ist, dass Theorien untrennbar mit den gelebten Erfahrungen ihrer Urheberinnen und Urheber verbunden sind. Erdur argumentiert, dass die „französische Theorie“ – ein Sammelbegriff für unterschiedliche Denkansätze wie Poststrukturalismus, Dekonstruktion und Postmoderne – nicht im luftleeren Raum akademischer Pariser Salons entstand, sondern maßgeblich durch die „kolonialen Grenz- und Differenzerfahrungen ihrer Protagonisten“ in Nordafrika geformt wurde.
Erdur erweitert die traditionelle Betrachtung der französischen Theorie, die sich oft auf Paris und die „École Normale Supérieure“ konzentriert, indem er stattdessen die „Strände Nordafrikas“ und die „Straßen von Algier, Oran und Tunis“ als Entstehungsorte dieses Denkens in den Vordergrund rückt. Er fragt explizit, inwiefern die biografischen Erfahrungen (als Pieds-Noirs, Wehrdienstleistende, Touristen, Universitätsmitarbeiter) in Nordafrika in den Theorien dieser Denker artikuliert wurden. Dies stellt eine Abkehr von früheren Arbeiten dar, die den Themenkomplex „Kolonialismus und französische Philosophie“ zwar problematisierten, aber selten historisch und ortsbezogen vorgingen. Das Buch bietet eine „Erkundungsreise in den Süden der französischen Theorie“, um das Ausmaß dieser Prägungen zu ermessen.
Ein weiteres Anliegen ist es, die moralische und intellektuelle Verantwortung von Intellektuellen in Zeiten des Kolonialismus zu beleuchten. Erdur nennt dies eine „Tugendlehre des Geistes im Angesicht des kolonialen Unrechts“. Er versucht nicht, die Theorien auf bloße Biografien zu reduzieren oder eine mechanische Determiniertheit zu behaupten, sondern zeigt, wie diese Erlebnisse interpretiert und in theoretische Projekte eingebaut wurden.
Koloniale Amnesie?
Das Verhältnis von Anfangs- und Schlussteilen ist dynamisch: Die Einleitung formuliert die Forschungslücke und die zentrale These. Die Porträts der Denker (die Hauptkapitel) liefern die empirische Untermauerung. Kapitel 9 nutzt diese historische Fundierung, um gegenwärtige politische Missinterpretationen zu deuten. Der Schluss verbindet beides, indem er die historische Relevanz der kolonialen Prägung mit der anhaltenden Aktualität der Theorien verbindet und die Notwendigkeit ihrer kritischen Weiterführung betont;
Die Einleitung „Im Süden der Theorie“ etabliert die zentrale These, dass eine „koloniale Formatierung des Denkens“ die französischen Intellektuellen prägte und dass ihre persönlichen Konfrontationen mit kolonialen Räumen und Situationen – sei es durch Geburt oder längere Aufenthalte – eine unbestreitbare biografische Realität darstellten. Es wird das „koloniale Dilemma“ eingeführt, dem sich die Denker ausgesetzt sahen: wie man sich zum Unrecht des Kolonialismus verhält, wenn man gleichzeitig Repräsentant des französischen Staates oder Bildungssystems war.
Kapitel 9: „Wer hat Angst vor der Theorie?“ dient als kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Rezeption und Delegitimierung der französischen Theorie. Erdur zeigt auf, wie Vorwürfe wie „Cancel Culture“, „Wokeness“ und „Identitätspolitik“ systematisch mit der französischen Theorie in Verbindung gebracht werden, oft basierend auf „grotesken Fehllektüren, Unterstellungen und Ressentiments“. Er argumentiert, dass diese „Theorie-Bashings“ Teil einer „politischen Agenda von sehr oft konservativen und rechts Bewegungen“ sind. Er verdeutlicht, dass die Dekonstruktion hier als „Pappkamerad“ dient, um „ideologische Auswüchse“ zu bekämpfen, die die französische Theorie jedoch in ihrem Kern ablehnt. Dieses Kapitel ist entscheidend, um das Buch nicht nur als historische Studie, sondern auch als einen Beitrag zur aktuellen Kulturdebatte zu verorten. Es nutzt die detaillierte historische Analyse der vorhergehenden Kapitel, um die Fehlannahmen der Kritiker zu entlarven, insbesondere die Behauptung, französische Theorie sei für die Dogmatisierung von Identität verantwortlich. Erdur betont, dass diese Theorien vielmehr gegen festgefugte Identitäten plädieren.
Der Schluss „Die Fremden“ vertieft die Reflexion über das Erbe des Kolonialismus und dessen Verdrängung in der französischen Gesellschaft. Er resümiert die „Schlüsselereignisse und Erweckungsmomente“ in Nordafrika, die die Denkweisen prägten. Erdur stellt fest, dass die französischen Intellektuellen – mit Ausnahmen wie Balibar und Cixous – jahrzehntelang über die Kolonialvergangenheit schwiegen, was eine „kollektive Amnesie“ in der Gesellschaft widerspiegelte. Gleichzeitig betont er, dass diese „kolonialen Erfahrungen nicht auf Lebensschicksale oder politisch-moralische Einstellungen begrenzt blieben, sondern sich auch in den Theorien und Werken niederschlugen“. Der Schluss ist ein Plädoyer für das „unablässige Wirken“ dieser Theorien im Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Nationalismus und unterstreicht die Notwendigkeit, die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie zu suchen, um die Verbindung von Denken, Ort und Zeit zu verstehen. Die Spannung zwischen der historischen Verdrängung des Themas und der späten Reflexion der Denker selbst (meist in den 1990er-Jahren) wird hier aufgegriffen.
Prägungen in Nordafrika
Erdur widmet jedem Denker ein eigenes Porträt, um die Komplexität der individuellen Erfahrungen und deren Verarbeitung zu würdigen. Die Unterschiede zwischen den kolonialen und postkolonialen Settings sind zu groß, um in einer homogenisierenden Erzählung aufzugehen.
Pierre Bourdieu (1. Ein algerischer Bildungsroman)
Bourdieu leistete seinen Wehrdienst in Algerien (1955-1960), war schockiert von der „entwurzelten algerischen Gesellschaft“ und empfand seine Anwesenheit als „Ursünde des Intellektuellen aus dem Lande der Kolonialherren“. Er blieb freiwillig im Land, um „etwas Nützliches zu tun“ und Zeugnis abzulegen. Er begann soziologische und ethnologische Studien in Algerien, die die „Grundzüge seines berühmten Habitus Konzeptes“ hervorbrachten. Er kritisierte die koloniale Enteignung und die Zerstörung der kabylischen Lebensweise.
Das Verständnis des Habitus-Konzepts wird substanziell erweitert, da es nicht primär aus der Beobachtung der Pariser Bildungselite, sondern aus der algerischen Erfahrung der Anpassungsschwierigkeiten entwurzelter kabylischer Bauern stammt. Bourdieu wurde in Algerien zum „Linken“.
Bourdieu profitierte von der Existenz eines wissenschaftlichen Settings, das ohne den Kolonialismus in dieser Form nicht existiert hätte. Er wies Sartres und Fanons Ansichten über die algerische Bauernschaft als „idiotisch“ zurück.
Spannend an Erdurs Lesart scheint mir: Bourdieus frühes Engagement und die systematischen Beobachtungen zeigten, wie tief er von der Ungerechtigkeit betroffen war. Die Idee, dass er in Algerien „sich selbst akzeptieren“ konnte. Die „transkulturelle Verflechtung“ des Habitus-Konzepts. Die Episode der Rückkehr in den Béarn, seiner Heimatregion, und die Anwendung des ethnologischen Blicks auf die eigene Herkunft, die eine „Aussöhnung mit den Dingen und Menschen seiner Heimat“ ermöglichte.
Jean-François Lyotard (2. Hoffnungslose Widersprüchlichkeit)
Lyotard war Lehrer im ostalgerischen Constantine in den frühen 1950ern und engagierte sich für die antikoloniale FLN als „Kofferträger“. Seine Erfahrungen dort, insbesondere die „hoffnungslose Widersprüchlichkeit“ zwischen Unterstützung der Befreiungsbewegung und Kritik ihrer bürokratischen Strukturen, prägten sein Denken.
Sein Konzept der Postmoderne, das von der Skepsis gegen universelle Erzählungen geleitet ist („Ende der großen Erzählungen“), wird unmittelbar mit seinen algerischen Erfahrungen und der Desillusionierung über den Marxismus in Verbindung gebracht.
Erdur merkt an, dass Lyotard seine algerische Ambivalenz später zu einem „inneren unauflösbaren Widerstreit“ erklärte, was als Versuch einer theoretischen Kontinuität verstanden werden kann, der die spezifischen politischen Kämpfe vernebelte.
Spannend an Erdurs Lesart scheint mir: Lyotards „militanter Aktivismus in der Klandestinität“ als „Kofferträger“. Die Idee, dass man für eine Sache eintreten und gleichzeitig ihre theoretischen oder politischen Prämissen kritisieren kann. Die Analyse der französischen Kolonialmacht als permanenter „Widerstreit“ in sich selbst.
Roland Barthes (3. Marokkanische Erleuchtung)
Barthes verbrachte Zeit in Marokko (und Tunesien), suchte dort „Orte der Inspiration und der erotischen Abenteuer“. Er erlebte in Casablanca eine „Erleuchtung“ und fantasierte sich zum Romancier. Sein Werk „Mythen des Alltags“ enthält umfangreiche und kritische Auseinandersetzungen mit kolonialen Mythen und der französischen Kolonialfrage.
Das Buch beleuchtet, wie präsent die nordafrikanischen Kolonien in der französischen Alltagskultur der Nachkriegszeit waren und wie Barthes diese kulturelle Hegemonie in seinen „Mythen des Alltags“ dekonstruierte, zum Beispiel am Beispiel von „Wein und Milch“.
Barthes wird für seinen „homoerotischen Orientalismus“ und ein „Bohème-Leben in einem postkolonialen Kontext“ kritisiert, für den er sich „kaum zu interessieren schien“. Seine privaten erotischen Begegnungen in Marokko (dokumentiert in „Begebenheiten“) wurden als „neokoloniale Ausbeutung, Prostitution, Sexismus, Chauvinismus, Othering, Orientalismus“ kritisiert. Er genoss die „brillanten Auswirkungen einer Zivilisation“, für die er keine Verantwortung trug. Es bleibt eine „gewisse Dissonanz“ zwischen seiner antikolonialistischen Kritik der 1950er-Jahre und seinen Marokko-Aufenthalten.
Spannend an Erdurs Lesart scheint mir: Barthes’ Fähigkeit, die „Mystifikation deutlich zu machen, die die kleinbürgerliche Kultur in universelle Natur verwandelt“, insbesondere im Hinblick auf den Kolonialismus. Seine Analyse des Exotismus als „ideologisches Hilfsmittel“ zur Kompensation der Verlusterfahrung des Empire.
Michel Foucault (4. Genießen und schweigen)
Foucault lebte von 1966 bis 1968 in Sidi Bou Saïd (Tunesien) und genoss dort ein hedonistisches Leben. Er suchte eine „Oase des Friedens ohne Askese“. Seine „Archäologie des Wissens“ entstand dort, zeigt aber keine expliziten Tunesien-Bezüge. Er beanspruchte später, seine politische „Feuertaufe“ in Tunesien erlebt zu haben, angesichts der Studentenproteste.
Erdur stellt Foucault als „weißen Dandy und gewissenlosen Hedonisten“ dar, der sich für die koloniale Situation kaum interessierte und in seinem Werk eine „eklatante Fehlstelle“ zum Thema Kolonialismus aufweist.
Foucaults „Schweigen“ zu den neokolonialen Lebensbedingungen und der französischen Kolonialherrschaft wird als „neokoloniales Privileg“ gedeutet. Er profitierte von der Situation, blendete die Machtasymmetrien aus. Postkoloniale Kritiker wie Edward Said sahen dies als „intellektuellen Vatermord“.
Spannend an Erdurs Lesart scheint mir: Der Kontrast zwischen Foucaults strengem, asketischem Schreibstil in Die Archäologie des Wissens und seinem ausschweifenden, sinnlichen Leben in Tunesien. Die Debatte, ob sein Schweigen auch als „gewissenhaftes Verhalten“ oder eine „Ethik der Zurückhaltung“ interpretiert werden kann, bei Dingen, die ihn als Ausländer nichts angehen durften.
Jacques Derrida (5. Unbehagen an der Identität)
Derrida wurde 1930 in El Biar, einem Vorort von Algier, als Jude geboren und erlebte in seiner Jugend (unter dem Vichy-Regime) Ausbürgerung, Antisemitismus und Staatenlosigkeit. Dies führte zu einem tief verwurzelten „Unbehagen an der Identität“ und einer „allergischen Empfindlichkeit gegenüber Zugehörigkeiten“.
Erdur argumentiert, dass diese traumatischen Erfahrungen die „Urszene“ seines philosophischen Denkens der Dekonstruktion darstellen und dass seine Philosophie sich „mit aller Macht gegen die Idee von allzu festgefügten Identitäten“ stemmt. Derrida gemäß hatte „alles, was er mache, schreibe und zu denken versuche, eine gewisse Affinität zur Postkolonialität“.
Derrida schwieg jahrzehntelang über seine algerische Herkunft und die kolonialen Hintergründe seines Denkens. Seine späteren autobiografischen Äußerungen wurden auch als „bequemes Self-Fashioning“ interpretiert.
Spannend an Erdurs Lesart scheint mir: Derridas „Dekonstruktion“ wird in dieser Lesart zu einer Form der „kulturellen und intellektuellen Dekolonisierung der Philosophie“. Die Art, wie er seine eigene dramatische Biografie nutzte, um Kategorien wie Herkunft und Identität zu „zertrümmern“.
Hélène Cixous (6. Höllisches Paradies)
Cixous wurde 1937 in Oran, Algerien, geboren und teilte ähnliche traumatische Erfahrungen von Antisemitismus, Stigmatisierung und Entwurzelung wie Derrida. Sie prägte den Begriff „Algériance“, um ihre ambivalente Loyalität zu Algerien auszudrücken. Ihre Erfahrungen flossen direkt in ihre „écriture féminine“ ein, einem „weiblichen Schreiben gegen das phallozentrische System“.
Cixous wird als radikales Vorbild verstanden. Sie hat ihre algerische Herkunft selbst zum Thema gemacht und damit eine frühe und explizite Auseinandersetzung mit der französischen Kolonialvergangenheit geführt, die sich von anderen Intellektuellen ihrer Generation abhob.
Spannend an Erdurs Lesart scheint mir: Cixous‘ Fähigkeit, erlittene Wunden in „Literatur und in Theorie zu transformieren“ und dabei etwas „Neues, Einzigartiges“ zu schaffen. Die Verbindung von kolonialer Unterdrückung mit kapitalistischer Ausbeutung, Rassismus und Sexismus. Ihre Ideen zur Geschlechteridentität als „dynamisch und plural“ werden als Vorwegnahme der heutigen „Genderfluidität“ gesehen.
Étienne Balibar (7. Lektionen in Antirassismus)
Als junger Pariser Student wurde Balibar durch den Protest gegen den Algerienkrieg politisiert und erlebte Polizeigewalt bei Demonstrationen. Nach der Unabhängigkeit ging er als „Pied-Rouge“ nach Algerien, um am akademischen Wiederaufbau teilzunehmen. Seit den 1970er-Jahren ist er eine wichtige linke Stimme im Kampf gegen Rassismus und verbindet politisches Engagement mit philosophischen Analysen. Er verfasste mit Wallerstein „Rasse, Klasse, Nation“, ein Standardwerk der Rassismusforschung.
Balibar wird als Pionier antirassistischer Theorie dargestellt, dessen Arbeit die Funktionsweise von Rassismus im Zusammenspiel mit Kapitalismus und Nationalstaat beleuchtet. Sein Konzept des „Rassismus ohne Rassen“ (oder „kultureller Rassismus“) ist besonders relevant.
Sein verspäteter Fokus auf Rassismus nach dem Niedergang des Althusserianismus. Seine anfängliche Treue zu einer „verknöcherten, moskautreuen Partei“.
Spannend an Erdurs Lesart scheint mir: Balibars Analyse der „Umstülpungseffekte“ rechter Rhetorik, die antirassistische Argumente gegen sich selbst wendet. Seine frühen Beobachtungen zur Renaissance des Rechtspopulismus. Die Ähnlichkeiten seiner Rassismusanalyse mit dem Konzept der Intersektionalität.
Jacques Rancière (8. Desidentifiziert Euch!)
Rancière wurde 1940 in Algier geboren, zog aber als Kind nach Frankreich. Er äußerte sich erst in den 1990er-Jahren zum Massaker vom 17. Oktober 1961 in Paris und der französischen Kolonialvergangenheit. Sein zentrales Konzept ist die „Desidentifikation“, die Verweigerung kollektiver Zuschreibungen und Identitäten zum Zwecke der politischen Subjektivierung.
Seine „verdrucksten Einlassungen zu Algerien“ werden als „verstörend“ empfunden, da sie den Prinzipien seiner eigenen politischen Philosophie entgegenzulaufen scheinen. Sein Konzept der Desidentifikation wird als Versuch eines in Algerien geborenen Denkers gedeutet, ein Gewaltverbrechen theoretisch zu verarbeiten und mit seiner eigenen Politisierung in Einklang zu bringen.
Rancière schwieg jahrzehntelang zu seiner algerischen Herkunft. Er reduzierte die algerischen Opfer des Massakers auf abstrakte, namenlose Gestalten und verdoppelte so deren Unsichtbarkeit. Er unterstellte ihnen, „Identitätskrieger“ zu sein, die sich nicht desidentifizieren könnten und daher keine politischen Subjekte würden. Seine kategorische Ablehnung der Identitätspolitik wurde als „differenzblinder Universalismus“ kritisiert, der die Anliegen marginalisierter Gruppen nicht ernst nimmt. Seine Behauptung, in Frankreich gäbe es keine Identitätspolitik und Postkoloniale Studien, war naiv oder ignorant. Er sah „unmögliche Solidarität“ zwischen seiner Generation und den Algeriern.
Spannend an Erdurs Lesart scheint mir: Seine Kritik an der Identitätspolitik von einer „linken“ Perspektive aus, die vor „allzu festgefahrenen identitätspolitischen Standpunkten“ warnt. Sein Plädoyer für ein Denken, das den Blick auf politische Subjektivierungsweisen statt auf vorgebildete Identitäten richtet.
Rezeption des Buches
Das Buch „Schule des Südens“ wurde in den Medien sehr positiv aufgenommen. Es wird als „ganz wunderbare Monografie“ und als „hervorragend gemachtes Buch“ beschrieben, das eine „neue, frische Perspektive“ auf den Theoriediskurs wirft. Johannes Angermuller lobt das „reiche historische Material“ und die „profunde Theoriekenntnis“, die zu einem „wirklichen intellektuellen Lesespaß“ führt. Elisabeth von Thadden nennt es 2024 in der ZEIT „das Buch des Sommers“ und hebt hervor, dass es „mit staunenswerter Leichtigkeit und menschlicher Nähe“ von einem „bisher tatsächlich unerforschten Stoff“ erzählt.
Jörg Später (Die Tageszeitung) argumentiert, Erdur gelinge es, „profane Entstehungskontexte“ großer Philosophie zu rekonstruieren, wodurch man „das Werk mit anderen Augen lesen“ könne. Er betont, dass die „philosophischen Strömungen des Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus“ nicht nur eine postkoloniale Gegenwart, sondern auch eine koloniale Vergangenheit haben. Später lobt, wie Erdur aufzeigt, dass die Identifizierung der französischen Theorie mit „manichäischen Gegenüberstellungen“ oder die Mitverantwortung für „Wokeness“ und „Identitätspolitik“ vereinfachend und teils grotesk falsch ist. Er schätzt Erdurs „Augenmaß und Freude an der historischen Genauigkeit“ und betont, dass „kein Determinismus, kein Biografismus hier die Feder führte“.
Sonja Asal (Frankfurter Allgemeine Zeitung) bestätigt Erdurs These, dass „zentrale Schlagwörter und Werke der französischen Theorie ohne die kolonialen Grenz- und Differenzerfahrungen ihrer Protagonisten nicht zu verstehen sind“. Sie hebt Erdurs präzise Argumentation und historische Verortung hervor und sieht das Buch als „Plädoyer gegen das eklatante Vorurteil von der vorgeblichen Geschichtsvergessenheit der französischen Theorie“. Asal merkt kritisch an, ob ein so differenziert argumentierendes Buch gegen die „ideenhistorischen Vereinfachungen“ im aktuellen Diskurs ausrichten kann.
Lukas Franke (DIE ZEIT) bestätigt, dass die Theorien „vom Leben an der Peripherie des zerfallenden französischen Kolonialreiches inspiriert wurden“, wo „die Brüche und Inkonsistenzen Europas unmittelbar sichtbar wurden“. Er lobt, dass Erdur eine lebendige Verbindung zwischen Biografien, Theorien und der zeitgeschichtlichen Situation herstellt, ohne jedoch die philosophische Bedeutung an ihre Entstehung oder ihren Kontext zu koppeln. Franke betont, dass das Buch die Angriffe rechter und linker Kulturkämpfer als „Unsinn“ überführt, die die Postmoderne für alles verantwortlich machen.
Stephan Wolting (literaturkritik.de) würdigt Erdurs Verdienst, die Bezüge zwischen Kolonialismus/Dekolonialismus und den biografischen Verwurzelungen der französischen Denker „aufgedeckt zu haben“. Er erwähnt, dass Erdur trotz des Schwerpunkts auf Identität kein „vorschnelles“ Urteil über Identitätspolitik oder „Wokeness-Konzepten“ fällt. Wolting hebt hervor, dass die „Fremdheits- und Grenzerfahrungen“ in Nordafrika „maßgeblich und bestimmend“ für den Denkstil der Protagonisten waren.
Onur Erdur diskutierte im „Mittelweg 36“ Podcast seine Absichten. Er betont, dass „Französische Theorie“ als Label („French Theory“) eine US-amerikanische Erfindung sei und als „Markenzeichen“ fungiere, während die Inhalte der Theorien sehr heterogen seien. Die Gemeinsamkeiten seiner Protagonisten lägen in einer gemeinsamen philosophischen Grundausbildung an der École Normale Supérieure, einem „leidenschaftlichen Hang zum Theoretisieren“ und einem „kritischen Gestus“ gegen Identität und für Differenz, gegen das Zentrum und für die Peripherie. Er bekräftigt, dass seine Protagonisten „allesamt Zeugen der Dekolonisierung waren“, was ihre Lebenswege, politischen Einstellungen und theoretischen Werke prägte. Erdur lehnt es ab, die unterschiedlichen Haltungen der Denker gegenüber der kolonialen Gewalt moralisch zu bewerten. Sein Ziel war es, die „Bandbreite an Haltung herauszuarbeiten“. Er spricht vom „kolonialen Dilemma“, in dem sich alle seine Protagonisten befanden: wie man sich dem offensichtlichen Unrecht des Kolonialismus verhält, wenn man gleichzeitig Repräsentant des französischen Staates oder Bildungssystems war.
Er erklärt, dass das „kollektive Schweigen“ und die „koloniale Amnesie“ nach 1962 in Frankreich dazu führten, dass es an französischen Universitäten bis in die 2000er Jahre hinein keine ähnliche Entwicklung postkolonialer Studien gab wie in angelsächsischen Ländern. Erdur kritisiert die gegenwärtige Vereinfachung, die französische Theorie für „Wokeness“ und „Identitätspolitik“ verantwortlich macht, und bezeichnet dies als „totale Fehllektüren, auf Ressentiments, auf Unterstellungen“, die einer historischen Prüfung nicht standhalten. Er sieht darin eine politische Agenda „sehr oft konservativer und rechter Bewegungen“, die einen „Pappkameraden“ aufbauen.
Abschließend fasst Erdur zusammen, was seine Protagonisten in der Schule des Südens gelernt haben: Sie erlebten Schlüsselereignisse, die sie zu „Fremden“ für sich selbst, ihre Nation und ihre Sprache machten. Diese „Fremdheits- und Grenzerfahrungen“ waren „maßgeblich und bestimmend, um auch zu ihrem Stil, zu ihrem Denken und zu ihren Theorien zu kommen“.
Fazit zum Ertrag des Buches
Onur Erdurs Schule des Südens leistet einen wichtigen Beitrag zur Ideengeschichte der französischen Theorie, indem es die bisher teilweise übersehenen kolonialen Wurzeln dieser Denkströmungen erstmals umfassend und differenziert beleuchtet. Der Ertrag des Buches lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Neue geografische und biografische Kontextualisierung
Erdur verortet die Entstehung zentraler theoretischer Konzepte in den gelebten Erfahrungen der Denker in Nordafrika. Dies korrigiert die eurozentrische Vorstellung, dass diese Theorien ausschließlich in Pariser Denkstuben entstanden sind.
Komplexität und Widersprüchlichkeit
Das Buch zeigt auf beeindruckende Weise die Ambivalenzen, Dilemmata und „hoffnungslosen Widersprüchlichkeiten“ mit denen die Intellektuellen konfrontiert waren. Es widerlegt einfache Schwarz-Weiß-Zeichnungen und bietet ein nuanciertes Bild des Verhältnisses von Denkern zu ihrer Zeit und den politischen Umbrüchen.
Aktualitätsbezug und Verteidigung der Theorie
Erdur nutzt die historische Analyse, um die aktuellen politisch motivierten Angriffe auf die französische Theorie als „Fehllektüren“ zu entlarven. Er demonstriert überzeugend, dass das Denken dieser Philosophen gerade gegen festgefugte Identitäten und für Differenz plädiert, und nicht, wie oft unterstellt, als Ursache für „Identitätspolitik“ und „Wokeness“ dient.
Erkenntnisgewinn für postkoloniale Studien
Das Buch erklärt, warum sich postkoloniale Studien in Frankreich später entwickelten als anderswo, und zeigt gleichzeitig auf, wie die kolonialen Erfahrungen zur Grundlage für die spätere Kritik an Eurozentrismus und Machtstrukturen wurden.
Hinterfragung des Verhältnisses von Leben und Werk
Ohne in plumpen Biografismus zu verfallen, macht Erdur überzeugend deutlich, wie „biografisch, historisch, politisch aufgeladen alle großen Philosophien sind“. Er zeigt, dass das persönliche Erleben nicht nur Einfluss hatte, sondern oft auch einen moralischen Impuls setzte, „nicht blind zu sein gegenüber bestehendem Unrecht“.
Insgesamt ist „Schule des Südens“ ein kenntnisreiches, stilistisch elegantes und intellektuell anregendes Werk, das nicht nur Spezialisten neue Aspekte eröffnet, sondern auch einem breiteren Publikum zugänglich ist.