Lektüren und Texte
mit Kurzauszügen in eigener Übersetzung
von Kai Nonnenmacher

Blog | Index der Autoren

Rubriken
(
Les rubriques en français1 ):

Artikel | Eigene Aufsätze zur französischen Literatur der Gegenwart

Besprechungen | Kürzere Einträge zu einem literarischen Text, Kurzbesprechung oder punktuelle Lektüre, Ideen beim Lesen.

Probe | Ein ausgewählter Auszug, eine Stelle, die für sich stehen kann, übersetzt, aber unkommentiert.

Reserve | Ein Text, ein Werk, ein Autor, der wieder aufgeblättert und wieder aufgenommen wird.

Debatte | Besprechung von literaturwissenschaftlichen, theoretischen Texten mit Relevanz für die französische Literatur der Gegenwart.

Poetiken der Kindheit | Vorstellung von Büchern, die sich literarisch der Lebensphase Kindheit und Jugend annehmen.

Judéité | Französisch-jüdische Literatur ist ein imaginäres Territorium, in dem Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität neu verhandelt werden, etwa genealogische Spurensuche und Fragen kultureller/sprachlicher Identität, politische und historische Fragen.

Recht schaffen | Literatur ist hier ein Instrument, mit dem Recht und Gerechtigkeit nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch verhandelt und hinterfragt werden.

Dialoge | Texte der Gegenwart, die einen Dialog mit Werken der Literaturgeschichte führen, intertextuell, mal kritisch aktualisierend, mal als Hommage oder Transformation.


Neue Artikel und Besprechungen

Ambivalenz der jüdischen Assimilation: Philip Roth und Marc Weitzmann

Marc Weitzmann, La part sauvage: le monde de Philip Roth et le chaos américain. Retour sur vingt ans d’amitié. Grasset, 2025.

Philip Roth und die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie

Marc Weitzmanns La part sauvage ist eine Hommage an den verstorbenen Schriftsteller Philip Roth; es ist aber auch eine literarische Untersuchung, die das Werk, das Leben und die Freundschaft zu Roth nutzt, um die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie und den Wandel der literarischen Kultur im Angesicht des Chaos zu analysieren.

Das Französische als Selbst-Dekolonisierung: Kamel Daoud

Die Verleihung des Prix Goncourt im Jahr 2024 für seinen Roman Houris führte zu heftigen Angriffen gegen Kamel Daoud. Der Autor schreibt, dass dieser Preis die Wiederbelebung des Verräter-Stereotyps mit „beispielloser Gewalt“ („violence inouïe“) in der islamistisch-konservativen Presse zur Folge hatte. Die Presse verwendete sogar die unvollkommene Homonymie seines Namens (Daoud) mit dem des mythischen Verräters Colonel Bendaoud bis zur Übertreibung, um ihn zu diskreditieren. Die Attacken dienten dazu, ihm erneut das Etikett des Abtrünnigen („renégat“), Dissidenten und Deserteurs anzuheften, weil er das „Wir“ für das ewig französische „sie“ („eux“) verlassen habe. Die polemische Verteidigung der Freiheit und Pluralität in…

Dominique Fourcade: Dichten nach dem 7. Oktober 2023

In „Ça va bien dans la pluie glacée ?“ (P.O.L., 2024) reagiert Dominique Fourcade literarisch auf den Nahostkonflikt, indem er die moralische Ohnmacht des Schreibenden zum ästhetischen Prinzip erhebt. Er verwandelt Scham, Fremdheit und Sprachskepsis in eine Poetik der Delikatesse und der Verantwortung. Durch fragmentierte Syntax, intertextuelle Ethik und Bildmotivik (Mauer, Javelot, Regen) wird der Konflikt nicht erklärt, sondern „durchlitten“ – als Erfahrung der Grenze, an der Sprache selbst zum Akt des Widerstands wird.

➙ Zum Artikel

Soziologie als Serienmord: Raphaël Quenard

Der namenlose Erzähler von Raphaël Quenards Roman „Clamser à Tataouine“, ein „jeune marginal“ und „joyeux sociopathe“, beschließt nach einem gescheiterten Suizidversuch in Paris, sich an der Gesellschaft zu rächen, indem er stellvertretende weibliche Figuren aller sozialen Schichten aufspürt und tötet, um ihr die Rechnung für seine Niederlage zu präsentieren. Er schreibt diese „épopée macabre“ als Memoiren in Tataouine bei der 82-jährigen Liliane nieder, wird jedoch am Ende von Liliane und Albane (Hortense, der Tochter seines ersten Opfers Marthe) durch eine perfekt inszenierte Rache getötet. Die vom Monster beschriebene französische Gesellschaft ist eine Ansammlung mehr oder weniger unvollkommener Wesen, deren Schichten durch Entfremdung gekennzeichnet sind, sei es durch die existenzielle Not der Armen oder den materiellen Überfluss und die Zwänge der Selbstinszenierung der Reichen. Die Gesellschaft wird als korrupt und verlogen dargestellt, da ihre Mitglieder unablässig Schein und Lüge (Jargon, Statistiken, „bagage culturel de façade“) benutzen, um ihren „chaos intérieur“ zu verbergen. Folglich ist diese „juxtaposition d’êtres aussi imparfaits“ aus Sicht des Erzählers zum Scheitern verurteilt, und er empfindet die symbolische Auslöschung ihrer Repräsentanten als eine notwendige und logische Konsequenz. Raphaël Quenards „Clamser à Tataouine“ erscheint als ein düsterer, postmoderner „Reigen“, in dem das erotische Spiel der Klassen, das bei Arthur Schnitzler noch soziale Masken entlarvt, in einen Kreislauf von Hass, Gewalt, moralischer Leere und schwarzem Humor umschlägt.

➙ Zum Artikel

Selbstporträt mit Sancho Panza: Lydie Salvayre

In Lydie Salvayres „Autoportrait à l’encre noire“ (2025) zieht die Autorin, obwohl sie die egozentrische Form verachtet, eine schonungslose Bilanz ihres Lebens und Schaffens. Das Werk erzählt ihren Kampf gegen die tief sitzende Scham, die aus der Armut der Kindheit und dem Sprachtrauma des „Fragnol“-Dialekts ihrer spanischen Flüchtlingseltern resultiert. Strukturell wird die Erzählung durch den satirischen Dialog mit ihrer Nachbarin Albane, einer enthusiastischen Verfechterin der marktgängigen New Romance-Literatur mit ihren Forderungen polemisch zugespitzt. Zentral für die Erzählerin ist die Verarbeitung der väterlichen Tyrannei. Salvayre legt die intellektuellen Grundlagen ihres Schreibens offen – genährt durch Quevedo, Rabelais, La Boétie und vor allem den „Don Quijote“ – und manifestiert eine Haltung der Unbeugsamkeit, indem sie sich der vollständigen Offenlegung verweigert und am Ende wünscht, als „schelmischer Wind“ in Erinnerung zu bleiben. – Der Kern von Salvayres Poetologie, der im Autoportrait umfassend dargelegt wird, ist mit Marina Zwetajewa ein radikaler Kunstanspruch: Eine Kreation, die nicht „gefährlich“ ist, verdiene in keinem Fall, Schöpfung genannt zu werden, da die Mittelmäßigkeit ungefährlicher sei als wahre Exzellenz. Sie verteidigt die Ästhetik der Kürze, des Aufblitzens und der „voltairesschen Geschwindigkeit“ gegenüber der „klebrigen Weitschweifigkeit“ und der „Aufgeblasenheit“ der Trivialliteratur. Ihr unverwechselbarer Stil entsteht dabei durch die „liebevolle Kriegsführung“ zwischen dem barocken Exzess (Quevedo) und der asketischen Reinheit der klassischen Sprache, wobei sie sich bemüht, den „klassischen Karpfen“ mit dem „barocken Kaninchen“ zu vermählen. Die Erzählerin sublimiert ihre Wut in „spekulative Wutanfälle“, die sich in beißenden, zornigen Sätzen gegen soziale Heuchelei und den Zwang zur Positivität richten. Sie betrachtet Literatur als einen „schweigenden politischen Akt“, der stets die Freiheit des Geistes verteidigt und sich jeder Form der „freiwilligen Knechtschaft“ entzieht.

➙ Zum Artikel

Autosoziobiographie als französische Gattung

Autosoziobiographie: Poetik und Politik, hrsg. von Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, Metzler, 2022. Der Sammelband „Autosoziobiographie: Poetik und Politik“, herausgegeben von Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel, widmet sich der Untersuchung einer literarischen Textform, die seit Didier Eribons Rückkehr nach Reims (Retour à Reims, 2009/2016) eine unübersehbare Konjunktur erlebt. Die Herausgeber verfolgen die Intention, dieses „noch junge Genre“ zu sichten, zu systematisieren und zu reflektieren, um es als relevantes literaturwissenschaftliches Forschungsobjekt zu etablieren und die literarische Form (Poetik) im Kontext ihrer politischen und gesellschaftsanalytischen Ansprüche zu untersuchen. Die Beiträge diskutieren aktuelle autosoziobiographische Texte und…

Fragmente eines Werks: Roland Barthes Handbuch von Angela Oster

Barthes-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Angela Oster, Metzler, 2025. Dritte Form des Schreibens Roland Barthes’ Position konsolidierte sich erst im Laufe der Zeit. Im 21. Jahrhundert ist dieser Rang unumstritten, aber die Universitäten der Gegenwart und ihre Geistes- und Kulturwissenschaften sind nicht mehr die der 1960er und 1970er Jahre. Durch die radikale Neukonzeption des Schreibens („écriture“) als gewählte Haltung (Am Nullpunkt der Literatur) und die programmatische Abschaffung des Autors als Sinn-Garant (Der Tod des Autors) befreite er die Literaturwissenschaft von positivistischen und essentialistischen Dogmen. Barthes’ theoretisches Werk ist selbst Literatur in Kurzform („écriture courte“), die mit Lust…

Alle Artikel | Alle Besprechungen


Neue Proben

Alle Proben


Reserve: wieder aufgeblättert

Nackte Realität: zur Neuausgabe des frühen Claude Simon

Claude Simons Roman „La corde raide“ (1947) ist ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Reflexionen, die vom Bad im Meer mit der jungen Véra über Kindheitserinnerungen und Kriegserlebnisse bis hin zu kunsttheoretischen Betrachtungen reichen. Das „straff gespannte Seil“ im Titel steht für eine heikle Balance zwischen Vitalität und Todesbewusstsein, zwischen chaotischer Lebenserfahrung und deren künstlerischer Formung. Die 2025 von den Éditions de Minuit in einem Band mit „Le tricheur“ (1945) neu herausgegebenen Frühwerke des Autors, präsentiert von Mireille Calle-Gruber, waren lange vergriffen, da Simon ihre Wiederauflage zu Lebzeiten nicht wünschte. Calle-Gruber deutet die Texte als poetologisches Laboratorium, in dem bereits Montage, Fragmentierung, Simultaneität der Zeiten und Vorrang der Sinneswahrnehmung vor Handlung erkennbar sind – Techniken, die sein späteres Werk prägen. Die Neuauflage schließt eine Lücke in der Werkgeschichte, indem sie diesen Moment der literarischen Entwicklung wieder zugänglich macht (beide Texte fehlen in der Pléiade-Ausgabe). – Der Artikel interpretiert „La corde raide“ als nicht-lineare Erzählung, als assoziatives Netz von Szenen und Leitmotiven, die durch semantische Felder wie Wasser, Licht, Vegetation, Körper und Bewegung verknüpft sind. Kriegserfahrungen werden nicht heroisch, sondern als chaotische, körperlich-sensorische Realität geschildert; Kindheitsszenen dienen als Ursprungsschicht der Wahrnehmung und Kontrastfolie zur existenziellen Gegenwart. Das Spannungsverhältnis von Schein und Realität ist zentral: Simon kritisiert „Fälschung“ in Kunst und Gesellschaft und sucht eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, wobei Cézanne als positives Gegenmodell zur akademischen Malerei gilt. Architektur, Farb- und Lichtgestaltung werden wie in der Malerei eingesetzt, um Erinnerung und Wahrnehmung zu strukturieren. Insgesamt wird „La corde raide“ als frühe, aber bereits konsequente Erprobung einer Poetik verstanden, die Wahrnehmung, Erinnerung und Form auf einem „Drahtseil“ zwischen Chaos und Struktur balanciert.

➙ Zum Artikel

Choreografie der Erinnerung: Patrick Modiano zum 80.

Seit seinem Debütroman „La Place de l’Étoile“ (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman „La danseuse“ (2023, deutsch 2025) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert.

➙ Zum Artikel

Walzer der Ruinen: Jean-Jacques Schuhl

Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ (Gallimard, L’Infini, 2000), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, ist mehr als eine bloße biografische Annäherung an die Künstlerin und Partnerin des Autors. Er lässt sich als eine kulturgeschichtliche Diagnose einer Epoche, ihrer prägenden Themen und der Faszination an einer spezifischen deutschen Mythologie aus französischer Perspektive lesen. Dies umfasst zentrale historische Marker wie den Krieg und die „Stunde Null“, Figuren einer „deutschen Mythologie“ wie Rainer Werner Fassbinder und die Rote Armee Fraktion, sowie das omnipräsente Motiv der „Sehnsucht“. Gleichzeitig ist der Roman in seiner Ästhetik Ausdruck eines dezidierten Literaturverständnisses von Jean-Jacques Schuhl selbst, der seine eigene Rolle und die des Verlegers Philippe Sollers in der literarischen Produktion und Rezeption reflektiert.

➙ Zum Artikel

Alle Reserve-Texte


 

Anmerkungen
  1. Les rubriques en français

    Article | Des articles sur la littérature française contemporaine ;

    Compte-rendu | Des notes plus courtes sur un texte littéraire, une brève discussion ou une lecture ponctuelle, des idées au fil de la lecture ;

    Extrait | Un extrait choisi, un passage significatif sans commentaire, accompagné de sa traduction allemande ;

    Réserve | Un texte, une œuvre, un auteur, repris et relu.

    Débat | Discussion de textes critiques, théoriques, pertinents pour la littérature française contemporaine.

    Poétiques de l’enfance | Présentation d’ouvrages littéraires consacrés à l’enfance et à l’adolescence.

    Judéité | La littérature juive française est un territoire imaginaire où l’appartenance, la mémoire et l’identité sont renégociées, à travers notamment la recherche de traces généalogiques et des questions d’identité culturelle/linguistique, politiques et historiques.

    Rendre justice | La littérature est ici un instrument qui permet non seulement d’aborder les thèmes du droit et de la justice, mais aussi de les traiter et de les remettre en question sur le plan esthétique.

    Dialogues | Des textes contemporains qui dialoguent avec des œuvres de l’histoire littéraire, de manière intertextuelle, tantôt dans une actualisation critique, tantôt sous forme d’hommage ou de transformation.>>>

rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.