Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

Blog | Index der Autoren

Rubriken
(
Les rubriques en français1 ):

Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart

Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.

Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.

Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.

Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.

Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.

Judéité | Französisch-jüdische Literatur ist ein imaginäres Territorium, in dem Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität neu verhandelt werden, etwa genealogische Spurensuche und Fragen kultureller/sprachlicher Identität, politische und historische Fragen.

Recht schaffen | Literatur ist hier ein Instrument, mit dem Recht und Gerechtigkeit nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch verhandelt und hinterfragt werden.

Dialoge | Texte der Gegenwart, die einen Dialog mit Werken der Literaturgeschichte führen, intertextuell, mal kritisch aktualisierend, mal als Hommage oder Transformation.


Neue Artikel und Besprechungen

Sternenhimmel über Rom: Renaud Rodier

Vor dem Hintergrund eines politisch verfallenden Roms am Wahlabend Giorgia Melonis begibt sich in Renaud Rodiers drittem Buch „Si Rome meurt“ (Anne Carrière, 2025) der angehende Filmemacher Pietro auf eine obsessive Suche nach seinem verschollenen Vater, den er in der Gestalt eines prophetischen Obdachlosen an den Rändern der Gesellschaft wiederzuentdecken glaubt. Geleitet von der astrophysikalischen Theorie des holografischen Universums gestaltet Pietro sein zentrales Filmvorhaben als einen Prozess filmischen Schreibens, der in grobkörnigen Super-8-Aufnahmen versucht, die urbane Entropie Roms in ein kohärentes ästhetisches Konstrukt zu transformieren. Renaud Rodiers Roman entwickelt sich als ein intermediales Palimpsest, das die existentielle Frage nach dem, was gerettet werden kann, wenn Rom stirbt, in einer dichten Verwebung von traumatischer Erinnerung und filmischer Vision verhandelt. Indem der Roman die astrophysikalische Metaphorik zur Weltraumdichtung erhebt, transformiert er die soziale Entropie Roms in eine transzendente, astronomische Topografie, die den Diskurs um die „Ewige Stadt“ als unzerstörbaren Informationscode jenseits des zeitlichen Verfalls neu verortet.

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Globale Orte, geteilte Bedeutungen: Olivier Wieviorka und Michel Winock

Die Rezension widmet sich dem Sammelband „Les lieux mondiaux de l’Histoire de France“ (Perrin, 2025), der sich mit der Frage auseinandersetzt, wie bestimmte Orte zu globalen Bezugspunkten werden und welche kulturellen, literarischen, historischen und politischen Bedeutungen sich an ihnen verdichten. Der Band versammelt interdisziplinäre Beiträge, die „Orte in der Welt“ nicht nur als geografische Fixpunkte, sondern als dynamische Räume der Erinnerung, der Macht, der Migration und der Imagination analysieren. Die Rezension arbeitet die zentralen theoretischen Prämissen des Bandes heraus, insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen lokaler Verankerung und globaler Zirkulation von Bedeutungen. Zugleich diskutiert sie die methodische Vielfalt der Beiträge sowie deren Ertrag für aktuelle raumtheoretische und kulturwissenschaftliche Debatten. Ein besonderes Augenmerk gilt der Frage, inwiefern „Les lieux mondiaux“ neue Perspektiven auf die symbolische Konstruktion von Weltläufigkeit eröffnet und welche Impulse der Band für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Raum, Globalisierung und kultureller Übersetzung liefert.

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Die profane Geburt: Kindheit, Hoffnung und uneingelöste Erlösung

Philippe Forests Roman Et personne ne sait (Gallimard, 2025) erzählt von einem jungen, gescheiterten Maler im winterlichen New York, der an einem Weihnachtsabend einem rätselhaften, alleinstehenden Mädchen begegnet, dessen Herkunft, Status und Wirklichkeit ungewiss bleiben. Diese Begegnung wird zum Ausgangspunkt eines poetischen Nachdenkens über Kunst, Erinnerung und Verlust, das sich zwischen Roman, Filmvorlage und persönlicher Erfahrung des Erzählers entfaltet. Während der Maler versucht, das Kind – später die Frau – in einem Bild festzuhalten, reflektiert der Text zugleich die Bedingungen des Darstellens selbst: das Scheitern von Sinn, die Wiederholung von Motiven und die Unmöglichkeit, Leben oder Tod durch Kunst zu bewahren. So entwickelt sich eine melancholische Erzählung über das Vergehen der Zeit, die Fragilität von Hoffnung und die Rolle der Kunst als einziger, stets unzureichender Ort, an dem das Verlorene noch einmal erscheinen kann. Der Roman entwirft eine Schwebe, in der Realität, Erinnerung und Imagination unaufhörlich ineinander übergehen, ohne je stabil unterscheidbar zu werden. In der Figur des Malers und in der Erscheinung des Kindes verdichtet sich eine ästhetische Existenzform, die aus Verlust, Wiederholung und der Erfahrung eines radikal entleerten Sinnhorizonts hervorgeht. Weihnachten, Winter und Kindheit verheißen hier nicht Erlösung, sondern die fragile Möglichkeit von Bedeutung im Moment des Erzählens selbst. Kunst entsteht nicht als Offenbarung, sondern als vorsichtiger Versuch, dem Unverfügbaren für einen Augenblick Gestalt zu verleihen.

Mais un enfant seul dans la nuit – et surtout si cette nuit est celle de Noël –, on ne le laisse pas sans compagnie. Il appartient au premier venu de se soucier de lui. C’est une règle universelle et à laquelle nul ne saurait se soustraire. Le monde confie aux grands le salut de tous les petits. Parce que les seconds ne survivraient pas sans les soins que leur prodiguent les premiers. On dirait cette enfant née de nulle part en cette nuit de Noël. Conçue par l’opération du Saint-Esprit, déposée sur terre par quelques anges descendus du ciel. Afin d’y porter la possible bonne nouvelle qu’expèrent les hommes. La petite fille joue à la marelle. Sur l’échelle qu’à la craie, en écartant la neige, elle a tracée à même le trottoir et où elle jette le gros caillou qu’elle a ramassé sous un arbre. En prenant garde à ne surtout pas mordre sur les lignes qui séparent les cases, elle saute à cloche-pied. Montant de la Terre au Ciel. Elle accompagne sa routine d’une petite chanson étrange dont chaque syllabe sonne à chacun de ses pas qui se pose sur l’une des cases de la marelle et qui résonne sur le pavé.

Aber ein Kind allein in der Nacht – und erst recht, wenn diese Nacht die des Weihnachtsfestes ist –, lässt man nicht ohne Begleitung. Es ist Sache des Erstbesten, sich seiner anzunehmen. Das ist eine universelle Regel, der sich niemand entziehen kann. Die Welt legt das Heil aller Kleinen in die Hände der Großen. Denn die einen würden ohne die Fürsorge der anderen nicht überleben. Man könnte meinen, dieses Kind sei in jener Weihnachtsnacht aus dem Nichts geboren. Empfangen durch das Wirken des Heiligen Geistes, von ein paar Engeln, die vom Himmel herabstiegen, auf die Erde gesetzt. Um hier die mögliche gute Nachricht zu tragen, auf die die Menschen hoffen. Das kleine Mädchen spielt Himmel und Hölle. Auf der Leiter, die sie mit Kreide, den Schnee beiseiteschiebend, direkt auf den Gehweg gezeichnet hat und auf die sie den großen Stein wirft, den sie unter einem Baum aufgelesen hat. Sorgfältig darauf bedacht, die Linien zwischen den Feldern ja nicht zu berühren, hüpft sie auf einem Bein. Von der Erde zum Himmel hinauf. Ihre Bewegungen begleitet sie mit einem seltsamen kleinen Lied, dessen Silben je mit einem ihrer Schritte erklingt, der in eines der Felder setzt und auf dem Pflaster widerhallt.

Die Weihnachtsszene wirkt im Gesamtroman nicht primär als religiöses Motiv, sondern als kulturell tief codierter Ausnahmezustand: Weihnachten markiert einen Moment, in dem soziale Regeln nicht nur gelten, sondern in besonderer Weise aktiviert werden. Die emphatische Behauptung einer „universellen Regel“, wonach ein Kind in dieser Nacht nicht allein gelassen werden dürfe, hebt das Fest aus dem bloß Kalenderhaften heraus und macht es zum moralischen Prüfstein der Welt. Weihnachten steht hier für ein Versprechen kollektiver Verantwortung, für eine fragile Übereinkunft, dass Schutz, Fürsorge und Solidarität zumindest einmal im Jahr unverhandelbar seien.

Die subtile Anspielung auf die Geburt Christi – das „aus dem Nichts geborene“ Kind, die Engel, die „mögliche gute Nachricht“ – wird dabei bewusst entmythologisiert und in eine weltliche, prekäre Gegenwart überführt. Das spielende Mädchen wird nicht zur Erlöserfigur, sondern zur Chiffre einer Hoffnung, die sich nur im Spiel, in der Bewegung zwischen Erde und Himmel, artikulieren kann. Das Himmel-und-Hölle-Spiel übersetzt die christliche Heilserzählung in ein kindliches Ritual, das weder Erlösung garantiert noch Transzendenz erreicht, sondern lediglich deren Möglichkeit imaginiert. Weihnachten erscheint so als poetischer Schwebezustand: zwischen Glauben und Zweifel, Sinnstiftung und Leere, zwischen dem Wunsch nach einer „guten Nachricht“ und dem Wissen, dass ihr Eintreten allein von den „Großen“ abhängt, die Verantwortung übernehmen – oder versagen.

Doukipudonktan: Die Geschichte des Französisch-Schreibens bei Gabriella Parussa

In ihrer Studie „Écrire le français“ (2025) zeichnet die historische Linguistin Gabriella Parussa die Geschichte des Französisch-Schreibens als komplexen, sozialen und kulturellen Prozess nach. Das Buch zeigt, wie das gesprochene Französisch über Jahrhunderte hinweg seinen Weg in die Schrift fand, welche politischen, institutionellen und technischen Entscheidungen die Orthographie prägten und warum das lateinische Alphabet trotz seiner Unzulänglichkeiten übernommen wurde. Parussa verbindet historische Detailkenntnis mit einer kritischen Gegenwartsdiagnose und macht deutlich, dass das französische Schriftsystem historisch kontingent, sozial umkämpft und funktional vielschichtig ist – von der ersten Fixierung im 9. Jahrhundert bis zu den digitalen Schreibpraktiken der Gegenwart. Die Rezension zeigt, wie Parussa nicht nur die Entstehung der Norm, sondern auch literarische und spielerische Nutzungsmöglichkeiten historisch einordnet. Anhand von Fallbeispielen wie Jacques Peletier du Mans und Raymond Queneau zeigt die Besprechung, dass Reform und ästhetische Reflexion zwei komplementäre Perspektiven auf dasselbe Phänomen bieten: Die französische Orthographie als kulturelles Reservoir und soziales Instrument. Die Rezension beleuchtet zudem die Anschlussfähigkeit des Buches an Literaturgeschichte, Poetik und Literatursoziologie und macht deutlich, wie Parussas Arbeit das Schreiben selbst als historisch gewachsene, reflexive Praxis sichtbar macht.

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Québecs großer Moment im Spiegel der Desillusionierung: Carl Leblanc

Carl Leblancs Roman „Le printemps en novembre“ (2025) entwickelt seine Handlung zwischen dem euphorischen Wahlsieg des Parti québécois am 15. November 1976 und der desillusionierten Gegenwart des Jahres 2006. Im Zentrum steht Étienne Vallières, der an der Premiere eines Dokumentarfilms über den historischen Wahlsieg teilnimmt. Diese äußere Rahmenhandlung führt Étienne in seine Jugend in der Gaspésie zurück, wo sich politische Erweckung und private Initiation überlagern: Der kollektive Triumph der Unabhängigkeitsbewegung fällt mit seiner Liebe zu Julianne zusammen, deren plötzliche Abreise den politischen Aufbruch bereits im Moment seines Entstehens unterminiert. Der Roman verschränkt kollektive Geschichte und individuelles Begehren, indem er den „einzigen großen Sieg“ Québecs zugleich als Höhepunkt und Verlust markiert. Die zeitliche Struktur – der ständige Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart – macht sichtbar, dass das nationale Projekt nur noch in der Erinnerung fortlebt, während es politisch gescheitert ist. Die Rezension liest den Roman als eine poetische Neubewertung des québécoischen Autonomiekampfs darstellt. Der Dokumentarfilm wird als ästhetisches Widerstandsmedium gelesen, das der „Barbarei des Vergessens“ entgegentreten soll, indem es dem historischen Moment eine emotionale Evidenz verleiht, die der nüchternen Gegenwart fehlt. Zugleich dekonstruiert der Text jede triumphale nationale Narration: Die Autonomie erscheint als unerfülltes Versprechen, das sich in Nostalgie, Ironie und Zynismus verflüchtigt. Étiennes persönliches Scheitern – seine emotionale Immobilität, sein Verharren im Diskursiven – wird dabei zur Allegorie eines postnationalen Québecs, das zwischen individuellem Liberalismus und dem Verlust eines kollektiven „nous“ schwankt. Die Rezension liest den Roman somit als melancholische, aber notwendige Selbstvergewisserung: nicht als Verteidigung eines souveränistischen Programms, sondern als literarischen Akt der Erinnerung, der die emotionale Wahrheit des Aufbruchs bewahrt, selbst wenn das politische Projekt gescheitert ist.

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Literatur als eigenständige Denkform: François Jullien

In „Puissance du pensif ou comment pense la littérature“ (2025) entwickelt der Sinologe François Jullien eine Meditation über die Literatur als eigenständigen Denkmodus, der sich grundlegend vom begrifflichen Denken der westlichen Philosophie unterscheidet. Literatur „denkt“, so Jullien, nicht durch Definition, Argumentation oder Abschluss, sondern durch Indirektheit, Dauer, Offenheit und Affektivität: Sie evoziert, erzählt, verzögert und lässt Sinn in Schwebe, wodurch sie einen Zustand der Nachdenklichkeit (pensivité) erzeugt, der das Leben in seiner prozessualen, unbestimmten Existenz erfahrbar macht. Die Rezension arbeitet heraus, wie Jullien diese literarische Denkform historisch an der Schwelle zur Moderne verortet, systematisch von der westlichen Ontologie des Seins abgrenzt und in ein produktives Spannungsverhältnis zum chinesischen Denken von Prozess, Wirksamkeit und Umweg stellt. Sie diskutiert Julliens zentrale Begriffe für eine Literatur der Nachdenklichkeit (Indirektheit, Ambiguität, Indexikalität, Affektivität) und die Verbindung von theoretischer Argumentation und exemplarischer Lektüre (Balzac, Poesie). Zugleich wird deutlich, dass Julliens Buch nicht nur eine Theorie der Literatur, sondern auch eine implizite Kritik der Philosophie formuliert.

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Ende des Gulag, ohne Erlösung: Antoine Sénanque

Die Rezension liest Antoine Sénanques „Adieu Kolyma“ (2025) als radikal desillusionierenden Roman der Nachgeschichte, der das Ende des Stalinismus nicht als historischen Bruch, sondern als Kontinuität einer Gewaltordnung begreift. Ausgangspunkt ist die These, dass die Logik des Gulag – paradigmatisch verkörpert durch die Landschaft des Flusses Kolyma als extremsten Ort – zeitlich, räumlich und sozial über sich hinauswirkt: in das postrevolutionäre Budapest von 1957, in kriminelle Clanstrukturen und in die affektiven Dispositionen der Überlebenden. Die ungarische Revolution erscheint dabei nicht als Freiheitsereignis, sondern als blutige Episode ohne Folgen; Geschichte fungiert lediglich als „Dekor“ für private Rache, Loyalität und Verrat. Zentral ist die Analyse einer „Poetik der Kälte“, in der Gefühle als gefährlich und dysfunktional erscheinen und in der der Permafrost der Kolyma Schuld, Gewalt und Erinnerung konserviert, statt sie aufzulösen. Figuren wie Pal und Lazar Vadas oder Sylla Bach verkörpern unterschiedliche Modi dieser posttotalitären Existenz: funktionalisierte Gewalt, entleerte Affekte und ein Körpergedächtnis, das jede moralische Sinnstiftung unterläuft. Die Rezension verortet den Roman programmatisch auf der Seite Warlam Schalamows gegen jede Erlösungsnarration à la Solschenizyn und betont die konsequente Entmythologisierung von Leiden, Überleben und Freiheit. „Adieu Kolyma“ erscheint so als Text radikaler Immanenz, der zeigt, dass Totalitarismus nicht endet, sondern lediglich seine Träger wechselt – und dass die Zeit danach eine Zeit ohne Zukunftshorizont bleibt.

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Neue Proben

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Reserve: wieder aufgeblättert

Versöhnung ist mitten im Streit: Christine de Mazières

Christine de Mazières’ „Trois jours à Berlin“ (Wespieser, 2019, ich fand etwas ungläubig keine deutsche Übersetzung) verwandelt den 9. November 1989 in ein poetisches Mosaik aus Stimmen, Erinnerungen und Blicken. Eine Französin, Anna, reist in die geteilte Stadt, um den Mann wiederzufinden, dem sie einst begegnete – Micha, Sohn eines ostdeutschen Funktionärs. Zwischen Stasi-Protokollen, inneren Monologen und der überirdischen Perspektive des Engels Cassiel entfaltet der Roman eine polyphone Erzählung der Geschichte als ‘Faltung’: Berlin wird zur vibrierenden Metapher Europas, zur „plaine immense“ voller Ruinen, Sprachen und Sehnsüchte. Der Fall der Mauer erscheint nicht als heroischer Moment, sondern als zarter Augenblick der Durchlässigkeit, in dem Schweigen, Missverständnis und Poesie die Macht der Ideologien unterwandern. „Trois jours à Berlin“ ist als poetische Reflexion eines französischen Blicks auf Deutschland zu interpretieren – als Werk, das die Teilung nicht nur politisch, sondern existentiell erfahrbar macht. De Mazières’ wechselnde Erzählformen, ihr Spiel zwischen lyrischer Innenschau und bürokratischer Kälte, lassen das Ereignis selbst zur Sprache werden: die Versöhnung als ästhetische Bewegung, nicht als historischer Abschluss. In der Spannung zwischen Anna und Micha, zwischen dem Engel Cassiel und den Menschen, findet sich das Bild eines Europas, das seine „part manquante“ sucht – eine verlorene Zärtlichkeit, die sich im Moment der Öffnung wiederfindet.

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Nackte Realität: zur Neuausgabe des frühen Claude Simon

Claude Simons Roman „La corde raide“ (1947) ist ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Reflexionen, die vom Bad im Meer mit der jungen Véra über Kindheitserinnerungen und Kriegserlebnisse bis hin zu kunsttheoretischen Betrachtungen reichen. Das „straff gespannte Seil“ im Titel steht für eine heikle Balance zwischen Vitalität und Todesbewusstsein, zwischen chaotischer Lebenserfahrung und deren künstlerischer Formung. Die 2025 von den Éditions de Minuit in einem Band mit „Le tricheur“ (1945) neu herausgegebenen Frühwerke des Autors, präsentiert von Mireille Calle-Gruber, waren lange vergriffen, da Simon ihre Wiederauflage zu Lebzeiten nicht wünschte. Calle-Gruber deutet die Texte als poetologisches Laboratorium, in dem bereits Montage, Fragmentierung, Simultaneität der Zeiten und Vorrang der Sinneswahrnehmung vor Handlung erkennbar sind – Techniken, die sein späteres Werk prägen. Die Neuauflage schließt eine Lücke in der Werkgeschichte, indem sie diesen Moment der literarischen Entwicklung wieder zugänglich macht (beide Texte fehlen in der Pléiade-Ausgabe). – Der Artikel interpretiert „La corde raide“ als nicht-lineare Erzählung, als assoziatives Netz von Szenen und Leitmotiven, die durch semantische Felder wie Wasser, Licht, Vegetation, Körper und Bewegung verknüpft sind. Kriegserfahrungen werden nicht heroisch, sondern als chaotische, körperlich-sensorische Realität geschildert; Kindheitsszenen dienen als Ursprungsschicht der Wahrnehmung und Kontrastfolie zur existenziellen Gegenwart. Das Spannungsverhältnis von Schein und Realität ist zentral: Simon kritisiert „Fälschung“ in Kunst und Gesellschaft und sucht eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, wobei Cézanne als positives Gegenmodell zur akademischen Malerei gilt. Architektur, Farb- und Lichtgestaltung werden wie in der Malerei eingesetzt, um Erinnerung und Wahrnehmung zu strukturieren. Insgesamt wird „La corde raide“ als frühe, aber bereits konsequente Erprobung einer Poetik verstanden, die Wahrnehmung, Erinnerung und Form auf einem „Drahtseil“ zwischen Chaos und Struktur balanciert.

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Choreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.

Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.

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Walzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl

Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.

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Anmerkungen
  1. Les rubriques en français

    Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;

    Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;

    Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;

    Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.

    Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.

    Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.

    Judéité | La littérature juive française est un territoire imaginaire où l’appartenance, la mémoire et l’identité sont renégociées, à travers notamment la recherche de traces généalogiques et des questions d’identité culturelle/linguistique, politiques et historiques.

    Rendre justice | La littérature est ici un instrument qui permet non seulement d’aborder les thèmes du droit et de la justice, mais aussi de les traiter et de les remettre en question sur le plan esthétique.

    Dialogues | Des textes contemporains qui dialoguent avec des œuvres de l’histoire littéraire, de manière intertextuelle, tantôt dans une actualisation critique, tantôt sous forme d’hommage ou de transformation.>>>

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