Ich will alles geschrieben haben und alles zerstören: Pierre Michon

Pierre Michon war in Griechenland. Das Kapitel „Vergina“ aus J’écris l’Iliade (Gallimard, 2025) beginnt mit der Reise des Erzählers im Frühjahr 2003 nach Thessaloniki als „Writer in Residence“ (177). Seine anfängliche Distanz zur griechischen Kultur – er gibt zu, sich seit Jahrzehnten nicht mehr intensiv mit der Antike beschäftigt zu haben – macht seine spätere Faszination umso intensiver. Besonders zwei Orte werden ihm nahegelegt: der heilige Berg Athos und die Gräber von Vergina. Begeistert erfährt er, dass es sich bei Vergina um das kürzlich entdeckte Grab von Philipp II. von Makedonien handelt – dem Vater Alexanders des Großen. Persephones Entführung durch Hades, dargestellt auf einer berühmten Freske der Grabstätte, wird zur zentralen Interpretation des Kapitels. Michon erzählt, wie Hades die jungfräuliche Göttin ergreift, während sie Blumen pflückt. Das Bild ist voller Dynamik: Persephones Haare stehen wie im Schrecken ab, ihr Chlamys-Gewand rutscht herunter und entblößt ihren Körper, während Hades sie packt und in seinen Wagen zieht. Die Szene hat eine beunruhigende Ambivalenz: Sie ist einerseits ein Moment mythischer Gewalt, andererseits von atemberaubender Schönheit. Michon beschreibt die Darstellung mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Erregung, einer Faszination für das Erhabene und das Grausame, für das Mythologische und das Körperliche.

Enlèvement de Perséphone par Hadès, fresque de la tombe de Vergina, Grèce. Public Domain.

Das Kapitel endet nicht mit der archäologischen oder historischen Reflexion, sondern mit einer sehr persönlichen Szene. Nach dem Besuch flirtet Michon mit seiner Führerin Daphné. Sie trinken Wein, scherzen über Geschichte und Mythos, und schließlich kommt es zu einer Annäherung. Er beschreibt ihre Erscheinung mit der gleichen Mischung aus distanzierter Beobachtung und intensiver Sinnlichkeit wie zuvor die Fresken und Statuen. Doch dann, in einem plötzlichen Stimmungsumschwung, beginnt Daphné zu weinen. Es gibt keine Erklärung, keine Worte – nur diesen Moment unerwarteter Traurigkeit. Diese Szene spiegelt das gesamte Kapitel wider: eine Konfrontation mit Schönheit, Macht, Begehren und der unausweichlichen Gegenwart des Todes. Vergina wird so zu mehr als nur einem archäologischen Ort – es ist ein Raum, in dem Geschichte, Mythologie und persönliche Erfahrung aufeinandertreffen.

Peut-être Daphné devrait-elle essayer de « se convertir au progrès », à la position de la « belle captive », Briséis sous Achille, Perséphone sous Hadès ? Veut-elle que… ? Le désir me reprend, je lui enserre la nuque.

Elle écarte ma main ; elle écarte cette idée, ça ne marcherait pas, elle veut de l’archaïque.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 190.

Vielleicht sollte Daphne versuchen, „zum Fortschritt zu konvertieren“, in die Position der „schönen Gefangenen“, Briseis unter Achilles, Persephone unter Hades? Möchte sie, dass …? Das Verlangen packt mich wieder, ich umklammere ihren Nacken.

Sie schiebt meine Hand beiseite; sie weist diese Idee zurück, es würde nicht funktionieren, sie will etwas Archaisches.

Nach dem Epos

Je reprends par le commencement, l’épopée-fleuve ; celle qui n’est pas une description de la bataille, mais qui est la bataille

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 268.

Ich beginne von vorne, mit dem Fluss-Epos; dem Epos, das keine Beschreibung der Schlacht ist, sondern das die Schlacht ist.

Pierre Michons ebenfalls das Altertum behandelnder Text L’Empereur d’Occident (Fata Morgana, 1989 ; rééd. Verdier, 2007) ist ein zusammenhängender Roman, der die Beziehung zwischen zwei Charakteren in der Spätantike schildert. Im Gegensatz dazu besteht J’écris l’Iliade aus 14 relativ eigenständigen Erzählungen, die verschiedene Perspektiven auf die Ilias und Zugänge zu ihren Figuren bieten. Während L’Empereur d’Occident die Spätantike und den Fall des Römischen Reiches thematisiert, konzentriert sich J’écris l’Iliade auf Homers Ilias, mit Durchmischungen der Moderne. In beiden Romanen untersucht Michon die Themen Macht, Ruhm und deren Vergänglichkeit: L’Empereur d’Occident beleuchtet den Aufstieg und Fall eines Kaisers, während J’écris l’Iliade die ewigen Geschichten von Liebe und Krieg, den fundamentalen Antriebskräften menschlicher Erzählungen, reflektiert. Gewalt wird in L’Empereur d’Occident subtil angedeutet, meist in Form von Erinnerungen an politische Intrigen, Barbarenangriffe und die Bedrohung durch Machtverlust. Die Gewalt zeigt sich als ständige Bedrohung der Zivilisation durch die „Barbaren“. Gewalt steht in J’écris l’Iliade im Zentrum der Erzählung: Die blutigen Kämpfe der Helden in der Ilias werden mit epischer Wucht besungen. Während L’Empereur d’Occident sich auf politische und philosophische Themen konzentriert, zeichnet sich J’écris l’Iliade durch eine intensivere Auseinandersetzung mit erotischen und sinnlichen Motiven aus, die die menschlichen Leidenschaften und Begierden hervorheben.

Der Roman L’Empereur d’Occident von Michon erzählte die Begegnung und die sich daraus entwickelnde Freundschaft zwischen zwei ungleichen Männern vor dem Hintergrund der Spätantike, in einer Welt, die von den Einfällen der Barbaren und dem Niedergang des Römischen Reiches geprägt ist. Der namenlose Erzähler ist ein junger, ehrgeiziger Offizier des Römischen Reiches, der auf der Insel Lipari stationiert ist. Er ist der Sohn eines römischen Generals und wuchs als politisches Faustpfand in verschiedenen Barbarengemeinschaften auf. Dort erlebte er sowohl eine privilegierte Erziehung als auch die ständige Bedrohung des Todes, sollte sein Vater seine Bündnisse brechen. In Lipari begegnet er einem alten, geheimnisvollen Levantiner, der in bescheidener Zurückgezogenheit mit zwei kleinen, widerspenstigen Sklaven lebt. Der Mann war einst Musiker und trug eine bewegte Vergangenheit mit sich, die ihn an die Höfe und Lager der Mächtigen führte – darunter Alaric, der legendäre König der Westgoten. Er trug einst den Titel Priscus Attalus, ein vom Barbarenführer Alaric eingesetzter römischer Kaiser, dessen Herrschaft nur kurz währte und in Erniedrigung endete. In langen Gesprächen, die sich oft um Philosophie, Poesie, Musik und Macht drehen, enthüllt sich dem Erzähler nach und nach das Schicksal von Priscus Attalus. Dieser hatte in seinem Leben hohe Ämter bekleidet, doch letztlich wurde er zur Marionette Alarics, bis er schließlich fiel, gedemütigt wurde und ins Exil geschickt wurde. Das Buch reflektiert die Themen Vergänglichkeit, Identität, Schicksal und die Illusion von Macht. Michons poetische Sprache fängt die Atmosphäre einer Welt ein, die sich im Umbruch befindet – eine Welt, in der große Männer, einst von Ruhm und Ambition getrieben, in Vergessenheit geraten.

Il suivit ses maîtres d’Alexandrie à Cyrène, de Cyrène à Éphèse, d’Éphèse à Syracuse; il alla à Rome et dans les Gaules. Les traversées sont longues, la mer est ennuyeuse, on a peur des naufrages, on a peur de se souvenir; on a le temps d’apprendre, de la bouche d’un compagnon plus vieux, le peu qu’il faut d’Homère et de Virgile, le moins encore d’Ovide, pour composer des chants où les images qu’ils ont une fois pour toutes décidées se succèdent dans un nouvel ordre, s’enrichissent d’un mot et s’appauvrissent d’un autre, étonnent et troublent par cet écart infime. On a le temps de devenir chrétien, comme les autres: on n’est guère surpris de cette révélation, on n’a quant à soi connu qu’Apollon, il ressemble au Père, et on est un fils. Puis, on peut rendre musique les prières à ce Dieu qui est trois, en une seule mélodie indivise faire la part des trois, dédier au Père les sistres froids et constants comme des étoiles, au Fils les excès de la lyre, à l’Esprit la flûte. On a le temps enfin de dévêtir sa protectrice pour un autre usage que la danse, et d’apprendre le peu qu’il faut d’amour pour chanter juste. Lui, s’il toucha à tous les instruments et sut en user, ce fut la lyre qu’il élut; il avait tous ses doigts, ils étaient agiles, il devint maître à ce jeu.

Pierre Michon, L’Empereur d’Occident.

Er folgte seinen Lehrern von Alexandria nach Kyrene, von Kyrene nach Ephesus, von Ephesus nach Syrakus, nach Rom und nach Gallien. Die Überfahrten sind lang, das Meer ist langweilig, man hat Angst vor Schiffbruch, man hat Angst, sich zu erinnern; man hat Zeit, von einem älteren Gefährten das Wenige zu lernen, was man von Homer und Vergil braucht, noch weniger von Ovid, um Lieder zu verfassen, in denen die Bilder, die sie ein für alle Mal festgelegt haben, in einer neuen Reihenfolge aufeinander folgen, um ein Wort reicher und um ein anderes ärmer werden, und durch diese winzige Abweichung erstaunen und verwirren. Man hat Zeit, wie die anderen Christen Christ zu werden: Man ist von dieser Offenbarung nicht überrascht, denn man hat bisher nur Apollon gekannt, der dem Vater ähnelt, und man ist ein Sohn. Dann kann man die Gebete an diesen Gott, der drei ist, vertonen, in einer einzigen ungeteilten Melodie den drei Anteil geben, dem Vater die kalten und beständigen Sistren wie die Sterne widmen, dem Sohn die Ausschweifungen der Leier, dem Geist die Flöte. Man hat schließlich Zeit, seine Beschützerin für einen anderen Zweck als den Tanz zu entkleiden und das bisschen Liebe zu lernen, das es braucht, um richtig zu singen. Er berührte zwar alle Instrumente und wusste sie zu benutzen, aber er wählte die Leier; er hatte alle seine Finger, sie waren flink, und er wurde ein Meister in diesem Spiel.

Während L’Empereur d’Occident die Antike aus einer introspektiven, melancholischen Perspektive beleuchtet, die den Untergang einer Ära reflektiert, zelebriert J’écris l’Iliade die Größe und den Mythos der klassischen Helden. Gewalt und Begehren sind in beiden Werken präsent, werden jedoch unterschiedlich inszeniert: einmal als tragische Erinnerung, einmal als episches Schicksal.

Anders als bei Homer, wo das Epos den Helden Unsterblichkeit verleiht, bleibt bei Michon nur das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Pierre Michons J’écris l’Iliade ist kein Epos im klassischen Sinne. Es nimmt Homers Welt als Ausgangspunkt, doch diese ist fragmentiert, subjektiv und voller Zweifel. Die Literaturkritik spricht von den 14 Kapiteln teils als von einzelnen Texten statt von einem Roman mit einer epischen Einheit: Hoplite, Le rêve d’Homère, La bataille d’Éryx, Éloge de la blancheur, J’invente un dieu, La déesse vient, Une langue pure, Hélène revient, Casque, Vergina, Le Rêve d’Alexandre, Malama Tamaï, L’autre aveugle, schließlich: J’écris l’Iliade. In Michons Text gibt es keine allmächtigen Götter mehr, keine klare Teleologie der Geschichte – und vor allem keine Helden, die wirklich an ihr Schicksal glauben. Homer dagegen schrieb die Ilias als monumentales Epos, das die heroische Welt der mykenischen Krieger mit der göttlichen Ordnung verband. Sein Werk bot nicht nur eine Darstellung des trojanischen Krieges, sondern auch eine umfassende Geschichtsdeutung, in der göttliche Eingriffe das Schicksal der Menschen bestimmten.

In Homers Ilias sind die Götter aktiv und sichtbar. Sie greifen direkt in das Geschehen ein, sei es Athene, die Achilles zurückhält, oder Zeus, der das Schicksal Hektors besiegelt. Die Menschen sind sich ihrer Gegenwart bewusst, sie zweifeln nicht an ihrem Einfluss. Michons Erzähler hingegen träumt höchstens noch davon, einen Gott „vorbeiziehen zu sehen“. Die Götter sind nicht mehr real, sondern nur noch eine Vorstellung, eine Leerstelle im Text: „J’ai toujours rêvé de voir passer un dieu.“ – „Ich habe immer davon geträumt, einen Gott vorbeiziehen zu sehen.“ (82) In dieser Abwesenheit zeigt sich die Unmöglichkeit eines modernen Epos: Die transzendente Ordnung, die Homers Welt stabilisierte, existiert nicht mehr. – In der Ilias gab es eine klare Geschichtsdeutung. Der Krieg um Troja ist nicht nur eine blutige Auseinandersetzung, sondern eine notwendige Episode im göttlichen Plan. Achilles stirbt jung, doch er erlangt ewigen Ruhm. Troja fällt, aber Aeneas wird Rom gründen. Michons Welt hat keine solche Geschichtslogik mehr. Der Krieg ist chaotisch, die Helden sind unsicher, und es gibt keine göttliche Instanz, die ihrem Leiden einen höheren Sinn gibt. Das zeigt sich besonders in der Figur Alexanders des Großen, der sich selbst als neuen Achilles sieht – doch Homer lacht ihn aus als ein Kind, das Achilles-Sein spielt.

Die Ilias als zentrales Werk der abendländischen Literatur ist durch epische Stilmittel wie die Formelhaftigkeit, die Wiederholung, die Götterintervention und die heroische Erhöhung der Charaktere geprägt. Michon greift diese Elemente auf, doch er verändert sie durch seine introspektive und lyrische Prosa. Seine Erzählweise unterläuft den klassisch-epischen Ton, indem sie eine tiefere Reflexionsebene über die Bedingungen des Erzählens selbst einführt. So lässt sich etwa beobachten, dass Michon die großen Schlachtenszenen der Ilias nicht eins zu eins übernimmt, sondern sie mit einer poetischen Subjektivität auflädt.

Achille, ses boucles, son cimier de Corinthe, son rictus, son casque ; l’irrésistible, le beau blond à la belle vindicte. Il a été le seul Grec à me haïr. Et quoique blond, je ne l’aimais pas. Il ne me désirait pas. Il était un peu femme, il est vrai. Il avait franchi à peine l’adolescence pourtant, l’âge où tout leur est femme, quand l’envie, la fureur, leur dévore le ventre.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 29.

Achilles, seine Locken, seine korinthische Kopfbedeckung, sein Grinsen, sein Helm; der Unwiderstehliche, der schöne Blonde mit der schönen Rachsucht. Er war der einzige Grieche, der mich hasste. Und obwohl er blond war, liebte ich ihn nicht. Er begehrte mich nicht. Er war ein bisschen Frau, zugegeben. Das ist das Alter, in dem ihnen alles zur Frau wird, wenn der Neid, die Wut ihren Bauch frisst.

Das zentrale Movens der Ilias – der Zorn des Achilles – wird bei Michon eigentümlich thematisiert. Helena erwähnt Achilles als einzigen Griechen, der sie hasst. Diese Bemerkung verweist auf Achilles’ folgeträchtige Entscheidung, sich aus dem Kampf zurückzuziehen, weil er sich von Agamemnon entehrt fühlt. Michons Helena verleiht dieser Episode eine neue Bedeutung, indem sie Achilles’ Handlungen mit persönlichem Begehren und Zurückweisung in Verbindung bringt. Der Zorn des Achilles wird nicht nur als Frage der Ehre verstanden, sondern auch als Ausdruck unerfüllten Begehrens.

Die Ilias ist eine kunstvolle, in sich geschlossene Erzählung mit epischen Gleichnissen, klaren Götterreden und einem heroischen Erzählton. Michons Roman ist in vielem das Gegenteil: ein zersplitterter, fragmentierter Text, der den linearen Erzählfluss immer wieder abbricht, zwischen Reflexionen, autobiografischen Momenten und mythischen Reminiszenzen hin und her springt. Ein Beispiel dafür ist Michons Beschreibung von Achilles. Er wird nicht durch eine große, geschlossene Szene eingeführt, sondern durch verstreute Erinnerungen und subjektive Assoziationen. Der Held ist keine monumentale Figur mehr, sondern ein Konstrukt des Schriftstellers – und das bedeutet, dass seine Größe immer angezweifelt werden kann.

Die Figur des Achilles hat in der Literaturgeschichte viele Wandlungen durchlaufen, doch der Unterschied zwischen Homer und Michon ist besonders markant. Während Homer Achilles als überragenden Helden mit all seinen Stärken und Schwächen darstellt, macht Michon ihn zu einem poetischen Symbol für das Begehren nach Unsterblichkeit und die Unmöglichkeit, den Mythos vollständig zu erfassen. Durch die Dekonstruktion des heroischen Bildes von Achilles zeigt Michon, dass der Ruhm, nach dem dieser strebte, letztlich nur in der Sprache existiert. Achilles ist nicht nur ein Krieger, sondern eine Idee, eine Erzählung, die sich immer weiter fortsetzt und transformiert. Michon inszeniert ihn als Echo der Ilias.

In der Ilias sind die Helden sich ihres Platzes in der Welt sicher. Achilles weiß, dass er entweder lang leben oder unsterblichen Ruhm erringen kann – und er entscheidet sich für den Ruhm. Hektor stirbt in der Gewissheit, dass er für Troja kämpfen musste. Michons Helden hingegen sind zerrissen. Achilles als übermütiger Jugendlicher, Paris als eitler Verführer, Hektor als Kämpfer aus Pflichtgefühl. Selbst Homer wird bei Michon nicht als ehrfurchtgebietender Erzähler dargestellt, sondern als ein alter blinder Mann, der nicht mehr genau weiß, warum er diese Geschichten überhaupt erzählt. Damit entlarvt Michon die Konstruktion des Epos: Es gibt keine homerischen Helden mehr, nur noch Figuren, die sich nach der alten Größe sehnen, aber nicht mehr daran glauben können. – Wenn die Götter verschwunden sind, die Geschichte keinen Sinn mehr hat und die Helden an sich selbst zweifeln – was bleibt dann noch? Bei Michon bleibt nur die Sprache selbst: „Dire son nom, c’est inventer un dieu.“ („Seinen Namen aussprechen heißt, einen Gott zu erfinden“, 85.) Das moderne Schreiben kann kein Epos mehr sein, weil es nicht mehr an eine objektive, göttliche Wahrheit glaubt. Doch es kann noch immer versuchen, etwas Neues zu erschaffen – durch die Kraft der Sprache.

Das Kapitel „J’invente un dieu“ („Ich erfinde einen Gott“) ist ein zentraler Abschnitt in Michons Roman, da er sich mit der Macht des Schreibens und der Konstruktion von Mythen auseinandersetzt. Der Erzähler beginnt mit der Frage nach der Existenz eines Gottes und endet mit der Einsicht, dass Götter nichts anderes als sprachliche Erfindungen sind. Die Erschaffung eines Gottes ist bei Michon gleichbedeutend mit dem Akt des Schreibens: Der Gott entsteht durch den Namen, durch die Erzählung, durch die literarische Form. – Das Schreiben ist für Michon keine abstrakte, rein intellektuelle Tätigkeit, sondern ein körperlicher, fast handwerklicher Akt, so erwähnt der Erzähler etwa, wie er die Wiese mäht während seiner Reflexion über Göttlichkeit. Die Statue einer namenlosen Gottheit in einem Museum bringt ihn zur Einsicht, dass er erst mit der Namensgebung zum Gott werden könne. Auch muss Delphi als Ort Apollo erklären und nicht umgekehrt. Die Götter sind keine metaphysischen Entitäten, sondern literarische Konstruktionen, die durch die Geschichte und Geografie geformt werden. Der Schriftsteller ist der moderne Mythenschöpfer, der den Göttern nicht dient, sondern sie selbst erschafft. Literatur ist letztlich nichts anderes ist als die fortwährende Erfindung von Göttern – ein unaufhörliches Spiel mit Sprache, Erinnerung und Bedeutung.

Schreibakt und Eros

Pierre Michons J’écris l’Iliade setzt Begehren, Erotik und Sexualität nicht nur als narrative Elemente ein, metaphorisch, explizit und mythologisch, sondern geht von ihnen als konstitutiven Kräften des Erzählens selbst aus. Die Kampfhandlungen sind oft mit expliziten sexuellen Metaphern durchsetzt: Die Brutalität der Kriegsbeschreibungen geht mit einer sprachlichen Sinnlichkeit einher, die Kampf als ekstatische Erfahrung inszeniert. Helena beschreibt die Krieger, ihre glänzenden Rüstungen, ihre durchtrainierten Körper, das Blut, das über ihre Glieder läuft, in einer Sprache, die an sexuelle Erregung erinnert. Die Verbindung von Krieg und Sexualität, von literarischer Schöpfung und erotischer Erregung zieht sich als roter Faden durch das Werk. Die Art und Weise, wie die Sprache aufgeladen wird – mit Metaphern, rhythmischen Wiederholungen und pathetischen Exklamationen –, trägt zur erotischen Aufladung des Textes bei.

Das Kapitel „Hoplite“ erzählt von einer Zugreise nach Lyon, die der Erzähler als junger Mann antreten musste, um sich der Musterung für den Militärdienst zu unterziehen. Diese Initiationsreise wird zu einem Übergangsritus, bei dem er seine eigene Identität überdenkt. Während der Zug für Wasser hält, erlebt der Erzähler eine Art Erweckungserlebnis: Die Lok, die Wasser aufnimmt, erinnert ihn an einen sexuellen Akt, an die fundamentalen Rhythmen des Universums. Er empfindet diesen Moment als Offenbarung – als einen Höhepunkt, der ihm die Essenz des Lebens und der Dichtung offenbart. Nach dieser Erfahrung hat er eine kurze, rohe Liebesbegegnung mit einer Frau im Zug, ein fast wortloses Aufeinandertreffen, das wie eine weitere Station seiner „Initiation“ wirkt. Als er in Lyon ankommt, weiß er, dass er sich wandeln wird. Am Ende des Kapitels wird er als „untauglich“ für den Militärdienst erklärt – doch er ist sich sicher, dass er für etwas anderes bestimmt ist: die Literatur. Der Erzähler verknüpft seine eigene Erfahrung mit antiken Kriegerfiguren und stilisiert sie in poetischen Bildern. Gleichzeitig ist es eine Reflexion über die Verwandlung durch Literatur: Die Beschreibung des pulsierenden Maschinenkörpers, der unter Druck steht und seine Energie entlädt, ist in ihrer Intensität fast pornografisch. Die Maschine wird zu einer Art Partnerin, mit der der Erzähler eine intime Verbindung eingeht. Diese Szene erinnert an literarische Traditionen, in denen die Erotik des Mechanischen erforscht wurde, von Marinetti bis Ballard. Die gewaltigen, pulsierenden Bewegungen der Maschine, das Zuschießen des Dampfes – all dies evoziert Bilder einer ekstatischen Verschmelzung von Mensch und Materie – und Sprache.

Im Kapitel „Le rêve d’Homère“ tritt Helena von Troja als Verkörperung des Begehrens in Erscheinung, das die kämpfenden Männer ihrer Umgebung verzehrt. Hier begegnen wir Homer in zwei Momenten seines Lebens: als junger, sehender Dichter und als alter, blinder Mann. In seiner Jugend träumt Homer von Helena, die ihn auffordert, die Ilias zu schreiben. Ihre Schönheit ist nicht nur inspirierend, sondern zwingend – sie wird zur Kraft der Muse, die das Epos überhaupt erst ermöglicht. Jahrzehnte später, am Ende seines Lebens, träumt er erneut von ihr. Doch diesmal ist der Traum anders. Die einstige Helena ist nicht mehr nur eine jugendliche Vision, sondern eine fleischgewordene, erotische, zerstörerische Macht. Sie fordert ihn heraus, macht ihm klar, dass sie die wahre Autorin der Ilias ist – denn ohne sie und die Sehnsucht nach ihr hätte er das Epos niemals geschrieben. In dieser nächtlichen Szene spielt sich eine Art Metamorphose ab: Homer, der Schöpfer der epischen Welt, erkennt, dass er selbst von den Kräften beherrscht wird, die er in seinem Werk beschrieben hat. Helena wird zu einer Projektion all dessen, was ihn umtreibt: die Verführung der Kunst, die Obsession mit der Schönheit, die Unmöglichkeit, die Welt anders als in Sprache zu erfassen. Dieses Kapitel ist zentral für Michons gesamtes Anliegen: die Reflexion über die Ursprünge der Literatur. Ist die Ilias das Werk eines einzelnen Mannes, oder ist sie das Resultat eines unergründlichen, fast göttlichen Drangs? Helena spricht von ihrem eigenen Körper in einer Weise, die zwischen narzisstischer Selbstverherrlichung und absoluter Hingabe wechselt. Sexualität wird von Michon als Ursprung des poetischen Schaffens inszeniert, Helena ist zugleich Muse und Herrscherin über den Text, ihr Körper wird zur Projektionsfläche der poetischen Vision und gleichzeitig zur treibenden Kraft der Erzählung. Das Schreiben selbst ist für Michon ein erotischer Akt. Der Schriftsteller tritt als eine Art Liebhaber der Sprache auf, sein Verhältnis zum Text ist eines der absoluten Hingabe. Die rhythmische Struktur des Satzes verstärkt das Gefühl von Bewegung und Rausch. Der Abschluss des Schreibakts ist ein Höhepunkt, der den Autor erschöpft zurücklässt.

Ich singe den Zorn

En bons anti-platoniciens, Borges le multiple, Homère, Lely et moi aimons les apparences et les miroirs : le bouclier d’Achille est le miroir du monde, Olympe comprise. Borges ment en prétendant les haïr.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 227.

Als gute Antiplatoniker lieben Borges der Vielfältige, Homer, Lely und ich den Schein und die Spiegel: Der Schild des Achilles ist der Spiegel der Welt, den Olymp eingeschlossen. Borges lügt, wenn er behauptet, sie zu hassen.

Pierre Michons Werk J’écris l’Iliade ist eine Verschmelzung von Mythologie, Literaturgeschichte und autobiografischen Elementen. Michon reflektiert hier seine eigene Rolle als Schriftsteller, der Mythen der Vergangenheit in zeitgenössischer Sprache zum Leben erweckt. Der Erzähler konstruiert Homer als eine literarische Gestalt zwischen Realität, Mythos und der Metaphorik des Schreibens. Er erscheint in Michons Darstellung nicht nur als Dichter, sondern als Schöpfer einer Welt.

Homers Ilias ist nicht bloß eine Erzählung über den Trojanischen Krieg, sondern eine kosmologische Ordnung, die er aus dem Chaos der Geschichte formt. In Michons Text ist Homer gleichwohl nicht objektiver Historiker, sondern Schöpfer eines Mythos, der die Realität überhöht: Homers Figur Helena erscheint ihm in einer Vision und fordert ihn auf, ihr zu dienen, indem er das Epos schreibt. Dies stellt eine Umkehrung der traditionellen Geschichtserzählung dar: Nicht die Krieger sind es, die den Mythos prägen, sondern Helena, als Verkörperung des Begehrens und der Schönheit. Helena, als Symbol für die poetische Schöpfung, ist für Michon die wahre Urheberin der Ilias. Diese Umkehrung redefiniert den Dichter als Medium fremder Stimmen. Durch zahlreiche Zitate, detaillierte Interpretationen, wichtige Metaphern und komplexe Erzählstränge wird Michons poetisches Universum beleuchtet.

Michon positioniert sich in der Tradition der Homerdeutung, indem er den Autor als Medium fremder Stimmen darstellt. Die Altertumswissenschaften bezeichnen diese Diskussion als „homerische Frage“, mit der neben der Autorschaft auch die Entstehung der antiken Epen Ilias und Odyssee befragt werden. War Homer eine historische Person oder eine symbolische Figur? Stammen beide Epen von einem einzigen Autor oder von mehreren? Basieren die Werke auf mündlicher Überlieferung und wurden erst später verschriftlicht? Wurden die Epen einheitlich konzipiert oder entwickelten sie sich schrittweise? Die aktuelle Forschung tendiert dazu, die Ilias und die Odyssee als Produkte einer Übergangszeit von mündlicher zu schriftlicher Tradition zu betrachten. Demnach könnten die Epen auf einer langen mündlichen Überlieferung basieren, die schließlich von einem oder mehreren Autoren schriftlich fixiert wurde. Für ein moderne Verständnis des Autors ist die homerische Frage mehrfach anschließbar: Sie fordert das traditionelle Konzept des einzelnen, schöpferischen Genies heraus und lenkt den Fokus auf kollektive Kreativprozesse und die Rolle der mündlichen Tradition in der Literaturentstehung. Dies eröffnet andere Perspektiven auf Autorschaft, Originalität und die Dynamik literarischer Werke im jeweiligen kulturell-historischen Kontext.

Poussière, éclairs d’armes, et soudain l’énorme huée des cris de guerre, le fracas incomparable des bronzes. Il se dit que son chant devra être cette huée et ces cris de guerre se chevauchant comme les éclairs d’un orage. Il maudit ses yeux. Il voudrait voir pour de bon le vociférateur sur le char.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 168.

Staub, Waffenblitze und plötzlich das gewaltige Gebrüll der Kriegsschreie, das unvergleichliche Krachen der Bronzerüstungen. Er sagt sich, dass sein Lied aus diesem Gebrüll und den Kriegsschreien bestehen muss, die sich wie die Blitze eines Gewitters überlagern. Er verflucht seine Augen. Er möchte den Schlachtrufer auf dem Wagen wirklich sehen.

In J’écris l’Iliade erscheint Homer als eine Art Sprachkörper, der aus vielen Stimmen besteht – aus Kriegern, Göttern, Dichtern und aus den zahllosen Wiederholungen und Variationen der epischen Erzählung. Michon inszeniert Homer als Echo einer kollektiven Überlieferung, in der die Grenze zwischen Erzähler, Helden und Lesern verschwimmt. Sein Homer ist eine Bewegung der Sprache selbst, die sich durch die Jahrhunderte fortsetzt. Gleichzeitig ist Michons Text ein Spiel mit der Intertextualität: Homer ist bei ihm nicht nur der epische Aoide, sondern eine Figur, die sich aus allen späteren Lesarten, Kommentaren und literarischen Aneignungen speist. Homer erscheint in Michons Werk zwar körperlich, aber weniger als historische Autorität, sondern als eine Textschicht unter vielen – als ein sich stetig neu formender Mythos der Sprache.

Michon beschreibt Homer zugleich als eine präsente, fast greifbare Figur, deren Alter, Erschöpfung und Sinnlichkeit immer wieder hervorgehoben werden. Sein Homer ist eine Synthese aus verschiedenen literarischen Archetypen, zugleich der einsame Seher, der ekstatische Schöpfer und der alternde, erschöpfte Dichter, der sich mit seiner eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzt. Diese Verbindung von poetischer Kraft und körperlicher Gebrechlichkeit macht ihn zu einer Figur, die zwischen göttlicher Inspiration und menschlicher Schwäche schwankt. Seine Worte sind von einer fast sakralen Traurigkeit durchzogen, die die Endlichkeit des Dichters im Kontrast zur Unsterblichkeit seines Werkes betont.

Homers Blindheit ist dabei nicht nur ein biografisches Detail, sondern ein zentrales poetologisches Motiv. Sie macht ihn zu einem Seher, der die Welt nicht mit den Augen erfährt, sondern mit der Sprache, er „sieht“ mit der Sprache. Denn Blindheit ist hier kein Defizit, sondern ein Zugang zu einer tieferen, imaginativen Realität. In „Le rêve d’Homère“ wird Blindheit zur Bedingung poetischer Schöpfung. Michon setzt sie als Sinnbild für die Fähigkeit des Dichters, das Wesentliche zu erfassen, ohne von der Ablenkung des Sichtbaren bestimmt zu sein. Die Dunkelheit, in der Homer lebt, wird zum Raum der poetischen Eingebung. Gleichzeitig spielt Michon mit der Ambivalenz dieser Blindheit: Sie ist sowohl eine Einschränkung als auch eine Befreiung von der Welt des Sichtbaren. Der Mond, der über Homer leuchtet, wird zum Sinnbild einer verborgenen Erleuchtung, einer Erkenntnis, die sich nur in der Sprache manifestiert.

À ces mots, Homère a une fureur d’adolescent, il tourne les yeux enfin vers elle, il ne la voit pas. D’un seul coup il ne voit plus rien, ni la touffe de pin, ni la lune, ni la toile de tente ni rien d’autre. Il est bien aveugle.
C’est donc qu’il est éveillé.
Le cygne s’est tu. On n’entend que le murmure lascif d’Hélène.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 33.

Bei diesen Worten gerät Homer in einen jugendlichen Zorn, er wendet endlich seine Augen zu ihr, aber er sieht sie nicht. Mit einem Mal sieht er nichts mehr, weder den Kiefernbusch, noch den Mond, noch die Zeltplane oder sonst etwas. Er ist wirklich blind.
Das heißt, er ist erwacht.
Der Schwan ist verstummt. Nur das laszive Flüstern Helenas ist zu hören.

Das Kapitel „L’autre aveugle“ spielt mit der Idee, dass Borges – selbst blind – sich mit Homer identifizierte und in Blind Pew eine Art groteske Spiegelung des epischen Sängers sah. Diese Verknüpfung zwischen Hochkultur und Populärliteratur, zwischen antikem Mythos und Abenteuerroman, erlaubt Michon eine vielschichtige Reflexion über die Natur der Literatur und des Erzählens. Ein zentrales Element des Kapitels ist die Erwähnung des (fiktiven) Borges-Textes Un plagiaire de Shakespeare, der sich mit der These beschäftigt, dass Homer Shakespeare plagiiert habe – oder umgekehrt. Borges hinterfragt hier die Vorstellung einer linearen literarischen Chronologie und spielt mit der Idee, dass alle Texte letztlich apokryph sind.

Die Traumsequenzen, die Michon entwirft, verbinden Homers Dichtung mit einer imaginativen Welt, in der die Grenzen zwischen realem Erleben und poetischer Inspiration verschwimmen. Der Traum erscheint hier nicht nur als Ursprung der Ilias, sondern auch als letzter, fast metaphysischer Moment der Begegnung zwischen dem blinden Dichter und Helena, der zentralen Figur seiner Dichtung. Bereits in seiner Jugend empfängt Homer im Traum von Helena die Eingebung für sein großes Epos, um die Helden des Trojanischen Krieges zu besingen. Der mythische Ursprung der Dichtung rückt in eine Sphäre des Unbewussten und des Begehrens, die den Dichter weniger als Schöpfer denn als Medium einer höheren, archetypischen Instanz erscheinen lässt. Im zweiten Traum, den Homer in seinem hohen Alter auf der Insel Ios hat, kehrt Helena zurück, als körperlich erfahrbare Vision, als Verkörperung der Dichtung selbst. Sie räsoniert über ihre eigene literarische Existenz, fordert Anerkennung als zentrale Triebkraft der Ilias und bietet dem alten Homer schließlich eine Art göttlicher Belohnung an: die intime Vereinigung, die das Begehren seines ganzen Lebens und seines Werks krönt. Der Traum erreicht hier eine kulminierende Verschmelzung von körperlicher Begierde, dichterischer Inspiration und mythologischer Dimension. Literatur entsteht so nicht als bewusster, planvoller Akt, sondern als epiphanische Erfahrung, als ekstatische Begegnung mit einem Objekt des Begehrens, das sich stets entzieht und zugleich höchste Form körperlicher und sprachlicher Erfahrung ist. Diese Ilias ist nicht nur ein Epos über den Krieg, sondern auch über die Unmöglichkeit, die körperliche Erfahrung der Lust und des Todes in Sprache zu fassen. Helena wird zum Symbol der ungreifbaren Schönheit, die den Dichter zugleich antreibt und zur Verzweiflung bringt. So wird der Traum zur Essenz der Literatur: eine flüchtige, halluzinatorische Erfahrung, die allein in der Sprache Bestand hat.

C’était un dieu qui criait. Et c’était moi.

J’ai su que l’Écho, c’était moi. Et que tout ce qui était réalisable serait réalisé.

Homère remarque que l’Écho ressemble à Arès. Un dieu en somme, avec toute licence de sang : quand tu es soûl, tu fais piétiner tes parjures par des éléphants de guerre ; tu crucifies ; et tu injuries en patois macédonien.

Tu tiens ça de ton père, l’ivrogne polygame, le borgne boiteux, la tronche shakespearienne.

Alexandre, surpris : Tu continues à inventer des mots, là où tu es ?

Non, non, c’est déjà un vieux mot celui-là aussi, dans une langue vieillie, dit l’aède avec lassitude. Mais je ne te l’ai pas apprise.

Alexandre n’ose lui demander de lui enseigner ce langage. Il rêve de toutes les langues que sa campagne lui a apportées. Le bactrien, qui lui a tant plu dans la gorge de Roxane. Et son tchadri. Le tchadri et les mots étaient bleus comme la nuit. Ils ressemblaient à la langue des aèdes.

Le vieux, dans un murmure : Notre langue d’aède n’est pas immatérielle. C’est un corps subtil. Deux corps accouplés pour accomplir l’interdit. Le chant n’entre au monde que par violence, effraction et jouissance.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 200-01.

Es war ein Gott, der schrie. Und es war ich.

Ich wusste, dass das Echo ich war. Und dass alles, was erreichbar war, erreicht werden würde.

Homer bemerkt, dass das Echo dem Ares ähnelt. Alles in allem ein Gott mit aller Berechtigung zum Blut: Wenn du betrunken bist, lässt du deine Meineidigen von Kriegselefanten zertrampeln; du kreuzigst; und du beschimpfst in mazedonischem Dialekt.

Das hast du von deinem Vater, dem polygamen Trunkenbold, dem lahmen Einäugigen, dem Shakespeare-Gesicht.

Alexander, überrascht: Denkst du dir immer noch neue Wörter aus, da wo du bist?

Nein, nein, das ist auch schon ein altes Wort, in einer veralteten Sprache, sagt der Aoide müde. Aber ich habe sie dir nicht beigebracht.

Alexander wagt es nicht, ihn zu bitten, ihn diese Sprache zu lehren. Er träumt von all den Sprachen, die ihm sein Feldzug eingebracht hat. Das Baktrische, das ihm in Roxanes Kehle so gut gefallen hat. Und ihr Tschadri. Der Tschadri-Schleier und die Wörter waren blau wie die Nacht. Sie ähnelten der Sprache der Aoiden.

Der Alte, in einem Flüstern: Unsere Sprache der Aoiden ist nicht immateriell. Sie ist ein subtiler Körper. Zwei Körper, die gepaart sind, um das Verbotene zu erfüllen. Der Gesang betritt die Welt nur durch Gewalt, Überschreitung und Genuss.

Das Schlusskapitel entwirft die Idee eines Schreibens, das selbst eine Form von Gewalt darstellt. Die Ilias ist ein Kriegsepos, und ihre Darstellung von Heldentum und Zerstörung ist untrennbar mit der Sprache verwoben, in der sie verfasst wurde. Michon stellt sich die Frage, ob das Erzählen von Gewalt nicht auch eine Reproduktion dieser Gewalt bedeutet. Wer eine Geschichte schreibt, greift in die Erinnerung ein, formt sie um und macht sie sich zu eigen. In gewisser Weise wiederholt der Erzähler die Tat Homers, indem er das Alte in neuer Form erzählt und es so in der Gegenwart verankert.

Der Dichter vermittelt als eine Art Medium zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Wenn Homer als eine Figur erzählt wird, die weniger ein individueller Autor als vielmehr eine Stimme ist, durch die die Geschichten der Helden weitergegeben werden, fragen wir: Ist Michon nicht selbst statt eines individuellen Schriftstellers eine moderne Stimme dieses Homers, die die Ilias neu erzählt und damit am Leben hält? Indem Michon sich selbst in diese Tradition stellt, wirft er die Frage auf, ob es überhaupt so etwas wie einen „ursprünglichen“ Autor gibt. Die Ilias selbst ist das Produkt mündlicher Überlieferung, verändert durch jede Generation von Sprechern. So zeigt das Schlusskapitel, dass das Schreiben immer ein Akt der Übernahme und der Weitergabe ist, eine ständige Neuinterpretation eines Ursprungs, der nie ganz greifbar ist.

Comme tous les balourds de la causalité, je suis obsédé par ce qu’on appelle « les origines ». Les origines du langage, les origines de l’homme — dans La Grande Beune par exemple, les origines d’homo sapiens, du bipède ; mais là, en Mésopotamie, c’est l’origine de l’écriture. Au départ, d’ailleurs, elle n’a été inventée pour la littérature, mais pour « le marché » : faire des comptes, recenser du cheptel, prélever l’impôt. Les peuples se sont sédentarisés au Néolithique, ils ont stocké les récoltes, il a fallu soigneusement compter les surplus, pour accroître la richesse des despotes — et contre toute attente, cette écriture de ronds de cuir a évolué vers le chant épique.

Florent Zemmouche, « Je veux parler des lieux où sont nés l’écriture, la littérature, les mythes et les dieux d’Occident », Grand Tour avec Pierre Michon, Le Grand Continent, 14. August 2024.

Wie alle Spinner der Kausalität bin ich besessen von dem, was man „Ursprünge“ nennt. Die Ursprünge der Sprache, die Ursprünge des Menschen – in La Grande Beune beispielsweise die Ursprünge des Homo sapiens, des Zweibeiners; Aber dort, in Mesopotamien, liegt der Ursprung der Schrift. Tatsächlich wurde sie ursprünglich nicht für die Literatur erfunden, sondern für „den Markt“: zur Buchführung, zur Zählung des Viehbestands, zur Erhebung von Steuern. Die Menschen wurden in der Jungsteinzeit sesshaft, sie lagerten ihre Ernten, die Überschüsse mussten sorgfältig gezählt werden, um den Reichtum der Despoten zu mehren – und entgegen allen Erwartungen entwickelte sich diese Schrift aus runden Lederstücken zum epischen Gesang.

Der paradoxe letzte Satz von Michons Buchs, der Neuanfang und Wiederholung zugleich signalisiert, lautet: „Ich schreibe die Ilias.“ Der Erzähler will die epische Tradition Homers nachempfinden und in die Moderne übertragen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion. Michon spielt mit der Idee des Autors als einem gottgleichem Schöpfer, der in der Lage ist, neue Welten zu erschaffen, aber auch die Verantwortung trägt, alte zu zerstören.

Borges les suit : « Quand s’approche la fin, il ne reste plus d’images du souvenir; il ne reste plus que des mots. Il n’est pas étrange que le temps ait confondu ceux qui une fois me désignèrent avec ceux qui furent symboles du sort de l’homme qui m’accompagna tant de siècles. J’ai été Homère ; bientôt, je serai Personne, comme Ulysse ; bientôt, je serai tout le monde : je serai mort. » Je serai Pew.
L’autre aveugle, après Homère, guidant Borges à « la vague, la vaste et nécessaire mort », aurait pu être sir John Milton. Ce fut Blind Pew. 1

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 233.

Borges folgt ihnen: „Wenn das Ende naht, gibt es keine Bilder der Erinnerung mehr; es gibt nur noch Worte. Es ist nicht verwunderlich, dass die Zeit die Worte, die mich einst bezeichneten, mit den Worten verwechselt hat, die das Schicksal des Menschen symbolisierten, der mich so viele Jahrhunderte begleitete. Ich war Homer; bald werde ich Niemand sein, wie Odysseus; bald werde ich jedermann sein: Ich werde tot sein“. Ich werde Pew sein.
Der andere Blinde nach Homer, der Borges zu „der Welle, dem weiten und notwendigen Tod“ führte, hätte Sir John Milton sein können. Es war Blind Pew.

Die Kritiken bieten teils widersprüchliche Deutungen: Einige sehen das Werk als Hommage an Homer und die gesamte literarische Tradition, während andere es als ironisches Spiel mit literarischer Größe begreifen – Michon stilisiert dabei auch sich selbst zum monumentalen Autor, um sich zugleich zu demontieren, so etwa Johan Faerber in Radio France: „Michon will Michon entweihen, sein Denkmal zerstören. Das Argument der Ilias ist der Zorn des Achilles, hier ist es der Zorn Michons. Er erzählt nicht eine Bildungs-, sondern eine Verzerrungsgeschichte und spielt auf sehr geschickte Weise mit seinen Fehlern. Es gibt Erotik, sogar Pornografie, der Autor amüsiert sich sehr darüber. Allerdings, die Anlage ist zwar zutiefst originell, hat aber ihre Grenzen: Der Text stolpert über Maskulinismus und Feminismus, es ist schwer zu erkennen, ob die Aussage mit den Codes spielt oder völlig überholt ist.“ 2

Bei Homer ist mênis (Zorn) nicht nur die zentrale Emotion des Achilles, sondern auch die treibende Kraft des gesamten Epos. Ähnlich inszeniert Michon seine eigene literarische Energie als eine Art Zorn gegen die Sprache, gegen die Vergangenheit und gegen die eigene Begrenztheit als Schriftsteller. Homers Ilias beginnt mit dem berühmten Vers: Μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληιάδεω Ἀχιλῆος (Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, Ü: Johann Heinrich Voß, 1793.) Michon bekennt sich im Eingangskapitel zu einer Art rebellischer Raserei, vergleichbar mit dem Furor von Achilles. Es geht um Widerstand gegen das Gegebene – sei es die militärische Ordnung oder die literarische Tradition:

J’étais résolu à ne pas languir deux ans en caserne, ne pas porter l’habit de drap rêche, n’obéir à rien ni personne. Je n’étais pas plus qu’aujourd’hui citoyen d’où que ce fût. Mon devoir était d’être réformé. Je devais devenir Pierre Michon et n’avais pas de temps à perdre.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 13.

Ich war fest entschlossen, nicht zwei Jahre in der Kaserne zu schmachten, nicht den rauen Tuchanzug zu tragen, nichts und niemandem zu gehorchen. Ich war genauso wenig Bürger wie heute, egal wo. Meine Pflicht war es, ausgemustert zu werden. Ich musste Pierre Michon werden und hatte keine Zeit zu verlieren.

In der Ilias ist Achilles’ Zorn nicht nur eine persönliche Rache, sondern eine Energie, die das gesamte Schlachtgeschehen beeinflusst. Ähnlich setzt Michon die Sprache als kriegerisches Instrument ein. Seine Sätze sind oft hämmernd, voller Wiederholungen und von einer fast marschartigen Rhythmik geprägt.

J’arpentais le wagon dans un sens puis dans l’autre, me taisant, monologuant, disant à tue-tête des vers, en composant quelques-uns de mon cru, revenais à mon siège bienheureux — à n’importe quel siège, tous étaient à moi —, pleurais de joie, riais, reprenais une louche de Maxiton, derechef me levais et arpentais, scandais. Je frappais les parois, les sièges vides, à chaque hémistiche. Je n’avais pas le temps d’avoir sommeil. J’étais le train, j’étais la nuit, le vent de la marche, les traînées de feu aux fenêtres. J’étais la poésie universelle. J’étais l’énergie qui fait tourner les étoiles et maugréer dans leur emballement les trains, j’étais les vers que je déclamais, la future Vigueur.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 15.

Ich lief den Waggon hin und her, schwieg, hielt einen Monolog, sagte lauthals Verse auf, schrieb ein paar eigene, kehrte zu meinem glücklichen Sitzplatz zurück – egal welcher, alle gehörten mir -, weinte vor Freude, lachte, nahm noch eine Kelle Maxiton, stand wieder auf und lief weiter, skandierte. Ich klopfte an die Wände, an die leeren Sitze, mit jedem Hemistich. Ich hatte keine Zeit zum Einschlafen. Ich war der Zug, ich war die Nacht, der Marschwind, die Feuerschweife an den Fenstern. Ich war die universelle Poesie. Ich war die Energie, die die Sterne zum Drehen und die Züge zum Rasen bringt, ich war die Verse, die ich deklamierte, die Kraft der Zukunft.

Wie Homers Achilles, der sich als übermenschliche Kraft der Zerstörung inszeniert, beschreibt sich Michon hier als allumfassendes, ekstatisches Prinzip der Bewegung. In der Ilias wird Achilles’ Zorn lange zurückgehalten, bevor er sich in der Tötung Hektors (des Mörders von Patroklos) entlädt. Homer steigert diese Spannung durch lange Reden, Szenen von Trauer und Reflexion. Michon bedient sich eines ähnlichen narrativen Prinzips, indem er den Moment der Erkenntnis oder Entladung hinauszögert.

Langlois
Jérôme-Martin Langlois, Priam aux pieds d’Achille, 1809, Paris, Ecole Nationale Supérieure des Beaux-Arts (Public Domain)

Im letzten Buch der Ilias fleht Priamos Achilles an, den Leichnam seines Sohnes Hektor herauszugeben. Dieses Mitleid ist ein entscheidender Moment in der Erzählung, weil es Achilles aus seinem zorngetriebenen Furor herausführt und ihm seine eigene Sterblichkeit bewusst macht. Wie Achilles, der erst am Ende der Ilias durch das Mitgefühl für Priamos eine Art Katharsis erfährt, erkennt Michon seine Transformation im Rückblick.

Quand ils reviennent, Patrocle et Phénix sont sur le rivage, ils jouent aux osselets. Une mouette becquette l’oeil d’un poisson mort. Le Mulet entre dans la grande tente. Achille ne l’a pas entendu ; accroupi devant ses armes, il a en main et regarde son casque. Un casque martelé à la mode de Corinthe, les plus courants, sans fioritures. Même les forgerons de village peuvent les faire. Ils ne sont pas compliqués — mais très lourds, et pas de charnières : les couvre-joues font une seule pièce avec la coiffe. Achille s’est aperçu de sa présence. Ça t’étonne, un casque, Mulet ? je parie que tu n’en as jamais porté. « Achille au casque terrifiant », comme tu m’appelles dans tes nouveaux vers. Essaye-le et terrifie-moi, à moins qu’il soit trop grand pour ta petite tête et tes cheveux courts.

Homère prend dans sa main le casque d’Achille, il doit le regarder de tout près, il en voit ce qu’il peut, il caresse le frontal et l’énorme surface lisse de la nuque et des joues. Il demande : Pas de trous pour les oreilles, comment tu entends quelque chose là-dedans, quand les autres te chargent ? Je ne les entends pas, je les sens, rit Achille. Homère contemple à deux pouces de ses yeux la face de bronze. C’est un visage — ou un crâne. Oui, il est effrayant, muet comme l’Hadès. On voudrait qu’il parle, et il ne sait parler qu’au bronze. Homère n’a pas peur, c’est autre chose, comme s’il posait une question à la face aux yeux creux, sur la colère et sur la guerre, sur l’être. Sur le Styx inconnu et la vie trop connue. La vieille chanson.

Il rend le casque à Achille sans l’avoir coiffé.

Du temps passe, Homère reste longtemps parmi les guerriers, il improvise à la cithare avec Achille, il questionne Automédon sur les stratégies. La politique suit son cours : l’Atride et le Péléide calment le jeu, ils font des passes de rhétorique. Avec tous ces atermoiements, les Troyens, de victoire en victoire, sont aux nefs, les enflamment. Les Grecs se reprennent. Patrocle meurt au combat : non, Achille ne lui avait pas prêté ses armes, seulement sa fureur. Homère se dit qu’il faudra les faire passer par les mains d’un dieu, ces armes, les frotter d’un enduit olympien. Le bouclier surtout, qui vient de l’arrière-grand-père du Péléide, et qui n’est qu’une vieillerie thessalienne sans ornement. La bonne idée serait de les faire forger par Héphaïstos. Le bouclier, il le faut. Peut-être aussi le casque?

Achille repart au combat. Homère s’est trop attaché à lui et ne veut pas le voir tuer et mourir. Il ne veut pas que devant ses yeux la Moire s’en vienne tout de son long coucher Achille chez Hadès. D’ailleurs la vraie vie d’un rhapsode, c’est d’aller. Il reprend son chemin sur le rivage, l’embarquement pour Chios est à huit jours de marche, mais il descendra peut-être jusqu’à Smyrne. À sa droite sous l’eau calme, il devine le monstre aux cheveux bleus, Poséidon. Son pied écrase des coquillages, la rumeur des chars s’éloigne. Il songe à Achille tout à l’heure quand Automédon l’armait de pied en cap. Il a fallu beaucoup rembourrer le casque : il est trop grand depuis que le Péléide s’est rasé le crâne pour le deuil de Patrocle. Homère a dans l’oreille le dernier mot irascible d’Achille, le dernier ordre qu’il entendra jamais passer ses lèvres : Mon casque.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 168f.

Als sie zurückkommen, sind Patroklos und Phönix am Ufer und spielen Knöchelchen. Eine Seemöwe schnäbelt das Auge eines toten Fisches. Das Maultier [der Rhapsode, K.N.] betritt das große Zelt. Achilles hat ihn nicht gehört; er hockt vor seinen Waffen, hält seinen Helm in der Hand und schaut ihn an. Ein gehämmerter Helm nach korinthischer Art, die gängigsten, ohne Schnörkel. Sogar die Dorfschmiede können sie herstellen. Sie sind nicht kompliziert – aber sehr schwer, und keine Scharniere: Die Wangenknochenabdeckungen bilden mit dem Helm ein einziges Stück. Achilles bemerkte seine Anwesenheit. Wundert dich ein Helm, Maultier? Ich wette, du hast noch nie einen getragen. „Achilles mit dem furchterregenden Helm“, wie du mich in deinen neuen Versen nennst. Probier ihn an und versetz mich in Angst und Schrecken, es sei denn, er ist zu groß für deinen kleinen Kopf und deine kurzen Haare.

Homer nimmt Achilles‘ Helm in die Hand, er muss ihn sich ganz genau ansehen, er sieht, was er sehen kann, er streichelt die Stirn und die riesige glatte Oberfläche des Nackens und der Wangen. Er fragt: Keine Löcher für die Ohren, wie kannst du da drinnen etwas hören, wenn die anderen dich angreifen? Ich höre sie nicht, ich spüre sie, lacht Achilles. Homer betrachtet zwei Zoll von seinen Augen entfernt das Bronzegesicht. Es ist ein Gesicht – oder ein Schädel. Ja, er ist furchterregend, stumm wie der Hades. Man möchte, dass er spricht, aber er kann nur mit Bronze sprechen. Homer hat keine Angst, es ist etwas anderes, als würde er dem hohläugigen Gesicht eine Frage stellen, über den Zorn und den Krieg, über das Sein. Über den unbekannten Styx und das allzu bekannte Leben. Das alte Lied.

Er gibt Achilles den Helm zurück, ohne ihn gekämmt zu haben.

Zeit vergeht, Homer bleibt lange unter den Kriegern, er improvisiert mit Achilles auf der Zither, er befragt Automedon über Strategien. Die Politik nimmt ihren Lauf: Der Atreides und der Peleide beruhigen die Lage, sie geben sich rhetorisch die Klinke in die Hand. Bei all diesen Verzögerungen sind die Trojaner, von Sieg zu Sieg, an den Schiffen, setzen sie in Brand. Die Griechen reißen sich zusammen. Patroklos stirbt im Kampf: Nein, Achilles hatte ihm nicht seine Waffen geliehen, sondern nur seinen Zorn. Homer denkt, dass diese Waffen durch die Hände eines Gottes gehen müssen, dass sie mit olympischem Putz eingerieben werden müssen. Vor allem der Schild, der vom Urgroßvater des Peleïden stammt und nur ein schmuckloser thessalischer Schrott ist. Eine gute Idee wäre es, sie von Hephaistos schmieden zu lassen. Der Schild muss sein. Vielleicht auch den Helm?

Achilles zieht wieder in den Kampf. Homer hat ihn zu sehr ins Herz geschlossen und will nicht sehen, wie er tötet und stirbt. Er will nicht, dass die Moira vor seinen Augen aufbricht, um Achilles zum Hades zu bringen. Das wahre Leben eines Rhapsoden ist das Gehen. Die Einschiffung nach Chios ist noch acht Tagesmärsche entfernt, aber er wird vielleicht bis nach Smyrna hinuntergehen. Zu seiner Rechten unter dem ruhigen Wasser kann er das blauhaarige Ungeheuer Poseidon erahnen. Sein Fuß zertritt Muscheln, das Geräusch der Streitwagen entfernt sich. Er denkt an Achilles vorhin, als Automedon ihn von Kopf bis Fuß bewaffnete. Der Helm musste viel gepolstert werden: Er ist zu groß, seit der Peleide seinen Schädel für die Trauer um Patroklos rasiert hat. Homer hat das letzte jähzornige Wort des Achilles im Ohr, den letzten Befehl, den er jemals über seine Lippen kommen hören wird: Mein Helm.

Homer beschreibt Achilles als einen beinahe göttlichen Kämpfer, dessen Körperlichkeit betont wird – sei es in der Schilderung seiner Rüstung oder seiner Kampfkraft. In J’écris l’Iliade von Pierre Michon erscheint Achilles nicht nur als homerischer Held, sondern auch als literarische Projektionsfläche für Gewalt, Zorn, Körperlichkeit und die Verbindung von Krieg und Sprache. Michon greift Achilles’ mythische Gestalt auf, um die existenzielle Wucht seines Schreibens zu reflektieren – der Held wird zur Verkörperung des ekstatischen, zerstörerischen und zugleich schöpferischen Furors der Literatur. Michon beschreibt Achilles nicht als psychologisch greifbare Figur, sondern als eine nahezu kosmische Kraft. Er ist nicht nur der größte Krieger der Ilias, sondern auch das Zentrum eines archaischen Furors, der sowohl Zerstörung als auch unvergleichliche poetische Energie bedeutet.

Phädras Schweigen

Jean Racines Phèdre (1677) ist eines der zentralen Werke der französischen Klassik und thematisiert das fatale Begehren der Titelfigur, das sie in Schuld und Vernichtung führt. Michon verweist in J’écris l’Iliade mehrfach auf Racine, insbesondere auf Phèdre, um die Themen Schuld, Begehren und literarische Überlieferung in seinem Roman zu reflektieren, einmal als literarische Referenz, dann aber auch als existenzielles Muster. Phèdre ist ein Drama des Begehrens, der Schuld und des unausweichlichen Scheiterns. Zentral für das Werk ist die Spannung zwischen Sprache und Schweigen, zwischen Enthüllung und Zurückhaltung. Roland Barthes hebt in seiner Analyse (Sur Racine) hervor, dass Phèdre eine Tragödie des Schweigens ist: Die Protagonistin ringt mit ihrer verbotenen Liebe zu Hippolytos, und ihr Begehren wird erst real, wenn es ausgesprochen wird. Pierre Michon hingegen verbindet die Themen Begehren und Sprache mit mythischer Erzählung und der Spannung zwischen den Geschlechtern. Barthes argumentiert, dass das Begehren in Phèdre nicht bloß eine psychologische Tatsache, sondern eine formale Kategorie ist. Phèdres Schuld liegt nicht in der Tat, sondern in der Tatsache, dass ihr Begehren existiert und ausgesprochen wird. Ihr Verlangen ist eine Krankheit, die sich erst in Sprache manifestiert. Das Schweigen schützt Phèdre nicht, sondern verstärkt ihr Leiden:

Phèdre est son silence même : dénouer ce silence, c’est mourir, mais aussi mourir ne peut être qu’avoir parlé. Avant que la tragédie ne commence, Phèdre veut déjà mourir, mais cette mort est suspendue : silencieuse, Phèdre n’arrive ni à vivre ni à mourir : seule, la parole va dénouer cette mort immobile, rendre au monde son mouvement.

Roland Barthes, Sur Racine.

Phädra ist ihr Schweigen selbst: Dieses Schweigen aufzulösen bedeutet zu sterben, aber auch zu sterben kann nur bedeuten, dass man gesprochen hat. Bevor die Tragödie beginnt, will Phädra bereits sterben, aber dieser Tod ist suspendiert : Schweigend kann Phädra weder leben noch sterben: Allein das Wort wird diesen unbeweglichen Tod auflösen und der Welt ihre Bewegung zurückgeben.

Jean Racine, Phèdre, acte I, scène 3, l’aveu.

Michon thematisiert die Idee, dass das Erzählen immer aus einem Schweigen heraus entsteht. Bevor Homer spricht, gibt es nur das Rauschen der Geschichte, die noch nicht geformt wurde. Dieses Schweigen ist ambivalent: Es kann als Unvermögen verstanden werden, die Wahrheit auszusprechen, oder als Potenzial, das auf seine Entfaltung wartet. Helena ist nicht nur Objekt des Begehrens, sondern eine Figur, die durch ihr Schweigen eine eigenartige Macht über die Männer ausübt. Ihr Schweigen macht sie zu einem Geheimnis, das die Krieger zu entschlüsseln versuchen – doch diese Rätselhaftigkeit verleiht ihr eine fast göttliche Autorität. Neben narrativen und thematischen Aspekten spielt Schweigen auch eine formale Rolle in Michons Schreibweise: Sein Stil ist geprägt von Ellipsen, von bewusst gesetzten Lücken im Text. Diese Auslassungen fordern den Leser heraus, das Unausgesprochene zu rekonstruieren. Michon nutzt das Schweigen als poetische Strategie, um die Grenzen der Sprache auszuloten. Manchmal scheint es, als könne das Entscheidende nicht gesagt werden – sei es, weil es zu groß, zu schrecklich oder zu heilig ist. Das Erzählen gerät ins Stocken, und das Schweigen übernimmt. In J’écris l’Iliade erscheint Schweigen in unterschiedlichen Dimensionen: als Ursprung des Mythos, als Zeichen der Macht, als Ausdruck göttlicher Distanz und als literarische Technik. Michon zeigt Schweigen als einen Raum, in dem sich Geschichte, Begehren und Tragik verdichten. Barthes hebt hervor, dass das Schweigen in Phèdre eine zentrale Funktion hat: Die Tragödie entfaltet sich durch die schrittweise Enthüllung des Begehrens, durch Phädras Geständnisse gegenüber Œnone, Hippolytus und Thésée. Ihr Begehren bleibt nicht verborgen, sondern wird in der Sprache real und unwiderruflich. Michons Helena aber schweigt und lässt die Welt für sie sprechen – sie wird zum Zentrum der Erzählung gerade durch das, was nicht gesagt wird.

Barthes beschreibt die Sprache in Racines Tragödie als ambivalent: Sie ist sowohl ein Mittel der Enthüllung als auch ein Instrument der Selbstzerstörung. Phèdre ist in ein Netz von Worten gefangen, das sie nicht entkommen lässt. Die Tragödie besteht nicht im Geschehen selbst, sondern in der Sprache, die es strukturiert. Das gesprochene Wort ist immer auch ein Verhängnis – Michon erweitert diesen Gedanken, indem er die Sprache als Kampfplatz zwischen Männern und Frauen darstellt. In J’écris l’Iliade entwickelt er die Idee, dass es ursprünglich zwei getrennte Sprachen gab: eine männliche und eine weibliche. Erst später wurden sie zu einer gemeinsamen Sprache „zusammengefügt“, aber mit unüberwindbaren Brüchen. Diese Brüche sind auch in Phèdre erkennbar: Die Sprache Phèdres ist nie vollständig, immer fragmentiert zwischen Begehren und Schuld.

Die wohl prominenteste Anspielung auf Phèdre findet sich in der Szene, in der eine weibliche Figur Racines berühmte Verse rezitiert (die ersten vier der Verse, allerdings in falscher Reihenfolge und mit falschem Ende):

Je le vis, je rougis, je pâlis à sa vue
Un trouble s’éleva dans mon âme éperdue ;
Mes yeux ne voyaient plus, je ne pouvais parler ;
Je sentis tout mon corps et transir et brûler :
Je reconnus Vénus et ses feux redoutables,
D’un sang qu’elle poursuit tourments inévitables !
Par des vœux assidus je crus les détourner :
Je lui bâtis un temple, et pris soin de l’orner ;
De victimes moi-même à toute heure entourée,
Je cherchais dans leurs flancs ma raison égarée :
D’un incurable amour remèdes impuissants !

Racine, Phèdre, I, 3.

Ich sah ihn, ich errötete, verblaßte
Bei seinem Anblick; meinen Geist ergriff
Unendliche Verwirrung, finster wards
Vor meinen Augen, mir versagte die Stimme,
Ich fühlte mich durchschauert und durchflammt,
Der Venus furchtbare Gewalt erkannt ich
Und alle Qualen, die sie zürnend sendet.
Durch fromme Opfer hofft ich sie zu wenden,
Ich baut ihr einen Tempel, schmückt ihn reich,
Ich ließ der Göttin Hekatomben fallen,
Im Blut der Tiere sucht ich die Vernunft,
Die mir ein Gott geraubt – Ohnmächtige
Schutzwehren gegen Venus‘ Macht! […]

Schiller, Friedrich: Phädra. Trauerspiel von Racine, in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Dritter Band: Übersetzungen, München 1960, S. 587–645.

Diese Verse sind zentral für Racines Tragödie: Sie beschreiben den Moment, in dem Phèdre erkennt, dass sie sich in ihren Stiefsohn Hippolyte verliebt hat – ein unerlaubtes, zerstörerisches Begehren. Die Frau, die diese Verse in Michons Roman rezitiert, inszeniert sich selbst als moderne Phèdre. Sie spielt mit der Idee der verbotenen Leidenschaft, doch gleichzeitig distanziert sie sich davon. Sie beansprucht Kontrolle über ihr Begehren – ein Kontrast zu Phèdre, deren Verlangen sie unweigerlich in den Untergang führt:

Elle s’empara sans me regarder de ma main ballante et la serra avec force jusqu’à la fin de la musique et de la minute de silence. La Reine tenait son petit valet, ils regardaient leur Roi. Leurs regards ne décrochaient pas. Pichon semblait halluciné, au bord des larmes. La cité, il s’en foutait bien, elle pouvait cramer. Éva tenait toujours ma main quand nous partîmes. Sitôt l’affaire expédiée, Agathe s’était éclipsée « pour rejoindre des copines », avec la bénédiction de sa mère. Nous n’étions pas sortis de l’enclos qu’Éva se pencha vers moi, elle me dit avec de l’émotion encore : Je vois bien ce qui se passe dans ta tête, tu sais, Pierre. Je comprends. Je te comprends. Je comprends tout ce que tu es parce que tu me ressembles — mais chut. Puis, d’une voix changée, voilée : « Je le vis, je rougis, je pâlis à sa vue ; un trouble s’éleva dans mon âme éperdue, je sentis tout mon corps et transir et brûler, mes yeux ne voyaient plus, je ne pouvais parler — et les sureaux fleuris à l’ombre des forêts. » Elle se mit à rire, les fossettes dansottaient. Puis, songeuse : « Et Phèdre, tôt ou tard de son crime punie, n’en saurait éviter la juste ignominie. »

Je regardais ses perles balancer pendant qu’elle récitait. Ma tête tournait. Pourquoi du Racine ? dis-je. Pour marquer le coup. Pour rester dans le ton de la note du clairon. Pour applaudir notre maire. C’est la fête, Pierre. C’est la sienne — de M. Pichon. Ça va être la mienne aussi. Tu le sais bien, tu l’as déjà lue, Phèdre, cette histoire d’une grue punie. Mais je ne suis pas comme elle : moi, je prends « soin de ma gloire ».

[…]

Le même 11 novembre, dans l’après-midi, j’étais dans « mon endroit » de la forêt, près du chemin creux. Je m’excitai un moment à la pensée d’Hélène de Troie, attelée nue à une roue de moulin, pleurnichant avec la voix d’Eva psalmodiant Phèdre — on étudiait depuis longtemps l’Iliade au lycée, mais mon fantasme du retour honteux avait résisté à la version réelle. Puis en moi l’enfant reprit le dessus et, jouant vaguement au Sioux sur une piste, je longeai le chemin ; à sa bifurcation je pris à droite en montant vers Saint-Chartrier. Personne ne passait plus par ce côté ; il donnait sur une jungle de taillis, il était par endroits jungle lui-même. La brise y amenait parfois un relent de l’énorme « batterie » que Bueil possédait au hameau de Saint-Chartrier, à deux pas. Je montai par là. Je ne marchais pas dans le chemin creux, mais sur son bord, plus haut de deux mètres au moins.

Je le vis.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 147f.

Sie ergriff, ohne mich anzusehen, meine baumelnde Hand und drückte sie fest, bis die Musik und die Schweigeminute zu Ende waren. Die Königin hielt ihren kleinen Diener fest und sie sahen ihren König an. Ihre Blicke lösten sich nicht. Pichon wirkte halluziniert und war den Tränen nahe. Die Stadt war ihm egal, sie konnte in Flammen aufgehen. Éva hielt noch immer meine Hand, als wir gingen. Sobald die Sache erledigt war, hatte sich Agathe mit dem Segen ihrer Mutter „zu ihren Freundinnen“ abgesetzt. Wir hatten das Gehege noch nicht verlassen, da beugte sich Éva zu mir hinunter und sagte noch immer gerührt: „Ich kann gut sehen, was in deinem Kopf vorgeht, weißt du, Pierre. Ich verstehe dich. Ich verstehe dich. Ich verstehe alles, was du bist, weil du mir ähnlich bist – aber pssst. Dann mit veränderter, verschleierter Stimme: „Ich sah ihn, ich errötete, ich erblasste bei seinem Anblick; eine Unruhe stieg in meiner verzweifelten Seele auf, ich fühlte meinen ganzen Körper und schwitzte und brannte, meine Augen konnten nicht mehr sehen, ich konnte nicht sprechen – und die Holundersträucher blühten im Schatten der Wälder.“ Sie begann zu lachen, die Grübchen tanzten. Dann nachdenklich: „Und Phaedra, früher oder später für ihr Verbrechen bestraft, wird die gerechte Schmach nicht vermeiden können.“

Ich beobachtete, wie ihre Perlen schwangen, während sie rezitierte. Mein Kopf drehte sich. Warum Racine?“, fragte ich. Um ein Zeichen zu setzen. Um in der Tonlage des Trompeters zu bleiben. Um unserem Bürgermeister zu applaudieren. Es ist ein Fest, Pierre. Es ist seine – von Herrn Pichon. Es wird auch meins sein. Du weißt es ja, du hast sie schon gelesen, Phädra, diese Geschichte von einem bestraften Kranich. Aber ich bin nicht wie sie: Ich kümmere mich um meinen Ruhm“.

[…]

Am Nachmittag des 11. November war ich an „meinem Ort“ im Wald, in der Nähe des Hohlwegs. Einen Moment lang erregte mich der Gedanke an Helena von Troja, die nackt vor ein Mühlrad gespannt war und mit Evas Phädra-Stimme wimmerte – die Ilias wurde schon lange in der Schule durchgenommen, aber meine Fantasie von der schändlichen Rückkehr hatte sich gegen die reale Version gewehrt. Dann gewann das Kind in mir wieder die Oberhand und ich spielte vage Sioux auf einer Piste und lief den Weg entlang; an seiner Gabelung bog ich rechts ab und stieg nach Saint-Chartrier hinauf. Niemand ging mehr auf dieser Seite; sie führte in einen Dschungel aus Unterholz und war an manchen Stellen selbst Dschungel. Die Brise brachte manchmal einen Hauch von der riesigen „Batterie“ mit sich, die Bueil im Weiler Saint-Chartrier besaß, der nur einen Steinwurf entfernt lag. Ich ging diesen Weg hinauf. Ich ging nicht im Hohlweg, sondern an dessen Rand, der mindestens zwei Meter höher war.

Ich sah ihn.

Das Klassische und das Archaische

Da nun die weiße Farbe diejenige ist, welche die mehresten Lichtstrahlen zurückschicket, … so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist.

Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, 1764.

„Edle Einfalt, stille Größe“, dieser Blick auf die Antike bei Johann Joachim Winckelmann war auch ein Antrieb des 18. Jahrhunderts, die Polychromie der Antike und die Formenvielfalt des Barock durch eine erhabene Einfachheit und Rationalität einer Antike der Aufklärung zu ersetzen. Auch Pierre Michon setzt sich in seinem Iliasbuch mit dem Weißen als ästhetischer und metaphysischer Kategorie auseinander. Die antiken Statuen, das Marmorhafte der griechischen Kunst, aber auch die Vorstellung von absoluter Schönheit, von Reinheit und Perfektion werden reflektiert. Michon zeigt, dass selbst die reinsten Ideale letztlich Konstruktionen sind, die sich nicht in der Realität verwirklichen lassen – der Text wird zur Meditation über den unerreichbaren Anspruch der Kunst.

Pierre Michons J’écris l’Iliade ist ein Werk, das tief in der literarischen Tradition verwurzelt ist, jedoch ist es alles andere als klassizistisch im Sinne eines harmonischen oder idealisierten Antikenbildes. Stattdessen springt Michon zwischen dem Klassischen – verstanden als kultivierte, sprachlich ausgefeilte Form – und dem Archaischen – einer Welt der rohen Gewalt, der mythischen Kräfte und der Unmittelbarkeit des Körpers. Diese Spannung prägt das gesamte Werk: Während das Klassische Ordnung und Überlieferung bedeutet, steht das Archaische für eine chaotische, kriegerische, oft brutale Welt. Michon stellt diese beiden Pole nicht als Gegensätze dar, sondern zeigt, dass das eine im anderen fortlebt – dass die klassische Tradition nicht ohne die archaischen Ursprünge existieren kann.

Qu’en faire ? y croire ? l’adorer ? je ne me sentais en aucune façon néo-païen. Car un dieu, en vérité, c’est tout ce que j’évite : c’est le Bien sans réplique, l’unique, la voie ; c’est la loi, le droit, c’est un fondateur de ville et l’édile absolu ; il exige des rites qui scandent le temps, un principe d’ordre. Fort bien : or je ne suis ni un philosophe ni un homme d’ordre ; ni un bon citoyen ; pour les rites, hormis ceux de la chambre amoureuse, je les oublie toujours. Dieu nous délivre des législateurs ! Mais les dieux sont autre chose : la beauté et la folie. La beauté claire et celle de la nuit. Les dieux aztèques ont seulement la démence, on ne leur a pas demandé d’être beaux. Mais parmi les Grecs… on a l’impression que c’est le monde qui vient à notre rencontre, quand Apollon bande l’arc, quand Poséidon lâche ses chevaux ; quand le dieu fond sur nous. Et il faut bien alors qu’on le salue en retour, que notre coeur lui réponde. C’est cela, que nous appelons beau. Cette réponse qu’il nous arrache, effroi et allégresse mélangés.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 87.

Was sollte ich mit ihm tun? An ihn glauben? Ihn anbeten? Ich fühlte mich in keiner Weise als Neuheide. Denn ein Gott ist in Wahrheit alles, was ich meide: Er ist das unwidersprochene Gute, das Einzige, der Weg; er ist das Gesetz, das Recht, ein Stadtgründer und der absolute Älteste; er verlangt Riten, die die Zeit skandieren, ein Ordnungsprinzip. Nun gut, aber ich bin weder ein Philosoph noch ein Mann der Ordnung, noch ein guter Bürger; was die Rituale angeht, so vergesse ich sie, abgesehen von denen des Liebeszimmers, immer. Gott erlöse uns von den Gesetzgebern! Aber die Götter sind etwas anderes: die Schönheit und der Wahnsinn. Die helle Schönheit und die der Nacht. Die Götter der Azteken haben nur den Wahnsinn, von ihnen wurde nicht verlangt, schön zu sein. Aber unter den Griechen … hat man das Gefühl, dass es die Welt ist, die einem entgegenkommt, wenn Apollon den Bogen spannt, wenn Poseidon seine Pferde loslässt; wenn der Gott auf uns losgeht. Und dann müssen wir ihn zurückgrüßen, unser Herz muss ihm antworten. Das ist es, was wir als schön bezeichnen. Diese Antwort, die er uns entlockt, ist eine Mischung aus Schrecken und Freude.

Homer, der blinde Dichter, erfährt die Welt nicht visuell, sondern über die Abwesenheit von Farbe. Seine Blindheit (auch als komplett weiße Augen dargestellt) wird für Michon zur Metapher für die Leere, aus der seine Dichtung entsteht. Die Ilias entspringt einem weißen Traum, die poetische Schöpfung steht in einem Spannungsverhältnis zwischen Unsichtbarkeit und sprachlicher Manifestation. Hier lässt sich eine Verbindung zu Winckelmanns Konzept der Weißheit als Abstraktion ziehen: Während dieser im Weißen eine Überlegenheit gegenüber der Farbigkeit, eine Vollendung der Kunst sah, betrachtet Michon Weiß als Ausdruck des Unvollständigen und des Entstehens.

Das Kapitel „La bataille d’Éryx“ ist eine Mischung aus autobiografischer Erinnerung und literarischer Reflexion: Der Erzähler reist nach Sizilien, insbesondere nach Eryx/Erice, einem Ort, der für seine antike Geschichte bekannt ist. Dort findet eine Art geistige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit statt. Die Landschaft Siziliens, ihre Ruinen und die Spuren vergangener Kulturen dienen als Symbole für die Vergänglichkeit menschlichen Strebens. Die Geschichte der Schlacht von Eryx, in der die Römer gegen die Karthager kämpften, erscheint dem Erzähler wie eine Parabel über die Macht der Erzählung selbst: Wer Geschichte schreibt, bestimmt, wie sie erinnert wird. Dieses Kapitel verknüpft die Themen Krieg, Literatur und Vergänglichkeit auf einer sehr direkten Ebene. Der Erzähler begibt sich auf die Spuren der Antike, nur um festzustellen, dass auch die größten Ereignisse irgendwann zu Ruinen werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, was bleibt – und Michon deutet an, dass es die Literatur ist, die den Moment bewahren kann.

C’était tôt le matin. Comme nous longions le flanc du Monte Barbaro, l’argent des oliviers filait le long de nos vitres en ruisselant. Et soudain de l’autre côté du mont le temple fut là, indubitable, masse célibataire, envolée, toute clarté ; seul comme un burg hugolien, mais sur le mode solaire.

On s’est assis sur la colline face au mont. Le temple est orienté au nord ; le soleil derrière lui le traversait de part en part ; les barreaux des colonnes ne l’emprisonnaient pas, il les franchissait et s’épanchait sur nous. Il nous purifiait.

Là, le Zouave, après un long silence, prit la parole :

Les filles, et toi Zouave, je sais ce que vous ressentez en voyant ce débris. Je ressens pareil. Il n’y a plus que les entablements et les colonnes, elles ne sont même pas cannelées, c’est resté mal dégrossi, on dirait qu’elles sont encore couchées dans le calcaire de la carrière, c’est le matériau brut ; mais il se trouve qu’elles sont debout. Les gars ont juste planté cette carcasse, pas eu le temps d’en faire plus, ils ont été massacrés avant ; pas de décor, pas de sculpture ; ce ne sont que des lignes, épure, géométrie, apparition abstraite. Ce n’est pas de l’art ni de la matière brute ; ni du sacré ; c’est de l’être.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 49.

Es war früh am Morgen. Als wir an der Flanke des Monte Barbaro entlangfuhren, rann das Silber der Olivenbäume an unseren Fenstern vorbei und tropfte. Und plötzlich war auf der anderen Seite des Berges der Tempel da, unzweifelhaft, eine unverheiratete Masse, weggeflogen, alle Klarheit; einsam wie eine Burg bei Hugo, aber in sonniger Szenerie.

Wir setzten uns auf den Hügel mit Blick auf den Berg. Der Tempel ist nach Norden ausgerichtet; die Sonne hinter ihm durchdrang ihn durch und durch; die Gitterstäbe der Säulen hielten sie nicht gefangen, sie durchbrach sie und ergoss sich über uns. Sie reinigte uns.

Dort ergriff der Zouave nach langem Schweigen das Wort:

Mädchen und du Zouave, ich weiß, wie ihr euch beim Anblick dieses Trümmerstücks fühlt. Ich fühle mich genauso. Es gibt nur noch das Gebälk und die Säulen, sie sind nicht einmal geriffelt, sie sind noch ungeschliffen, es sieht aus, als lägen sie noch im Kalkstein des Steinbruchs, das ist das Rohmaterial; aber zufällig stehen sie. Die Jungs haben nur dieses Gerippe gepflanzt, hatten keine Zeit für mehr, sie wurden vorher abgeschlachtet; kein Dekor, keine Skulptur; es sind nur Linien, Reinheit, Geometrie, abstrakte Erscheinung. Das ist weder Kunst noch Rohmaterial; auch nicht heilig; das ist Sein.

Ursprünglich bezeichnete „templum“ einen von Auguren festgelegten, abgegrenzten Bereich des Himmels oder der Erde, innerhalb dessen sie Omen beobachteten und interpretierten. Lateinisch „templum“ leitet sich vom Verb „temnere“ ab, was „abschneiden“ oder „abgrenzen“ bedeutet. Dieser Raum wurde durch bestimmte Rituale und Formeln definiert und galt als heiliger Bezirk für die Deutung göttlicher Zeichen. Die Entwicklung vom symbolischen Raum zum physischen Tempelgebäude spiegelt den Wandel in der römischen Religionspraxis wider, bei dem der Fokus von der reinen Beobachtung und Interpretation göttlicher Zeichen hin zur Errichtung von Kultstätten für die Verehrung der Götter verlagerte. Die Szene bei Pierre Michon über den Tempel von Ségeste kann im Licht von Heideggers Überlegungen zum Kunstwerk als Offenbarung der Wahrheit interpretiert werden: Das Werk existiert nicht nur als physisches Objekt, sondern eröffnet einen Raum, in dem sich das Sein zeigt. In Der Ursprung des Kunstwerks schreibt Heidegger, dass der griechische Tempel nicht einfach nur ein Bauwerk ist, sondern als Kunstwerk eine Welt eröffnet. Er gibt nicht einfach eine vorgegebene Wahrheit wieder, sondern bringt Wahrheit überhaupt erst zum Leuchten:

Der Tempel, der auf einem Vorgebirge oder in einem Felsental aufragt, das Standbild, das im heiligen Bezirk dasteht, diese Werke sind unter dem vielen Übrigen: Meer und Land, Quellen und Bäume, Adler und Schlangen, nicht nur allenfalls auch vorhanden, sondern sie halten im gelichteten Spielraum des Erscheinens der Dinge die Mitte besetzt – sie sind wirklicher als jedes Ding, weil deren jedes erst in dem durch Werk erstrittenen Offenen sich als seiend bekunden kann.

Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes (Klostermann, 2012), 100.

Der Tempel wird von Martin Heidegger als ein entscheidendes Beispiel für das Kunstwerk betrachtet, das nicht nur ästhetische, sondern auch ontologische Dimensionen aufweist: Der Raum des Tempels verleiht den Dingen erst ihr Gesicht und ermöglicht dem Menschen die Aussicht auf sich selbst, solange der Gott nicht aus dem Tempel entflohen ist. Heidegger warnt vor dem Verlust der ursprünglichen Bestimmung des Tempels, wenn dieser nur als Ruine betrachtet wird: Ruinen sind für ihn keine Kultstätten mehr, sondern zeugen von einem vergangenen Zustand, in dem das Göttliche in der Kunst präsent war. Mit dem Verfall des Tempels wird eine Begegnung mit dem Göttlichen unmöglich, und die Kunst wird auf ihre rein materielle Existenz reduziert. Der Tempel dagegen wird von Heidegger als ein Ereignis betrachtet, das die Wahrheit ins Werk setzt; diese Wahrheit ist nicht einfach eine objektive Realität, sondern ein dynamisches Geschehen, das sich in der Kunst entfaltet. Er ist somit ein Ort, an dem Kunst und Existenz miteinander verwoben sind.

Michons Tempel von Ségeste steht in ähnlicher Weise als eine „abstrakte Erscheinung“, eine reine geometrische Form, die nicht mehr Kunst oder Material ist, sondern „reines Sein“. Diese Beschreibung entspricht Heideggers Idee, dass das Kunstwerk den Streit zwischen „Welt“ und „Erde“ austrägt: Der Tempel steht fest in der Erde, verwurzelt im Material, doch zugleich öffnet er eine Welt, die über ihn hinausweist. Die Sonnenstrahlen durchdringen seine Säulen, er ist nicht verschlossen, sondern durchlässig – das Licht hält ihn nicht gefangen, sondern fließt durch ihn und „purifiziert“ die Betrachtenden vergleichbar zu Heideggers Idee, dass das Kunstwerk nicht nur Materie sei, sondern eine Wahrheit eröffnet, die über das Material hinausgeht. Auffällig ist das Unvollendete des Tempels in Michons Darstellung: Er ist „débris“, ein Trümmer, ein Fragment, und doch gerade in dieser Unvollständigkeit vollendet. Heidegger argumentiert, dass Kunst die Wahrheit nicht fixiert, sondern erst erkämpft und immer im Werden ist. Der unvollendete Tempel von Ségeste zeigt damit, dass das Wesen der Kunst nicht in ihrer perfekten Form liegt, sondern in ihrer Fähigkeit, das Offene zu erschließen – genau das, was Heidegger als das Wesen des Kunstwerks beschreibt. Es ist nur konsequent, dass Michon in der großen Bücherverbrennung am Ende des Buchs auch Heidegger dem Feuer übergibt, nicht als Absage, sondern als produktive Integration der eigenen Kunst.

In der Art, wie Michon die Ilias liest und umschreibt, wird der Text nicht als literarisches Denkmal behandelt, sondern als lebendige Kraft, als etwas, das in der Gegenwart weiterwirkt, dies zeigt sich besonders in den Szenen, in denen der Erzähler über das Schreiben spricht. Eine der auffälligsten Spannungen in J’écris l’Iliade liegt in der Darstellung des Körpers. Die Figuren, die Michon beschreibt – Achilles, Helena, Alcide, der Erzähler selbst – sind nicht einfach Menschen, sondern mythische Körper, die von Gewalt, Begehren und Schicksal gezeichnet sind. Doch diese archaische Körperlichkeit wird in Michons Sprache in eine fast barocke, hyperpräzise Form gegossen. Seine Sätze sind lang, geschliffen, voller Anspielungen und poetischer Rhythmik. Während die Körper in seinem Text oft roh und brutal erscheinen, ist die Sprache selbst hochartifiziell – ein deutlicher Kontrast, der zeigt, wie das Archaische in der klassischen Form weiterlebt.

Michons Figuren sind Grenzgänger zwischen der archaischen und der klassischen Welt. Besonders deutlich wird dies in der Figur Alexanders des Großen, der im Kapitel Le Rêve d’Alexandre als jemand beschrieben wird, der sowohl ein wildes, dionysisches Wesen besitzt als auch ein strategisches, rationales Denken. Alexander träumt davon, ein zweiter Achilles zu sein, doch er ist zugleich ein Herrscher, der sich mit Philosophen wie Aristoteles umgibt. Diese Spannung zeigt sich in seiner letzten Vision, in der er erkennt, dass er sich am Ende nicht gegen die Macht der Sprache durchsetzen kann – dass Homer letztlich derjenige ist, der über sein Erbe entscheidet.

Analogismus bei Descola und Michon

So legitim es ist, über die Weißheit der Altertumswissenschaften Winckelmanns und anderer das Kapitel „Éloge de la blancheur“ zu lesen, es ist im Buch Philippe Descola gewidmet und erschien zuerst gesondert als Beitrag Michons zu einem Cahier de l’Herne, das dem Anthropologen des Collège de France gewidmet ist. 3 Descola hinterfragt in Par-delà nature et culture die klassische Trennung zwischen Natur und Kultur, die tief in der westlichen Denktradition verankert ist. Er argumentiert, dass diese Dichotomie nicht universell ist, sondern eine spezifisch westliche Perspektive darstellt, die in vielen Gesellschaften keine Entsprechung findet. Descola plädiert für eine Dekonstruktion westlicher Denkstrukturen, die Natur und Kultur als getrennte Sphären behandeln, und bietet eine alternative Perspektive, um unterschiedliche Weltsichten systematisch zu erfassen, ohne sie durch eurozentrische Kategorien zu verzerren. Auf dieser Grundlage entwirft Descola vier Organisationsweisen zwischen Mensch und Umwelt in verschiedenen Kulturen: Animismus, Totemismus, Analogismus und Naturalismus, letzterer kennzeichnet die westliche Moderne, und diesem zufolge besitzen Menschen Bewusstsein, während die Natur als objektive, passive Materie betrachtet wird, erschließbar durch wissenschaftliche Objektivierung. Der Analogismus dagegen ist laut Descola nicht nur in Indien, China und den Anden zu finden, sondern auch im vormodernen Europa (von Homer): Hier wird Welt als ein komplexes Netzwerk von Unterschieden begriffen, die durch Analogien geordnet werden, etwa in astrologischen oder medizinischen Korrespondenzen. Es existieren zwischen Menschen, Tieren, Objekten und kosmischen Strukturen komplexe Ähnlichkeits- und Entsprechungsverhältnisse, die keine radikale Trennung zwischen Natur und Kultur voraussetzen.

Pierre Michons „Éloge de la blancheur“ aus J’écris l’Iliade (2023) entfaltet eine poetische Reflexion, die mit Descolas Analogismus korrespondiert. Die Farbe Weiß fungiert in Michons Text nicht nur als ästhetisches oder symbolisches Motiv, sondern als Prinzip einer Welterkenntnis, die sich gerade durch Ähnlichkeiten, Spiegelungen und Korrespondenzen konstituiert. Weiß ist hier nicht nur Licht oder Leere, sondern eine Struktur, die unterschiedliche Ebenen des Seins in ein analogisches Verhältnis setzt. Weiß besitzt bei Michon keine abstrakte oder essentialistische Qualität, sondern ist ein Medium der Beziehung zwischen Körpern und Steinen, zwischen Licht und Schrift, zwischen Erinnerung und Vergessen.

Während der Naturalismus den Menschen als einziges bewusstes Wesen betrachtet und die Natur als mechanisches Außen begreift, sieht der Analogismus die Welt als ein System von unendlich vielen Einheiten, die durch unsichtbare Ähnlichkeiten miteinander verbunden sind. Hierin liegt eine Nähe zu esoterischen oder hermetischen Denktraditionen, aber auch zu barocker Symbolik und mittelalterlicher Allegorie. Für analogistische Kulturen – etwa in der chinesischen oder mesoamerikanischen Philosophie – existiert zwischen Mikro- und Makrokosmos ein strukturelles Echo: ein Berg kann eine Schulter sein, ein Stern eine Gottheit, eine Hieroglyphe eine lebendige Entität. In diesem Modell gibt es keine starren Trennungen zwischen Materie und Geist, sondern eine komplexe Wechselbeziehung. Dies führt dazu, dass Wissen nicht durch Objektivierung, sondern durch Analogiebildung generiert wird – ein Prinzip, das in Michons Poetik tief eingeschrieben ist. In „Éloge de la blancheur“ zeigt Michon Weiß nicht als bloße Farbe, sondern als ein Prinzip der Welterkenntnis. Weiß ist Licht, aber auch Auslöschung, es ist Ursprung und Ende, eine Zone der Übergänge. Weiß ist nicht statisch, sondern eine bewegliche Kategorie, die verschiedene Ebenen der Wirklichkeit verbindet. Es ist Licht – also eine kosmische Energie –, aber es hat auch eine reinigende Funktion, es ist mit Wasser verbunden, mit der Idee der Vorbereitung auf die Schlacht, mit dem Moment vor der Gewalt. Descola beschreibt den Analogismus als ein System, in dem Dinge nicht durch physische Nähe oder kausale Abfolgen, sondern durch symbolische Resonanzen miteinander verbunden sind. Michons Weiß funktioniert auf diese Weise: Es ist nicht einfach eine Farbe auf einer Oberfläche, sondern eine Kraft, die verschiedene Sphären in ein Verhältnis setzt. Michons Text entwickelt eine Logik der Entsprechung. Körper und Natur stehen in Michons analogistischer Poetik in einem symbolischen Verhältnis zueinander: Ein Körper ist nicht einfach Fleisch, sondern kann zum Stein werden, zur Schrift, zum Licht – er bleibt nicht autonom, sondern ist in eine größere Ordnung eingebunden. Hier wird ein Kontinuum entworfen, das etwa der modernen Trennung zwischen Körper und Sprache widerspricht.

La double hache, je l’aperçois vaguement : elle ne bouge pas, elle est plantée en terre et elle surplombe. Les silhouettes qui bougent, je les vois comme des ombres, c’est-à-dire que je ne les vois pas. Tout cela s’agite et tourne autour de moi au son d’une musique monotone, comme les cigales ou la pluie. Soudain on brandit sous mon nez du blanc, des fleurs, on l’approche, on l’agite — à peine. Je me perds dans cette blancheur à l’odeur lourde, je ne fais pas un geste. Que veut-on que j’en fasse ? Ah — ce sont les lys, c’est Callisto qui me les tend pour le sacrifice. J’émerge du songe. Un moment de malaise, les autres ont cessé de danser et me regardent, la flûte s’est tue. Toutes plantées là, la gorge nue et affublées sur les reins, en déesses, la Chasseuse de Nuit, la Douce Vierge, la Dame du Mont — mais non, ce ne sont que Callisto, Thémis, les autres, mes suivantes et mes caméristes, les éternelles figurantes : la danseuse aux cymbales, puis celle à la corbeille, celle aux pommes de pin, celle qui joue de la flûte. Elles tiennent bien leur rôle, sérieuses comme des matrones. Et c’est Callisto qui me tend les lys pour le rite. Depuis combien de temps poireaute-t-elle devant moi ? Elle est là parce que le rôle de la Dame de Lumière, c’est moi ; les lys, l’amour suave que me porte le Prince aux Lys. Je reviens à moi, j’empoigne sans égards le bouquet et le jette royalement sur l’autel aux sacrifices. La fleur candide aux longs pistils fauves grésille dans le feu. Moi seule ai ce droit de sacrifier : assise plus haut qu’elles sur la haute pierre ne suis-je pas la Reine ? Callisto me regarde avec soulagement, avec amour. Moi aussi je les observe, mon regard libéré va de l’une à l’autre ; leurs jolis pieds bondissent et frappent les dalles. Des déesses ? allons, allons. Elles accomplissent le rite comme jouent des petites filles, bien assidues — des petites filles, mais des femmes aussi, qui ont toutes servi au plaisir de Minos, comme moi jadis — je leur souhaite d’avoir trouvé sous ce soudard plus de plaisir que moi. Elles jouent à la déesse, c’est sérieux. Puis c’est vite fini, on enlève enfin les peaux de bouc, les grigris, les têtes de sanglier, on se couvre la poitrine. Je compare leurs gorges, mes belles, mes brunes : rien à dire d’Astrée, elle est aussi belle que moi ; celle de Thémis est trop lourde, celle de Callisto infime. Mais la mienne, ah, la mienne… Thémis essuie comme d’habitude la double hache avec un cuir de veau, je les rejoins, on rit, elles m’embrassent ; on est entre filles, on peut tout dire. Presque. Car le grand Blanc qui me revient en plein coeur, je n’en peux pas parler.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 59.

Die Doppelaxt sehe ich vage: Sie bewegt sich nicht, sie steckt in der Erde und überragt sie. Die Silhouetten, die sich bewegen, sehe ich als Schatten, das heißt, ich kann sie nicht sehen. All das bewegt sich und dreht sich um mich herum zu einer monotonen Musik, wie die Zikaden oder der Regen. Plötzlich wird vor meiner Nase etwas Weißes hochgehalten, Blumen, man nähert sich ihm, wedelt damit – kaum. Ich verliere mich in diesem schwer riechenden Weiß, mache keine Anstalten, mich zu bewegen. Was soll ich damit machen? Ah – das sind die Lilien, Callisto reicht sie mir für das Opfer. Ich tauche aus dem Traum auf. Ein Moment des Unbehagens, die anderen haben aufgehört zu tanzen und schauen mich an, die Flöte ist verstummt. Alle stehen da, mit nackter Kehle und auf den Lenden, wie Göttinnen, die Nachtjägerin, die süße Jungfrau, die Dame vom Berg – aber nein, es sind nur Kallisto, Themis, die anderen, meine Gefolgsleute und Kameradinnen, die ewigen Statisten: die Tänzerin mit den Zimbeln, dann die mit dem Korb, die mit den Tannenzapfen, die, die die Flöte spielt. Sie halten ihre Rolle gut, ernst wie Matronen. Und Callisto reicht mir die Lilien für den Ritus. Wie lange hat sie schon vor mir gestanden? Sie ist hier, weil ich die Rolle der Dame des Lichts spiele; die Lilien sind die süße Liebe, die der Lilienprinz für mich empfindet. Ich komme zu mir, packe den Strauß ohne Rücksicht auf Verluste und werfe ihn königlich auf den Opferaltar. Die unschuldige Blume mit den langen, falben Stempeln zischt im Feuer. Ich allein habe das Recht zu opfern: Sitze ich nicht höher als sie auf dem hohen Stein und bin die Königin? Callisto sieht mich erleichtert und liebevoll an. Auch ich beobachte sie, mein befreiter Blick wandert von einer zur anderen; ihre hübschen Füße hüpfen und schlagen auf die Steinplatten. Göttinnen? Na, na, na. Sie vollziehen den Ritus, wie kleine Mädchen spielen, sehr fleißig – kleine Mädchen, aber auch Frauen, die alle zu Minos‘ Vergnügen gedient haben, wie ich einst – ich wünsche ihnen, dass sie unter diesem Schmierfink mehr Vergnügen gefunden haben als ich. Sie spielen die Göttin, es ist ernst. Dann ist es schnell vorbei, sie legen endlich die Bocksfelle, die Grigris und die Wildschweinköpfe ab und bedecken ihre Brüste. Ich vergleiche ihre Kehlen, meine Schönen, meine Brünetten: Nichts zu sagen zu Atreus, sie ist genauso schön wie ich; die von Themis ist zu schwer, die von Kallisto winzig. Aber meine, ach, meine … Themis wischt wie üblich die Doppelaxt mit einem Kalbsleder ab, ich geselle mich zu ihnen, wir lachen, sie umarmen mich; wir sind unter Mädchen, wir können alles sagen. So gut wie. Denn über den Großen Weißen, der mir mitten ins Herz fällt, kann ich nicht sprechen.

Ein entscheidendes Moment in Michons Poetik ist, dass Weiß keine neutrale oder universale Farbe ist – wie es im westlichen Naturalismus verstanden wird –, sondern eine Qualität, die von ihrer Beziehung zu anderen Dingen abhängt. Analogistisch gedacht, bedeutet Weiß nicht einfach „hell“ oder „rein“, sondern eine Art der Durchlässigkeit: der Übergang zwischen den Formen, der Moment, in dem ein Körper zum Stein und der Stein zur Schrift wird. Pierre Michons „Éloge de la blancheur“ entfaltet eine Poetik, in der sich Dinge nicht durch ihre Substanz definieren, sondern durch ihre Beziehungen. Das Weiß ist damit nicht bloß Metapher, sondern eine ontologische Figur, die zeigt, dass Literatur und Anthropologie nicht nur über die Welt sprechen, sondern sie in ihrer Struktur sichtbar machen. Es ist das Weiß der Marmorstatue, das Weiß des Leichentuchs, das Weiß der antiken Ruinen, das Weiß des unbeschriebenen Blattes. Es ist ein Weiß, das enthüllt, indem es löscht – eine Bewegung, die sich mit Descolas Idee der fluiden ontologischen Übergänge zwischen Dingen und Wesen verbindet.

Helena und das Reale

Dem Kapitel „La déesse vient“ stellt Michon den Satz von Jacques Lacan voran: „Ce qu’on demande à l’hallucination, ce n’est pas l’imaginaire, c’est le réel.“ – „Was von der Halluzination verlangt wird, ist nicht das Imaginäre, sondern das Reale.“ Hier werden durchaus Bezüge zu Michons Analogismus mit Blick auf die Moderne sichtbar: Das Lacan-Zitat lässt sich im Kontext seiner Theorie der drei Register verstehen – des Imaginären, des Symbolischen und des Realen. Während das Imaginäre die Sphäre der Bilder, Spiegelungen und Täuschungen umfasst, das Symbolische die Ordnung der Sprache, Gesetze und Bedeutungen beschreibt, bezeichnet das Reale das, was sich der symbolischen Ordnung entzieht, das Unaussprechliche, das Exzessive. Halluzinationen scheinen zunächst in den Bereich des Imaginären zu gehören, weil sie Bilder oder Sinneseindrücke erzeugen, die keine objektive Entsprechung haben. Doch Lacan betont, dass sie in Wirklichkeit eine Konfrontation mit dem Realen sind – mit etwas, das sich nicht symbolisieren oder in eine kohärente Vorstellung einfügen lässt. Von einer Halluzination erwartet man nicht einfach eine Illusion oder ein Trugbild, sondern eine absolute, unentrinnbare Erfahrung von Realität. Halluzinationen entstehen oft dort, wo das symbolische Gefüge brüchig wird, etwa bei Psychosen, Traumata oder in ekstatischen Erfahrungen. Sie wirken nicht nur wie Einbildungen, sondern als radikale, oft verstörende Durchbrüche des Realen in die Wahrnehmung. Eine auditive Halluzination, also eine Stimme, die jemand hört, ist für ihn nicht nur eine eingebildete Stimme, sondern erscheint ihm absolut wirklich, oft sogar realer als die Realität selbst. Sie fordert das Subjekt heraus, sich zu ihr in Beziehung zu setzen, ohne dass eine symbolische Vermittlung, etwa durch Sprache oder Dialog, möglich ist.

Lacan zufolge tritt das Reale oft in der Form der Halluzination auf, wenn etwas nicht symbolisiert werden kann. Das bedeutet, dass in der Halluzination eine verdrängte Wahrheit auf brutale Weise wiederkehrt – nicht als verständliche Aussage, sondern als unkontrollierbares Ereignis. Ein traumatisierter Soldat kann nach dem Krieg Halluzinationen von Gefechtslärm oder sterbenden Kameraden haben. Diese Bilder sind nicht einfach Fantasieprodukte, sondern tragen eine Wahrheit in sich, die sich nicht symbolisch ordnen oder verarbeiten lässt. Halluzinationen sind somit nicht bloße Täuschungen, sondern Ausdruck eines Bruchs in der symbolischen Ordnung, durch den das Reale in seiner rohen, unvermittelten Form in die subjektive Erfahrung einbricht. Sie sind nicht weniger real als die normale Wahrnehmung – im Gegenteil, oft erscheinen sie dem Subjekt sogar noch unmittelbarer und zwingender als das, was gewöhnlich als Realität bezeichnet wird. Dies lässt sich auf Pierre Michons J’écris l’Iliade übertragen, indem man den poetischen Akt als eine Form der Halluzination begreift, die nicht einfach illusionäre Bilder erzeugt, sondern eine unentrinnbare, erschütternde Realität aufruft. Michons Text ist keine bloße Imagination einer vergangenen Epoche, kein historisches Nachbild, sondern eine intensive, fast halluzinatorische Beschwörung des Realen. Das Weiß, das in Éloge de la blancheur eine zentrale Rolle spielt, ist nicht nur eine ästhetische oder metaphorische Qualität, sondern eine Struktur der Wahrnehmung, die auf radikale Weise zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wechselt. Michons Erzählweise begnügt sich nicht mit einer symbolischen Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern dringt in eine Dimension vor, in der Geschichte als eine Art halluzinierte Gegenwart auftritt. In J’écris l’Iliade ist das antike Epos nicht fern und abgeschlossen, sondern kehrt in der Wahrnehmung des Erzählers wieder – als etwas, das sich nicht in eine distanzierte, reflektierte Betrachtung fassen lässt, sondern sich als unerbittliche Realität aufdrängt. Es ist keine imaginäre Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern eine poetische Beschwörung von etwas, das sich nicht vollständig in Sprache fassen lässt, sondern als unentrinnbare Präsenz wirkt.

Lacans Satz steht am Anfang des Kapitels „Hélène revient“ in J’écris l’Iliade und setzt damit eine Lesart des Textes als Halluzination oder Vision in Gang. Das Kapitel handelt von der Rückkehr Helenas, aber nicht in einer historischen oder mythisch fixierten Form, sondern als Wiederkehr einer intensiven, unerbittlichen Präsenz, die nicht nur imaginiert, sondern real erlebt wird. Der Erzähler kann sich nicht von seiner Faszination für Helena lösen, sie kehrt immer wieder zurück, sei es in seinen eigenen Erzählungen oder in filmischen Projekten, in denen er ihre Geschichte neu inszeniert. Lacans Konzept des Realen als das, was sich der symbolischen Ordnung entzieht und dennoch mit voller Wucht in die Wahrnehmung einbricht, hilft zu verstehen, warum die Figur der Helena in Michons Text nicht als historische Person erscheint, sondern als wiederkehrende Obsession, als unerbittliche, fast gewaltsame Gegenwart. Die Halluzination ist nicht bloß eine Fiktion oder ein Trugbild, sondern eine Form der Wahrheit, die den Erzähler nicht loslässt. In diesem Sinne zeigt „Hélène revient“ den récit (so der Untertitel des Buchs) als Begegnung mit dem Realen – mit etwas, das sich nicht abschließen oder befrieden lässt, sondern in der Sprache immer wiederkehrt.

Das Blut war für mich wie Samen

Ein zentrales Motiv von Michons Homer-Buch ist die Überlagerung von Krieg und Sexualität, die Ilias zeigt sich als getrieben von Begehren und gibt sich seitenlang als erotischer Roman. Gleichzeitig leistet das Buch eine autofiktionale Reflexion, in der Michon eigene Krisen mit mythologischen Figuren verwebt. Besonders ambivalent wird die Bücherverbrennung gegen Ende gedeutet: als schöpferischer Befreiungsakt oder als skeptische Geste gegenüber der Literatur selbst. Die wiederkehrenden Themen von Eros und Thanatos durchziehen das Werk und spiegeln die duale Natur des kreativen Prozesses wider: die Schöpfung neuer Ideen erfordert das Opfer bestehender Strukturen. Insgesamt kann J’écris l’Iliade als Metafiktion gelesen werden, die die Herausforderungen und Paradoxien des Schreibens selbst thematisiert. Michon hinterfragt so die Möglichkeit, in der Moderne eine authentische Stimme zu finden, und er zeigt, dass Zerstörung und Schöpfung untrennbar miteinander verbunden sind. Romain de Becdelièvre urteilt: „Das Buch ist sehr listig und ist nie das, was es zu sein scheint. Es gibt eine doppelte Bewegung, sowohl eine Brutalität, etwas sehr Konkretes, als auch gleichzeitig eine große Meta-Reflexion, insbesondere über die Literatur. Es ist eine sehr seltsame literarische Geste, die sehr schöne, kraftvolle Texte hervorbringt, die auch vom Lachen durchzogen sind. Man wird es in zehn Jahren noch einmal lesen müssen, um zu sehen, aus welcher Zeit es spricht“. 4

Die folgende Passage aus dem Kapitel „Rêve d’Homère“ bildet eine der intensivsten Stellen des Textes, in der sich das epische Erzählen mit erotischer und kriegerischer Bildlichkeit vermischt. Die Szene spiegelt die grundlegende Verbindung von Krieg, Begehren, Sprache und Macht wider.

J’entends le martèlement doux des pierres à aiguiser sur les épées, dans les trêves d’après-midi brûlantes. Je les vois incliner l’outre de vin noir avant la charge, avec précaution pour ne pas remuer la lie ; quand ils sacrifient des porcs gras et des boeufs ; quand vite ils sautent du char pour planter les pieds à terre et lancer la pique ; quand, à l’écart, ils saisissent et plient la jambe du cheval qui boite pour vérifier la corne ; quand par bravade ils se jettent au galop contre les remparts, dont au dernier moment les sabots des chevaux retenus et cabrés heurtent les briques ; quand ils s’accroupissent pour chier entre deux coups d’épieu ; ou quand tout là-bas comme des petits points ils courent sur la plage vers les vaisseaux noirs ; et quand vient l’hiver et qu’ils les calfatent, l’odeur forte du bitume, qui depuis est pour moi lascive et me prend à la gorge.

Quand ils lançaient le char, le hourvari des cris de guerre, la huée d’assaut. Et quand les Troyens au retour passaient les Portes Scées dans la caisse du char, du sang jusqu’aux essieux, au timon, au tablier, à la rambarde, jusqu’au carquois. Jusqu’au menton. Ce sang m’était comme de la semence me dégoulinant de la tête aux pieds.

Leurs jambières, leurs casques en peau de fouine, de renard, en cuir de sanglier avec les dents, en bronze ; les caresses raides des crins à la crête du cimier ; leurs pectoraux vissés plaque sur plaque; leurs hurlements sur les chars; leurs obscénités gueulées dans les défis; leurs injures; leurs lances; leur faim ; leur haine ; leur virilité aussi roide que le frêne des épieux.

Ceux que je revois le mieux : Ajax, sa cuirasse de sanglier, son ombre géante, sa balourdise, son baratin coincé quand il me faisait sa cour ; Ulysse, son bagout, son casque, son âme de source et de rocailles ; Diomède fils de Tydée, ses dents de loup, son riche cri de guerre, sa lance fichée dans l’aisselle d’Aphrodite, son casque ; l’épieu trapu d’Ajax, l’autre ; le casque à la mode d’Argos d’Agamemnon ; d’Agamemnon aussi, la cuirasse de corne que lui avait offerte Ménélas son frère, à Chypre. Ménélas, le blond, ses belles boucles, ses bras d’ivoire, sa poitrine d’ivoire, son membre, son coeur; son casque. Face à eux tous Pâris, Pâris Alexandre, ses deux noms, ses belles boucles, son bagout, ses cuisses, son membre — son dard d’or, son arc, son coeur.

Achille, ses boucles, son cimier de Corinthe, son rictus, son casque ; l’irrésistible, le beau blond à la belle vindicte. Il a été le seul Grec à me haïr. Et quoique blond, je ne l’aimais pas. Il ne me désirait pas. Il était un peu femme, il est vrai. Il avait franchi à peine l’adolescence pourtant, l’âge où tout leur est femme, quand l’envie, la fureur, leur dévore le ventre.

Et l’autre archer qui a fléché mon archer adoré, Pâris.

Et tous les autres, qui après le massacre ont réembarqué pour rentrer chez eux et y faire la culbute.

Tous, commandés par la grande gueule d’Agamemnon Atride, l’auguste piquier, mon beau-frère, le promis de la baignoire, le futur gros poisson nageant dans son sang.

Tous ces hommes.

Ils sont venus pour voir et reprendre la fente de la terre. Moi.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 28f.

Ich höre das sanfte Hämmern der Wetzsteine auf den Schwertern, in den Waffenstillständen an heißen Nachmittagen. Ich sehe, wie sie den Schlauch mit schwarzem Wein vor dem Laden kippen, vorsichtig, um die Hefe nicht aufzuwirbeln; wenn sie fette Schweine und Ochsen opfern; wenn sie schnell vom Wagen springen, um die Füße auf den Boden zu setzen und die Pike zu werfen; wenn sie das Bein eines lahmenden Pferdes von der Seite ergreifen und anwinkeln, um das Horn zu prüfen; wenn sie aus Trotz gegen die Stadtmauer galoppieren, deren Ziegel im letzten Moment von den Hufen der zurückgehaltenen und aufgerichteten Pferde getroffen werden; wenn sie sich hinhocken, um zwischen zwei Spießrutenläufen zu scheißen; oder wenn sie dort drüben wie kleine Punkte über den Strand zu den schwarzen Schiffen rennen; und wenn der Winter kommt und sie sie kalfatern, ist der starke Geruch von Bitumen, der seitdem für mich lasziv ist und mich an der Kehle packt.

Wenn sie den Streitwagen warfen, das Hurrah der Kriegsrufe, das Buhgebrüll des Angriffs. Und als die Trojaner auf dem Rückweg durch die Portae Scaeae in den Wagenkasten fuhren, Blut bis zu den Achsen, der Deichsel, der Schürze, der Reling, dem Köcher. Bis zum Kinn. Das Blut war für mich wie Samen, der mir vom Kopf bis zu den Füßen tropfte.

Ihre Beinschienen, ihre Helme aus Marder- oder Fuchsfell, aus Wildschweinleder mit Zähnen, aus Bronze; die steifen Streichungen der Haare am Kamm des Scheitels; ihre Brustmuskeln, die Platte auf Platte geschraubt waren; ihre Schreie auf den Wagen; ihre Obszönitäten, die sie in den Herausforderungen brüllten; ihre Schimpfwörter; ihre Speere; ihr Hunger; ihr Hass; ihre Männlichkeit, die so steif war wie die Esche der Stacheln.

Diejenigen, die ich am besten vor Augen habe: Aias, seinen Eberpanzer, seinen Riesenschatten, seine Ungeschicklichkeit, sein verklemmtes Geschwätz, wenn er um mich warb; Odysseus, seine Redekunst, seinen Helm, seine Seele aus Quellen und Felsen; Diomedes, Sohn des Tydeus, seine Wolfszähne, sein reicher Kriegsruf, sein Speer, der in Aphrodites Achselhöhle steckte, sein Helm; Aias‘ gedrungener Degen, der andere; Agamemnons Helm nach Argos-Art; von Agamemnon auch der Hornpanzer, den ihm Menelaos, sein Bruder, auf Zypern geschenkt hatte. Menelaos, der Blonde, mit seinen schönen Locken, seinen Armen aus Elfenbein, seiner Brust aus Elfenbein, seinem Glied, seinem Herzen und seinem Helm. Ihnen allen gegenüber steht Paris, Paris Alexander, seine beiden Namen, seine schönen Locken, sein Mundwerk, seine Schenkel, sein Glied – sein goldener Stachel, sein Bogen, sein Herz.

Achilles, seine Locken, seine korinthische Zimäre, sein Grinsen, sein Helm; der Unwiderstehliche, der schöne Blonde mit der schönen Rachsucht. Er war der einzige Grieche, der mich hasste. Und obwohl er blond war, liebte ich ihn nicht. Er begehrte mich nicht. Er war ein bisschen Frau, zugegeben. Aber er war gerade erst aus der Pubertät herausgewachsen, dem Alter, in dem ihnen alles zur Frau wird, wenn der Neid, die Wut, den Bauch frisst.

Und der andere Bogenschütze, der meinen geliebten Bogenschützen Paris pfeilte.

Und all die anderen, die nach dem Gemetzel wieder an Bord gegangen sind, um nach Hause zu gehen und dort Purzelbäume zu schlagen.

Alle unter dem Kommando des großmäuligen Agamemnon Atreides, des erhabenen Pikeniers, meines Schwagers, des Versprochenen aus der Badewanne, des zukünftigen großen Fisches, der in seinem eigenen Blut schwimmt.

All diese Männer.

Sie sind gekommen, um die Spalte der Erde zu sehen und sich wieder zu nehmen. Mich.

Die Szene beginnt mit einer nahezu filmischen Aneinanderreihung von Eindrücken: Das Schärfen der Schwerter, das rituelle Trinken, das Absteigen vom Wagen, das Prüfen der Pferde – all diese kleinen Gesten verdichten sich zu einem Panorama des Krieges, das ebenso konkret wie sinnlich ist. Die Art der Wahrnehmung ist besonders: Die Ich-Erzählerin Helena in Homers Traum beschreibt die Krieger mit einer Mischung aus Bewunderung, Lust und Ekel. Ihre Beobachtung ist fast voyeuristisch – sie sieht nicht nur ihre Rüstungen, sondern auch ihre animalischen Bedürfnisse. Diese Allwissenheit verweist auf Homer selbst: Er „sieht“ die Krieger, obwohl er blind ist – durch die Kraft des Epos. Gleichzeitig ist es aber Helena, die hier der Ursprung der Erzählung ist, als ob sie sich selbst als das Objekt des Krieges neu erschafft. Ihre Worte enthüllen, dass sie sich als Zentrum des Konflikts inszeniert – als die Frau, um die gekämpft wird, aber auch als die Stimme, die die Helden benennt und ihnen Bedeutung verleiht: „Tous ces hommes. Ils sont venus pour voir et reprendre la fente de la terre. Moi.“ („All diese Männer. Sie sind gekommen, um die Spalte der Erde zu sehen und sich wieder zu nehmen. Mich.“ Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 28.)

Besonders eindringlich ist die Verschmelzung von Gewalt und Begehren: Das Blut, das bis an die Ränder der Streitwagen spritzt, wird mit Samen gleichgesetzt. Die Beschreibung der Krieger betont ihre virile Kraft, eine phallische Potenz auch der Holzspeere. Die Aufzählung der Helden – Aias, Odysseus, Diomedes, Agamemnon, Menelaos, Paris, Achilles – gleicht einem rituellen Heraufbeschwören ihrer Körperlichkeit, ihres Begehrens und ihrer Kraft. Diese Gleichsetzung von Krieg und Erotik entspricht einer der ältesten Vorstellungen des Krieges als einer Form des Begehrens nach Dominanz. Helena wird dabei sowohl zur Verführerin als auch zur Göttin, die das Schicksal dieser Männer lenkt. Die Aufzählung der Krieger, das rhythmische Wiederholen ihrer Attribute erzeugt eine hypnotische Intensität.

Leurs jambières, leurs casques en peau de fouine, de renard, en cuir de sanglier avec les dents, en bronze ; les caresses raides des crins à la crête du cimier ; leurs pectoraux vissés plaque sur plaque; leurs hurlements sur les chars; leurs obscénités gueulées dans les défis; leurs injures; leurs lances; leur faim ; leur haine ; leur virilité aussi roide que le frêne des épieux.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 28.

Ihre Beinschienen, ihre Helme aus Marder- und Fuchsfell, aus Wildschweinleder mit Zähnen, aus Bronze; die steifen Streichungen der Haare am Kamm des Brustpanzers; ihre Brustmuskeln, die Platte auf Platte geschraubt sind; ihr Geheul auf den Wagen; ihre Obszönitäten, die sie in den Herausforderungen brüllen; ihre Flüche; ihre Speere; ihr Hunger; ihr Hass; ihre Männlichkeit, die so steif ist wie die Esche ihrer Speere.

Die Szene aus „Rêve d’Homère“ ist nicht nur eine epische Aufzählung der Krieger, sondern eine poetische Reflexion über Macht, Lust und Sprache. Helena nimmt hier die Rolle eines Aoiden (von altgriechisch ἀοιδός ‚Sänger‘, ‚Dichter‘) ein – sie benennt die Helden, wodurch sie erst existieren. Gleichzeitig wird der Krieg selbst als eine Form des Begehrens dargestellt, in der Blut und Sperma – und Poesie – ineinanderfließen.

Es beeindruckt, wie Pierre Michon aus Rhythmus, Bildkraft und poetischer Verdichtung ein kraftvolles Ganzes bildet. Sein Schreiben besitzt eine archaische Wucht, die zeitweise an Homers Gesänge der Ilias erinnert, doch zugleich eine moderne, fast fieberhafte Energie entfaltet. Die Sätze treiben in kraftvoller Bewegung voran, mal mit kurzen, hämmernden Perioden, dann wieder mit langen, mäandernden Wendungen, die sich über Zeilen erstrecken und in ihrer Fülle an Assoziationen einen betörenden Klangraum schaffen. Michon nutzt Sprache als Medium der Beschwörung: Seine Bilder sind von elementarer Gewalt, oft von Feuer, Eisen, Fleisch und Götteratem durchdrungen. Die Beschreibungen von Landschaften und Körpern, von Kriegen und Liebschaften pulsieren vor Intensität und schwingen zwischen Zerstörung und Ekstase. In einem Moment erklingt die Wucht einer stählernen Maschine, die sich in einem nächtlichen Bahnhof auftürmt wie ein mythischer Krieger, im nächsten entlädt sich der Atem der Nacht in einem Moment transzendenter Erkenntnis. Der Rhythmus ist schneidend präzise und gleicht einer fiebernden Litanei, die von literarischen Echos durchzogen ist – von Homer über Villon bis zu Baudelaire und Rimbaud. Michon gelingt es, das archaische Pathos mit modernem Exzess zu verbinden, das hohe Lied der Helden mit der Zerrissenheit des Erzählers, der zwischen Lust, Gewalt und der großen Sehnsucht nach dem Absoluten taumelt. Sein Stil ist im wörtlichen Sinne atemberaubend – ein Hymnus an die Sprache selbst, an ihre Unerschöpflichkeit und ihre Fähigkeit, das Vergangene und das Ewige in einem einzigen Wort auflodern zu lassen.

Malama Tamaï

Die Themen aus „Homers Traum“ finden sich auch in „Malama Tamaï“, wo die rhythmische Sprache und die Verbindung von Erotik und Gewalt eine ähnliche ekstatische Dimension erreichen. Beide Kapitel zeigen, dass Michons Werk nicht nur eine Neuschreibung des Ilias-Mythos ist, sondern eine Reflexion über die poetische Schöpfung selbst: Wer erzählt, erschafft – und wer benennt, herrscht. Pierre Michon entfaltet im Kapitel „Malama Tamaï“ eine dichte, lyrisch aufgeladene Sprache, die sich durch eine Vielzahl poetischer Verfahren auszeichnet. Er setzt in diesem Kapitel eine nicht-lineare Erzählweise ein, die zwischen Reflexion, Erinnerung und direkter Handlung steht. Durch assoziative Sprachverflechtungen, rhythmische Wiederholungen und mythologische Anspielungen schafft er eine dichte, tranceartige Erzählung, die sich zwischen Wahn und Vision bewegt: Der Erzähler befindet sich in einem Zustand der Trunkenheit, der zu einem Bewusstseinsstrom führt, in dem Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen, wie dies in der Moderne von Autoren wie James Joyce oder William Faulkner verwendet wurde. Der Text ist durch eine Art poetische Logik strukturiert, in der sich Motive organisch entfalten. Zugleich zeigt sich eine intertextuelle Dimension: Michon greift das Motiv der Opferung aus der Mythologie auf. Inspiriert von Bougainvilles Bericht über tahitische Rituale stellt der Erzähler fest: „La lune était en état de guerre. Il fallait sacrifier.“ („Der Mond befand sich im Kriegszustand. Es musste geopfert werden.“) Diese mythologische Verbindung verstärkt die Tragweite des Moments und verleiht ihm eine schicksalhafte Dimension.

Elle était le son de Malama Tamaï : l’assonance vocalique parfaite, cette prolifération des a de Madame, de Madonna, de Magnificat, de Marmara, de Maquillage, de Massacre, de Maman — que de mamans empressées de vous servir ! Ou de vous asservir, il est vrai. Et ma volonté d’être parmi elles dans leurs jupes, le malfrat, le Y unique du phallus, bandé jusqu’au tréma. Il baise toutes ces mamans, il les coiffe. Elles se jettent sur vous comme l’esseulée offerte du quai des Aubrais.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 215.

Sie war der Klang von Malama Tamaï: die perfekte Vokalassonanz, diese Vermehrung der a von Madame, von Madonna, von Magnificat, von Marmara, von Make-up, von Massaker, von Maman – wie viele eifrige Mamans, die Ihnen dienen wollen! Oder Sie zu versklaven, zugegeben. Und mein Wille, unter ihnen in ihren Röcken zu sein, der Bösewicht, das einzigartige Y des Phallus, erigiert bis zum Trema. Er fickt all diese Mütter, er dominiert sie. Sie stürzen sich auf Sie wie die feilgebotene Einsame auf dem Quai des Aubrais.

Der Ausdruck „Malama Tamaï“ scheint polynesische oder tahitianische Wurzeln zu haben und bedeutet eine paradoxe Verbindung zwischen Schutz und Zerstörung, zwischen Leben und Krieg. Der Ausdruck wird mantraartig wiederholt und gewinnt durch seine klangliche Struktur eine fast beschwörende Kraft. Die Verbindung von Malama (Schutz, Licht, Weiblichkeit) mit Tamaï (Krieg, Aggression, Männlichkeit) spiegelt die zentralen Themen des Kapitels wider: die Verschmelzung von Erotik und Gewalt, eine fast rituelle Dimension des Begehrens, die Verbindung zwischen Männlichkeit (Krieg, Phallus) und Weiblichkeit (Mutter, Madonna, Verführung). Auffällig ist die klangliche Gestaltung des Kapitels: Die Wiederholung der Vokale „a“ in Malama Tamaï evoziert eine fast beschwörende, mantraartige Wirkung. Diese Alliteration erstreckt sich weiter auf weitere Begriffe, die mit „Ma“ beginnen. Das wiederholte Ma evoziert mütterliche Assoziationen (Maman), aber auch sakrale (Madonna, Magnificat) und zerstörerische (Massacre). Die Lautreihe schwingt also zwischen Fürsorge und Gewalt, zwischen Heiligkeit und Unterwerfung. Michon arbeitet mit starken Kontrasten: Die Assoziation von Maquillage (Make-up) und Massacre (Massaker) zeigt die Verschmelzung von Schönheit und Gewalt, ein wiederkehrendes Motiv in Michons Werk. Die Sprache wird zu einem Medium, das tiefere, archaische Schichten der menschlichen Psyche und der Geschichte freilegt. Der Erzähler verortet sich selbst als Eindringling in diese weibliche Welt. Der männliche Blick ist hier zutiefst ambivalent: Er verehrt die Frauen, aber er unterwirft sie auch, „il les coiffe“ – ein Ausdruck, der sowohl „überlisten“ als auch „dominieren“ bedeuten kann. Die Lautreihe mit Ma verdichtet zentrale Themen von Malama Tamaï: die Ambivalenz von Weiblichkeit als mütterliche Hingabe und machtvolle Unterwerfung, das männliche Begehren als triebhaft und symbolisch überhöht, sowie die Spannung zwischen sakraler und zerstörerischer Energie. Sie zeigt, wie Michon durch Klang, Rhythmus und Assoziationen eine tiefere Bedeutungsebene erschafft, in der Sprache selbst zum Ausdruck des Begehrens und der Macht wird.

Bücherverbrennung

Die Verbrennung von Büchern ist in der Literaturgeschichte ein vieldeutiges Motiv. In J’écris l’Iliade kann sie als symbolischer Akt verstanden werden, der das Ende einer bestimmten literarischen Tradition markiert, aber gleichzeitig auch einen Neuanfang impliziert. Die verbrannten Werke, die verbrannte Bibliothek des Erzählers, stehen für eine Vergangenheit, die nicht einfach übernommen werden kann, sondern in einem neuen poetischen Kontext transformiert werden muss. So ist auch der Titel J’écris l’Iliade einzuordnen. Wenn wir dies nicht nur als Akt der Zerstörung, sondern eher als symbolischer Moment der kulturellen Auseinandersetzung verstehen, ist dies ja das Gegenteil einer Zensur, eines Totschweigens. Unter den Büchern, die verbrannt werden, sind Homer, Vergil, aber auch Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, schließlich Nietzsche und Heidegger. Die Vernichtung der Ilias, der Odyssee und der Aeneis kann als symbolische Auslöschung der Möglichkeit klassischer Epen stehen. Charles Baudelaires Einfluss zeigt sich in Michons Darstellung der Poesie als einer Kunst, die Schönheit und Verfall untrennbar miteinander verknüpft, einer der die Moderne in klassischer Form schreibt. Arthur Rimbaud steht in Michons Text für die radikale Ablehnung tradierter poetischer Formen und für das Streben nach einer totalen Erneuerung der Sprache. Auch sein Werk Une saison en enfer wird von Michons Erzähler verbrannt. Michon erkennt die Grenzen dieser radikalen Sprachzerstörung an, Rimbaud bleibt eine Referenz für den Traum einer absoluten Poesie, aber auch ein Mahnmal für deren Scheitern.

Car chaque soir, le programme invariable — mon devoir d’écrivain, sur le mode Rimbaud — était d’insulter et de casser : des rétroviseurs, des portières de voiture, des verres, les portes des rares personnes qui faisaient l’erreur de m’introduire chez elles. Parfois des gueules. Être un Non en action. Casser, et plus souvent me faire casser : il est arrivé que je me retrouve le matin les yeux pochés sans savoir pourquoi, des écorchures plein les mains et le visage, la poitrine plombée de coups. Je m’en suis bien sorti, quelques nuits passées au bloc « en dégrisement », une vague honte, rien de plus.

Taudis, récoltes de mégots, vin sordide sous carton, cellules puantes des commissariats, ce n’est rien : j’avais la terreur de finir assassin ou clochard. J’ai bien failli tomber pour de bon. J’étais fou comme un lapin. Pour cause littéraire, si on veut.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 38f.

Denn jeden Abend bestand das unveränderliche Programm – meine Pflicht als Schriftsteller im Rimbaud-Stil – darin, zu beleidigen und zu zerschlagen: Rückspiegel, Autotüren, Gläser, die Türen der wenigen Menschen, die den Fehler machten, mich in ihre Häuser einzulassen. Manchmal auch die Gesichter. Ein „Nein“ in Aktion sein. Brechen, und noch häufiger brechen lassen: Es kam vor, dass ich mich morgens mit tränenden Augen wiederfand, ohne zu wissen, warum, mit Schürfwunden an Händen und im Gesicht, die Brust voller Schläge. Ich kam gut davon, verbrachte ein paar Nächte im Block „zur Ausnüchterung“, schämte mich ein wenig, mehr nicht.

Slums, Zigarettenstummel, schäbiger Wein in Pappkartons, stinkende Zellen in Polizeistationen, das ist nichts: Ich hatte Angst, als Mörder oder Penner zu enden. Ich wäre fast für immer gefallen. Ich war verrückt wie ein Kaninchen. Aus literarischen Gründen, wenn man so will.

Arthur Rimbauds Une saison en enfer ist ein Manifest der poetischen Revolte. Die Verbrennung dieses Buches könnte als ein doppelter Kommentar gelesen werden: einerseits als Ablehnung des literarischen Nihilismus, andererseits als eine Art kathartischer Akt, um das Erbe des rebellischen Dichters zu transformieren, auch in diesem Buch Michons, J’écris l’Iliade. Die Verbrennung dieser ganzen Bibliothek der Moderne durch Michon im Schlusskapitel ist wohl mehr als ein symbolischer Akt der Negation, sondern eine Aufforderung zur Weiterführung und Neubestimmung der Dichtung im 21. Jahrhundert.

Das letzte Kapitel von J’écris l’Iliade ist aber auch weit mehr als nur ein Abschluss des Buches – es ist eine Meta-Reflexion über das gesamte Werk und die Funktion von Literatur selbst. Michon zeigt, dass Erzählen nicht nur ein Akt der Bewahrung, sondern auch der Veränderung und sogar der Gewalt ist. Die Ilias ist nicht nur ein altes Epos, sondern ein lebendiger Text, der durch jede neue Erzählung weitergeschrieben wird. Literatur war bis dato katastrophal und prächtig wie der Mensch.

Je vais tout refaire à la main, comme un scribe de Sumer.

Je vais tout ressortir de mémoire. Il y aura des variantes, et des lacunes énormes, tout un siècle, parfois, des langues entières. Mais quelle oeuvre ! elle m’occupera jusqu’au cadavre. Et si je vis cent ans, j’écrirai la suite. Je reviendrai au Niagara de la production littéraire.

« J’ai souvent eu l’idée qu’il existe pour chaque homme un mythe qui, si nous le connaissions, nous permettrait de comprendre ce qu’il a fait et pensé. » J’ai brûlé cette phrase avant-hier. Yeats y parle du mythe personnel du nommé Shakespeare. Il y avait en Shakespeare, dit Yeats, deux hommes : un amoureux délirant de la littérature, et un autre qui la piétinait. Ce mythe est le mien aussi. Je veux avoir tout écrit et tout détruire. En cela au moins, j’aurai ressemblé à Shakespeare, un jour d’octobre.

Je prends de la hauteur. Je reprends mes droits de chasse, de pigeonnier et de garenne. J’ai vaincu les dieux. J’ai tordu le cou du Lecteur Difficile. Je suis celui qui n’échange ni ne partage. Le Grand Auteur.

Je vais rédiger la phrase souveraine que beaucoup d’écrivains ont postulée, qui saute d’auteur en auteur, asservis à « se faire un nom » parmi leur foule de fonctionnaires anonymes dans les siècles des siècles : tout ce qui a été écrit n’a qu’un seul auteur. Je suis celui-ci. L’auteur universel, unique et souverain.

Je ne crois pas, moi, que la littérature ait été imparfaite ; décevante, oui, et pas parfaite non plus : à l’image des hommes, catastrophique et somptueuse. Il me la faut toute.

Avançons.

Pierre Michon, J’écris l’Iliade, 267.

Ich werde alles noch einmal von Hand schreiben, wie ein Schreiber aus Sumer.

Ich werde alles aus dem Gedächtnis hervorholen. Es wird Varianten und riesige Lücken geben, ein ganzes Jahrhundert, manchmal ganze Sprachen. Aber was für ein Werk! Es wird mich bis zur Leiche beschäftigen. Und wenn ich hundert Jahre alt werde, werde ich die Fortsetzung schreiben. Ich werde zum Niagara der literarischen Produktion zurückkehren.

„Ich hatte oft die Idee, dass es für jeden Menschen einen Mythos gibt, der, wenn wir ihn kennen würden, uns erlauben würde, zu verstehen, was er getan und gedacht hat.“ Ich habe diesen Satz vorgestern verbrannt. Yeats spricht darin vom persönlichen Mythos des Mannes namens Shakespeare. In Shakespeare, so Yeats, gab es zwei Männer: einenwahnhaften Liebhaber der Literatur und einen anderen, der sie mit Füßen trat. Dieser Mythos ist auch meiner. Ich will alles geschrieben haben und alles zerstören. Zumindest darin werde ich Shakespeare an einem Oktobertag ähneln.

Ich nehme an Höhe auf. Ich erobere mir mein Recht auf Jagd, Taubenschlag und Wildgehege zurück. Ich habe die Götter besiegt. Ich habe dem Schwierigen Leser den Hals umgedreht. Ich bin der, der weder tauscht noch teilt. Der Große Autor.

Ich werde den souveränen Satz verfassen, den viele Schriftsteller postuliert haben, der von Autor zu Autor springt, die dazu versklavt sind, sich unter ihrer Schar anonymer Beamter in den Jahrhunderten der Jahrhunderte „einen Namen zu machen“: Alles, was geschrieben wurde, hat nur einen einzigen Autor. Ich bin dieser. Der universelle, einzige und souveräne Autor.

Ich glaube nicht, dass die Literatur unvollkommen war; enttäuschend, ja, und auch nicht perfekt: wie die Menschen, katastrophal und prächtig. Ich brauche sie ganz.

Gehen wir vorwärts.

Anmerkungen
  1. Pew: Eine blinder Pirat aus Louis Stevensons Die Schatzinsel, die auch von Borges erwähnt wird.>>>
  2. „Michon veut profaner Michon, détruire son monument. L’argument de l’Iliade, c’est la colère d’Achille, ici, c’est la colère de Michon. Il fait un récit non pas de formation mais de déformation, et joue de ses défauts de manière très habile. Il y a de l’érotisme, de la pornographie même, l’auteur s’en amuse beaucoup. Mais le dispositif, bien que profondément original, a ses limites : le texte bute sur le masculinisme et le féminisme, on a du mal à savoir si le propos joue sur les codes où s’il est complètement daté.“ Johan Faerber, „Avec „J’écris l’Iliade“, Pierre Michon s’attaque à son propre monument dans un récit déboussolant“, Radio France, Critique littérature, 4. Februar 2025.>>>
  3. Philippe Descola, Cahiers de l’Herne, 2024, hrsg. von Grégory Delaplace et Salvatore D’Onofrio, Michons Beitrag: 178-86.>>>
  4. „Le livre est très rusé et n’est jamais ce qu’il a l’air d’être. Il y a un double mouvement, à la fois une brutalité, quelque chose de très concret, et en même temps une grande réflexion méta, notamment sur la littérature. C’est un geste littéraire très étrange, qui donne de très beaux textes, puissants, traversés aussi par le rire. Il faudra le relire dans dix ans pour voir à quelle époque il parle.“, Romain de Becdelièvre, „Avec „J’écris l’Iliade“, Pierre Michon s’attaque à son propre monument dans un récit déboussolant“, Radio France, Critique littérature, 4. Februar 2025.>>>

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