Poetiken der Kindheit: Marouane Bakhti, Comment sortir du monde (2023)

Marouane Bakhtis „Comment sortir du monde“ (2023) erzählt den Versuch eines jungen Mannes mit migrantischem Hintergrund, sich durch Erinnerung, Sprache und Spiritualität aus familiärer Gewalt, kultureller Entfremdung und innerer Zersplitterung zu befreien – nicht um die Welt zu verlassen, sondern um in ihr einen eigenen, verletzlichen und zugleich standhaften Ort des Daseins zu schaffen. Dies ist ein Selbstermächtigungstext, der in poetisch verdichteten Kapiteln die Kindheit, Jugend und frühe Selbstfindung eines queeren Ich-Erzählers mit französisch-arabischem Hintergrund schildert. Hierbei entwickelt er eine Poetik der Kindheit, in der Erinnerung nicht retrospektiv geordnet, sondern als sinnlich-fragiles Erleben rekonstruiert wird. Der Erzähler schreibt aus der Perspektive des verletzten, staunenden Kindes, dessen Wahrnehmung von Natur, Sprache und Körperlichkeit zugleich magisch und bedroht ist. Die fragmentarische Form, durchsetzt mit Bildern, Gerüchen, Geräuschen und poetischen Assoziationen, spiegelt die Zerrissenheit und Offenheit des kindlichen Bewusstseins. Kindheit erscheint dabei nicht als verlorene Unschuld, sondern als Ursprung von Differenz, von Scham, Begehren und Sprachlosigkeit – aber auch als Quelle einer Widerstandskraft, die sich dem Vergessen widersetzt. Der Roman macht spürbar, dass Schreiben hier nicht nur Erinnern ist, sondern ein behutsames Wiedererschaffen jener inneren Welt, die „aus der Welt“ gefallen war.

Poetiken der Kindheit: Nathacha Appanah, La mémoire délavée (2023)

Nathacha Appanahs autofiktionales Werk „La mémoire délavée“ (2023) ist eine vielstimmige Spurensuche nach familiärer Herkunft, kolonialer Geschichte und Identität. Im Zentrum steht die literarische Aufarbeitung der Geschichte der eigenen Vorfahren, die als indische Vertragsarbeiter (engagés) im 19. Jahrhundert auf die Insel Mauritius kamen. Der Titel verweist dabei bereits auf das Hauptmotiv: die verwaschene, verblasste Erinnerung – sowohl individuell als auch kollektiv –, die durch mündliche Überlieferung, familiäre Anekdoten, Lücken und Archive hindurch rekonstruiert werden muss. Diese Suche ist zugleich eine Rückkehr zur eigenen Kindheit: Zurück zu einer Zeit in Piton, einem mauritischen Dorf, zu einer Kindheit in einer von Schweigen, Fragmenten und unausgesprochenen Traumata geprägten Familiengeschichte. Die Kindheit erscheint in diesem Text als biographischer Ursprung, als literarischer Ausgangspunkt und als epistemologischer Horizont: Durch das kindliche Staunen, die sensorische Weltwahrnehmung, die existenziellen Fragen des Kindes, das wissen will, „woher wir kommen“, formt sich der Text zu einem poetischen Gedächtnisraum.

Groteske Republik: Nathalie Quintane

Nathalie Quintane (geb. 1964), ist eine Poetin, Schriftstellerin und Lehrerin an einem Collège in Digne. Mit ihrem Roman „Tout va bien se passer“ (2023, dt. Alles wird gut) legt sie ein Werk vor, das auf außergewöhnliche Weise literarische Formen, historische Reflexion, postmoderne Ironie und eine scharfe politische Analyse verknüpft. Im Zentrum steht eine groteske Szene: Ein Minister, reduziert auf seinen Torso, durchquert Paris auf dem Weg zum Elysée-Palast. Begleitet wird er vom Blick der Erzählerin sowie von historischen und fiktiven Stimmen, insbesondere Lucile Franque, einer realen, aber nahezu unbekannten Malerin des 18. Jahrhunderts, die in den Roman als Zeitreisende eintritt. Der Roman führt uns durch den Elysée, nicht als Ort staatlicher Würde, sondern als Bühne absurder Repräsentationsrituale. Der Roman entfaltet ein Textgewebe aus szenischen Miniaturen, essayistischen Einschüben, surrealen Passagen, komischer Überzeichnung und dokumentarischer Akribie. Der Ministertorso steht für eine Politik, die keine Integrität mehr besitzt, sondern zur bloßen Hülse degradiert ist. Der Élysée wird zum Palast der leeren Zeichen, zur Attrappe einer Demokratie, in der nur noch symbolische Gesten zirkulieren.

Kolonialismus im Roman noir: Thomas Cantaloube

Während Thomas Cantaloubes „Requiem pour une République“ den Algerienkrieg ins Zentrum stellt und „Frakas“ die neokolonialen Machenschaften der Françafrique beleuchtet, widmet sich „Mai 67“ der wenig bekannten, aber historisch bedeutsamen Repression auf Guadeloupe im Jahr 1967. Mit diesem Band gelingt Cantaloube ein Werk, das zugleich Politthriller, literarische Anklage und eindringliche Auseinandersetzung mit den strukturellen Gewaltverhältnissen der Fünften Republik ist.

Etwas Unsichtbares streicheln: Debora Levyh

Debora Levyhs Erstlingsroman „La version“ (2023) erforscht die radikale Fremdheit einer Welt, deren Sprache, Zeitverständnis und soziale Organisation sich grundlegend von der unseren unterscheiden. Dieser Artikel zeigt, wie der Text eine literarische Reflexion über die Grenzen der Sprache unternimmt: Die Erzählerin kann die fremde Kultur zwar beobachten und ihre Muster erkennen, doch die Übersetzung in ihre eigene Sprache bleibt unzureichend. Durch das Fehlen fester Identitäten, konstanter Objekte und linearer Erzählstrukturen der fremden Welt erzeugt der Roman eine Atmosphäre der Desorientierung, die Leser dazu zwingt, ihre gewohnten Denkweisen zu hinterfragen. Levyhs Werk wird in den Kontext literarischer Traditionen der poetischen Anthropologie gestellt und mit Werken wie Henri Michaux’ „Voyage en Grande Garabagne“ oder Julio Cortázars „Historias de Cronopios y de Famas“ verglichen, die ebenfalls mit surrealen Gesellschaftsentwürfen experimentieren. Levyhs Poetik der Periphrase bewirkt eine immer leicht verfehlte Annäherung an die Konzepte, wodurch die Sprache nicht als festes System der Bedeutung, sondern als ein fluides Medium erscheint, das der Erfahrung des Unübersetzbaren gerecht wird. Während etwa Dantes Paradiso XXXIII die Unzulänglichkeit menschlicher Sprache angesichts des Göttlichen thematisiert, Edwin Abbotts „Flatland“ anhand eines mathematischen Gedankenexperiments über die verschiedenen Dimensionen veranschaulicht, wie begrenzte Wahrnehmungskategorien die Vorstellungskraft einschränken, verknüpft der Film „Arrival“ von Denis Villeneuve die Entzifferung einer nicht-linearen Schrift von Außerirdischen mit der Erfahrung einer veränderten Zeitwahrnehmung. Das Besondere an „La version“ von Debora Levyh liegt in seiner radikalen Erkundung sprachlicher und kultureller Fremdheit, die den Leser nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch herausfordert. Die Schönheit dieses Schreibens liegt in einer dichten, fast meditativen Atmosphäre, aus der Unmöglichkeit heraus, das völlig Fremde vollständig zu begreifen. Ein Buch für Leser, die sich auf eine intellektuelle und sinnliche Erkundung der Grenzen des Übersetzbaren einlassen möchten.

Kreuzigung der Popikone in Bayamack-Tams „Autopsie mondiale“

Emmanuelle Bayamack-Tams „Autopsie mondiale“ lotet die Grenzen zwischen Theater, Prosa und politischer Allegorie aus: Im Zentrum steht eine fiktive Inszenierung, in der Michael Jackson, Britney Spears, die allegorische Figur der Weltmeinung und ein Fan eine Verhandlung auf der Bühne führen. Diese dramatische Konstellation weist über die individuellen Leben hinaus, als Spiegel für universelle Themen wie Schuld, Identität, Verantwortung und die Macht der öffentlichen Meinung. Mit Sarkasmus, Pathos und Gesellschaftskritik legt Bayamack-Tam die Mechanismen moderner Kultur und ihrer Zerfallserscheinungen frei.

Vergil und der Geruch des Großen Brandes

C’est le 16 Juillet je scrute le Journal du Ciel. Je note le nom de ce jour, ce matin il vit encore. Dans quelques jours, une semaine, au plus tard, il ne sera plus, j’aurai oublié son nom, je ne saurai plus son âge. En hâte prudente je l’inscris dans sa fraîcheur de 16 Juillet, il est 5 h 30, je vois une étoile, seule, nue, pure, un infime trou de lumière dans les ténèbres. Scintille comme le clin d’œil de l’actualité, un pétillement d’En-Haut. Seule mon imagination peut croire entendre l’Ukraine agoniser à l’Ouest. Je ne l’exerce pas. L’étoile et moi nous nous parlons. Je suis dans l’état de la disciple d’un Virgile du tout premier siècle des apocalypses, qui reçoit une lettre céleste.

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Sprache von Phrasen und leeren Wörtern befreien

Paul eût préféré rester allongé jusqu’à ce que la faim l’emportât, plutôt que s’arracher à la torpeur, cette pleine conscience de lui-même qu’il goûtait enfin. Il n’était pas seul ; il était habité par l’univers ; chaque grain de poussière avait un sens ; les vers de terre étaient à leur place (les vers de terre étaient superbes, tout comme les scarabées, les fourmis, les champignons molletonneux) ; les oiseaux chantaient des psaumes ; les étoiles révélaient son destin : tout semblait parfait – sitôt qu’il eut fait abstraction des hommes. Peut-être était-ce vrai, les hommes étaient les gardiens de l’enfer des autres hommes qui leur servaient eux-mêmes de geôliers.

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Diese kaum entworfenen Geschöpfe der Maler

On les distingue à peine tant ils sont petits, au fond de cette majestueuse allée bordée d’immenses cyprès. Sont-ils vraiment là, si infimes dans ce décor qui les écrase ? Et pourquoi le dessinateur a-t-il voulu leur donner cette vie, pour minuscule qu’elle soit ? Entendait-il, de ces silhouettes tout juste identifiables, faire des créatures humaines, des personnages ?

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Proust selbst auf einem alten, knisternden Grammophon

Les mondes mettent longtemps à mourir, plus encore à disparaître tout à fait. Ils cohabitent plutôt, se superposent et traînent dans le temps. Ils se prolongent et s’éternisent, par la voix des témoins qui, de récits en conversations, de souvenirs en affabulations, passent le relais, dans un chant en canon qui se perd en échos interminables. Dès l’adolescence, j’ai aimé me trouver dans l’orbe de gens âgés, très âgés parfois, dont la façon de parler, les expressions, les intonations venaient d’une autre époque. Il me semblait que, par eux, je pouvais entendre le passé, seule façon de lui donner corps et, partant, de l’imaginer. Le fétichisme de ma quête s’accommodait d’approximations. Je me souviens d’un ami de mon père, le critique de cinéma Jean Domarchi, imitant Baudelaire, ou plutôt reproduisant l’imitation entendue de quelqu’un qui avait connu le poète… Baudelaire réincarné dans l’embrasure du salon ! Je vérifie sur Internet : Jean Domarchi est mort en janvier 1981. J’avais, au mieux, treize ans lorsque je l’ai entendu déclamer, mais je jure me souvenir comme hier de sa diction un peu sinueuse, sévère, comme retenue, corsetée, filtrant de lèvres quasi closes. La bouche de Baudelaire, sur la photographie de Carjat.

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Die Zeit mit den Materialien der Zeit reparieren

Alice Guy, Les Résultats du féminisme (1906)

Au fil de ses recherches, Constance a découvert que le destin des films d’Alice Guy n’est pas une exception. On estime que les deux tiers des pellicules des quinze premières années du cinéma ont disparu. En nitrate de cellulose, elles sont hautement inflammables et le gaz qu’elles dégagent les rend explosives. Plus une pellicule vieillit et s’endommage, plus sa température d’autocombustion baisse. « Films flammes », des désastres en puissance. Leur conservation est délicate mais qu’importe, il n’était pas question de les épargner à l’époque. Les films étaient avant tout des produits de consommation ; le public veut de la nouveauté, on recycle les sels d’argent et la cellulose pour en faire d’autres films, on détruit les pellicules pour libérer de la place.

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Warten auf Yoann: Laurent Mauvignier, Proches

Im Jahr 2023 erscheinen gleich zwei Romane von Laurent Mauvignier auf Deutsch: sein 500 Seiten starker Roman „Histoires de la nuit“ (2020), außerdem „Des hommes“ (2009). In beiden Fällen problematische Familienarrangements, ebenfalls 2023 kommt Mauvigniers Theaterstück „Proches“ auf die Bühne: ein Sohn, dessen erwartete Rückkehr die Familie zerstören oder enthüllen könnte, wie bei Aischylos, Pasolini, Molière oder Lagarce. Ein Stück aber auch über das Schreiben und die Sprache für die Bühne.

Cultiver mon jardin

« Ver de terre, d’abord, ce n’est pas très gentil comme nom, c’est fait pour blesser. Il vaut mieux parler de lombrics pour leur redonner un peu de dignité scientifique. Famille : lombricidae. Espèce : lombricus terrestris. Et ces lombrics représentent la première biomasse animale terrestre. Autrement dit, si on les met tous sur une balance, ils pèseront plus lourd, et de loin, que les Homo sapiens, les éléphants et les fourmis réunis. Pour donner un ordre de grandeur, il y en a entre une et trois tonnes à l’hectare, en tout cas dans les sols où l’homme n’a pas posé ses sales pattes. »

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Schließlich ist das hier nicht wirklich Marokko

Elle s’est interrompue, a fait bouger lentement la pierre la plus proche d’elle dans la poussière, avant de reprendre :

— Au fond, ça veut dire quoi toujours ? Tu sais, ici tout le monde pense que la ville n’appartient à personne, que c’est différent du reste du pays. Et c’est vrai, parce que Tanger est spéciale, elle semble libre, différente, grouillante, pleine de tapages et d’arcanes. Mais si tu écoutes un peu autour de toi, tu verras qu’il y a une autre vérité qui commence à éclore.

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Jeder weiß, dass Adolf Hitler Selbstmord begangen hat

Todd s’écarte, à regret, Solange s’engouffre dans la rue, et s’éloigne rapidement. Derrière elle, elle aperçoit Todd qui, de l’embrasure de la porte d’entrée du Mirando, la suit du regard. Il lui a fait un signe de salut de la main ; un signe qu’elle prend pour une menace.

Solange accélère le pas.

Adolf Hitler ?

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Ein Auge in die Kamera und ein Auge auf mich

À vingt-deux ans, j’ai passé une année entière à regarder un des films de Wiseman dans ses moindres détails pour écrire un mémoire sur l’image et le réel. Welfare. Littéralement, l’aide sociale, filmée dans un centre new-yorkais, le Waverly Center. Je connaissais par cœur certains dialogues, j’avais l’impression d’une intimité avec les personnages, je me désespérais de ne pas savoir ce qui leur arriverait une fois sortis du centre, où ils dormiraient, s’ils finissaient par se pendre ou par trouver des amis chez qui passer quelques jours, s’ils étaient là à nouveau le lendemain.

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Ein besseres Gedächtnis als wir: Mathias Énard, Déserter

Mathias Énard schreibt über einen fiktiven ostdeutschen Mathematiker, der seinen KZ-Aufenthalt in Buchenwald und seine Liebe dichtend bewältigt und über einen Kriegs-Deserteur, der durch die Wildnis aus seinem Land flieht: 1. Vibrationen aus Odessa – 2. Gespenster in Weimar – 3. Konjekturen und Metafiktion

Der goldene Mann des französischen Chansons

Jean-Jacques Goldman tient beaucoup à son nom. Il n’a jamais envisagé d’en changer, même lorsque ses producteurs le lui ont suggéré au début de sa carrière. Au micro de NRJ, dans les années 1980, il déclare avec simplicité : « Je m’appelle Jean-Jacques Goldman. C’est le nom que mes parents m’ont donné, alors je l’ai gardé. » Et plus tard, dans Tribune juive : « Je m’appelle Goldman. Quand on me demande quelles sont mes origines, […] je dis que je suis fils de Juif polonais et de Juive allemande. »

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Glitzertanga und Kruzifix: Romy bei Odette

Seize heures cinquante. Grand soleil place Gustave-Toudouze. À mi-chemin entre Pigalle et Saint-Georges, cette place est une frontière entre la zone des sex-shops, des putes et des camés, et celle des théâtres, de la bourgeoisie, des chérubins blonds. Trois bancs, un kiosque, des lampadaires anciens, style lanternes, une fontaine Wallace, une colonne Morris, des marronniers, cinq restaurants. C’est ici, au numéro 2, qu’habite Odette Steiner, née en 1921 à Chaumont. Odette a connu la crise de 1929, la Seconde Guerre mondiale, le Front populaire, l’exode, l’Occupation, le droit de vote des femmes, l’épidémie de polio, la bataille de Diên Biên Phu, la guerre d’Algérie, Mai 68, la pilule, la légalisation de l’avortement, Mitterrand, Tchernobyl, l’apparition du sida, l’an 2000. Elle a enterré ses parents et ses trois frères. Il ne lui reste plus que sa petite-nièce qui vit à l’étranger. Je sais par Alexandra qu’Odette a fait partie de la chorale de Notre-Dame-de-Lorette, d’un atelier de mosaïque et d’un club équestre. Elle participait activement à la vie du 9e arrondissement en envoyant des lettres à la mairie avec ses recommandations, suggestions ou plus souvent des critiques. Désormais elle ne sort plus guère. Doyenne de son immeuble, elle n’hésite pas à rappeler les règles de vie en communauté à ses voisins. D’après Alex, avec sa tante, faut filer droit. La vieille femme a du caractère, ce n’est pas simple de se la mettre dans la poche.

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